Angenehm frischer Wind

Thomas Guggeis begann sein Antrittskonzert als Chefdirigent des Opern- und Museumsorchester im Großen Saal der Alten Oper mit einer Uraufführung von Lucia Ronchetti. Die 1963 in Rom geborene Komponistin hatte der gerade dreißig Gewordene sich selbst ausgesucht. In Frankfurt ist sie keine Unbekannte: Während die Oper Fankfurt ihr „Inferno“ produzierte, hatte sie eine Gastprofessur an der Frankfurter Musikhochschule inne und das Ensemble Modern hat ihrem Begriff „Drammaturgia“ eins seiner Werkstattkonzerte „Happy New Ears“ gewidmet.

Zusammenarbeit von Thomas Guggeis und Lucia Ronchetti

Mit Guggeis verbindet sie seit einigen Jahren ein lebhafter künstlerischer Austausch. So hat sie ihm ihr Stück „Studio di ombre“ mit virtuosen frei zu improvisierenden Teilen gezielt auf den Leib geschrieben und es gleichzeitig eng auf das Hauptwerk des Konzerts, Mahlers Siebte Symphonie, bezogen.

„Studio di ombre“ von Lucia Ronchetti

„Nacht“ war das Motto des Konzerts. Mahler öffnet in seiner siebten Symphonie das gesamte Spektrum von Schwermut, Angst, albernden Kobolden, bedrohlichen Geistern und heimlicher Liebelei. So auch Ronchetti. Um den Hell-Dunkel-Kontrast zu schärfen, beschränkt sie sich in ihrem „Notturno“ auf Bläser und Perkussionsinstrumente, ohne den „Weichspüler“ der Streicher. Ein tiefes Schlagzeugreiben weckte die Vorstellung, am hinteren Bühnenrand verberge sich ein großes konturloses Monster. Ob das Zischen und Fauchen von diesem Monster kam oder ob noch ein weiteres auf der Bühne lag, wurde mit dem Einsatz der auf der rückwärtigen Empore platzierten Blechbläser gleichgültig: Sie vertrieben alle dunklen Vorstellungen mit einer großen Fanfare. Um sie zu koordinieren, zeigte sich Guggeis dem Publikum von vorn. Von einem soghaften Puls getragen tönten weitere Blechbläser von den Balkonen herab. Besonders gelungen war gegen Ende der diffuse Klangschatten, den kräftige Schlagzeugschläge nach sich zogen. Zu schade, dass das Stück nach vier Minuten vorbei war!

Thomas Guggeis lässt Mozart-Klänge schmelzen

Die folgende kleine Nachtmusik von Mozart war überraschend groß besetzt. Der Beweglichkeit des Klangkörpers tat dies jedoch keinen Abbruch: Die Phrasierungen waren leicht, locker und trocken, während die große Besetzung für lieblich weichen Klangschmelz sorgte. Guggeis‘ Dirigierstil wirkte animierend, dabei durchaus Freiheiten lassend und schlackenlos klar.

Mahlers Siebte

Die Aufführung von Mahlers Siebter Symphonie machte immer wieder Herzklopfen. Das Changieren zwischen zur Schau gestellter überschwänglicher Freude und darunter lauernder Angeschlagenheit, zwischen gespielter Unschuld und Ironie, von Heurigenseligkeit und Trauermarsch, von Lieblichkeiten und Dämonischem kam gut zum Ausdruck. Die Bewegungsimpulse der einzelnen Instrumente waren gut herausgearbeitet, die energetische Entwicklung war in sich geschmeidig und folgerichtig. Sehr angemessen auch die lange Pause zwischen dem zweiten „Nachtstück“ und dem Rondo-Finale mit seinen Wechseln von Parforceritten und intimen kammermusikalischen Momenten. Mandoline und Gitarre hört man im zweiten „Nachtstück“ so gut wie nie, bei Guggeis, der hier eine gesellschaftliche Parallele sieht, schon, ebenso wie andere leicht zu übertönende Instrumente, wie die Harfe oder die entfernten Herdenglocken. Das Publikum revangierte sich mit jubelndem Beifall.

DORIS KÖSTERKE
17.9.23

Vgl. auch:



 

Pygmalia von Manos Tsangaris

Frankfurt. Als „Musiktheater mit wechseln­der Publikumsperspektive“ hat Manos Tsan­garis sein neues Werk „Pygmalia“ über­schrieben. Denn er lässt das Beziehungsdrama zwischen der Künstlerin Pygmalia und ihrem selbsterschaffenen Traummann buchstäblich von zwei Seiten sehen. Literarisches Vorbild war die von Ovid überlieferte Sage vom Bildhauer Pygmalion, der sich, von real existierenden Frauen angewidert, eine Frauenstatue schafft und sich darin verliebt. Neben den Klängen hat Tsangaris auch den szenischen Ablauf, das Licht, die Texte und auch die Wahrnehmungsbedingungen für das Publikum komponiert.

Wechseln­de Publikumsperspektive

Bei der Uraufführung des im Auftrag der Alten Oper geschaffenen Werks durch das Ensemble Modern war die Bühne eine weiße Fläche in der Mitte des Mozartsaals. Die Hälfte der Zuschauer saß zunächst da, wo sonst die Bühne ist, die andere Hälfte unter dem Balkon. Nach einmaligem Durchlauf des Stückes tauschten die Zuschauergruppen die Seiten und damit ihre Perspektive auf das gleiche Geschehen. Die häufigste Frage nach der Aufführung war: „Haben die tatsächlich zweimal genau das gleiche gespielt?“ – ein Indiz, dass Tsangaris gelungen ist, was er wollte: erfahrbar machen, wie wenig objektiv unsere Wahrnehmung ist, wie sehr sie an Fahrt gewinnt, wenn jemand sich direkt an uns wendet und wie wirksam sie ausblendet, was daneben geschieht; wie stark unsere Wünsche und Ziele hineinspielen und wie viel sie unwillkürlich dazutut, um vermittelten Bruchstücken einen Sinn zu geben. Nicht nur gegenüber unserer Umwelt, sondern selbst gegenüber dem uns nächsten Menschen. „Pygmalia ist ein Stück, das zeigt, wie wir unsere Wirklichkeit im Gegenüber erfinden“, sagte Tsangaris.

Der eigentlichen Uraufführung am frühen Abend folgte die hier rezensierte zweite. Die Zeit dazwischen war für die Musiker sehr kurz. Doch sie wirkten hochmotiviert und konzentriert.

Frau erschafft Mann

Zunächst herrschte Dunkel. Knisternde elektronische Störgeräusche aufblitzender Lampen gingen nahtlos in Aktionen der Musiker über. Mit einer am Cellostachel befestigten Taschenlampe über die dunkle Bühne gehend suchte Eva Böcker buchstäb­lich nach Standpunkten, die sie eine Weile im Stehen bespielte und wieder aufgab. Eine singende Frauenstimme war zunächst ebenso wenig zu orten, wie der Bariton, der ihr antwortet. Später wurde er, in Embryo-Stellung auf einem Hunt kauernd, ins Zentrum der Bühne gerollt.
In der mythologischen Vorlage bringt die Liebesgöttin Venus Pygmalions Statue zum Leben. Bei Tsangaris öffnen Video-Projek­tionen (Astrid Rieger) von Meereswellen, Blitzen oder sprießender Vegetation ein sehr offenes Assoziationsfeld.

Pygmalia (so charismatisch gesungen wie gespielt von Marielou Jacquard) betrachtet verzückt die Video-Projektionen auf ihrem weißen T-Shirt. So süß, wie ihr Liebster aufblickt, kann er doch nur ein außerge­wöhnlich begabtes Wesen sein, das Einzig­artiges vollbringen kann – oder?

Vielleicht. Aber „du wolltest doch, dass ich selbständig bin“, wird er ihr später sagen.

Tolle Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern

In der Probenphase zu „Pygmalia“ hatte Omikron massiv zugeschlagen, sowohl bei den Musikern, als auch im handverlesenen Backstage-Bereich. „Am Wochenende dachten wir, wir müssten das Ganze absagen“, erzählte Manos Tsangaris in der Pause. Unter anderem hatte es den designierten Traummann-Darsteller erwischt. Hier kam die breite Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern zum Tragen: bei der „Akademie Musiktheater heute“ (AMH) hatten die Musiker den jungen Bariton Harald Hieronymus Hein kennengelernt.

Harald Hieronymus Hein

Ihm trauten sie die Aufgabe zu. Binnen einer Woche erarbeitete er sich einen Part, der das ganze Spektrum von Stimmgeräuschen über verständliches Sprechen bis hin zur Geste einer großen Oper erfordert. Auch die Orientierung im Ganzen ist schwierig, denn es gibt keinen Dirigenten. Die meist pointilistische Klangsprache ist weitgehend stochastisch: Weil es auf der Bühne oft zu dunkel ist zum Notenlesen, hat Tsangaris den Musikern ein festumrissenes Material an die Hand gegeben, über das sie improvisieren und miteinander kommunizieren können. Dem jungen Sänger sah man nach, dass er zur Sicherheit noch sein Tablet in der Hand behielt. Denn stimmlich und darstellerisch  überzeugte er restlos. Etwa, als er sich stinksauer darüber zeigte, von Pygmalia zu ihrem eigenen Gebrauch geschaffen zu sein.

DORIS KÖSTERKE
03.02.2022

Vgl. das Vorgespräch zur Uraufführung:

Ensemblefassung von Xerrox 4 von Alva Noto

FRANKFURT, DRESDEN. „Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein“, findet der 1965 in Chemnitz geborene bildende Künstler Carsten Nicolai. Beim Zeichnen mit elektronischen Klängen nennt er sich Alva Noto. Das Ensemble Modern arbeitet, um sich durch kein orthodoxes Verhalten einzuschränken, immer wieder mit Künstlern von außerhalb der klassischen Musik zusammen. Frank Zappa ist das bekannteste, Alva Noto das jüngste Beispiel. Dafür hat es nach einer Partitur von Max Knoth die elektronischen Klänge von Alva Notos „Xerrox 4“ in instrumentale übersetzt. Die Uraufführung dieser Fassung wurde im Frankfurt LAB realisiert und im Synergie-Effekt der Festivals „Frankfurter Positionen 2021“ und „TONLAGEN – Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik“ gestreamt.

Indem die Kameraführung immer wieder einzelne der hoch konzentrierten Musiker in den Fokus setzte, beschnitt sie notgedrungen die wohl auf ein ganzheitliches Erlebnis gerichteten Video-Projektionen und Lichteffekte. Alva Noto hat bei der Aufführung auch mitgewirkt. Was er von seinem elektronischen Pult alles steuerte, wurde nicht klar.

Der Name Xerrox 4

Der Name Xerrox 4 spielt einerseits auf das Vervielfältigungsverfahren der Xerografie an, hergeleitet aus ξηρός, trocken und γραφή, Schrift. Das doppelte R steht für „Error“. Kompositionstechnisch handelt es sich um einen Kopiervorgang mit eingebauten Fehlern, traditionell bezeichnet als entwickelnde Variation.

Zusammen mit einem Programmierer habe er „eine Software entwickelt, die einen Kopiervorgang ausführt mit einer ganz leichten Verschiebung der Auflösungszahl“, sagt Alva Noto im Interview mit Stefan Schickhaus. Es ist im Programmtext abgedruckt und diente hier als Steinbruch für Informationen und Zitate. „Eine CD zum Beispiel wird gesampelt mit einer Frequenz von 44,1 kHz und 16 Bit. Wenn man diese beiden Einstellungen leicht manipuliert, werden Informationen weggenommen“, sagt Noto. „Der Algorithmus denkt sich nun etwas aus, um die Lücken zu füllen. Und wird in gewisser Weise kreativ“. Mit ein wenig Übertreibung könnte man von künstlicher Intelligenz sprechen.

Im Fluss künstlicher Intelligenz

Der Reiz dieser Musik ist dem der Minimal Musik verwandt: Man kann sich dem runde 120 Minuten füllenden Fluss wie einem psychedelischen Rausch hingeben. Man kann auch versuchen, die erkannten Muster zur eigenen Orientierung zu charakterisieren. Aber bevor das gelingt, haben sie sich schon wieder verändert. Im Material klingen Klischees wie bebende Streicher-Vibrati, stummfilmdramatische Klavierdonner oder sphärisch gegeigte Vibraphonstäbe an. Doch auch sie verflüchtigen sich, kurz bevor sie auf die Nerven gehen. Gleiches gilt für einige Melodien. Die hatte Alva Noto früher vermieden. „Es ging ja um eine Negation dessen, was klassischerweise Musik ausmacht“, sagt er. Aber: „Orthodoxes Verhalten engt letztlich ein“.

DORIS KÖSTERKE
17.4.2021

 

Zum Vergleich: Eine Elektronik-Fassung auf YouTube von Mikoto Urabe: https://www.last.fm/music/Alva+Noto/Xerrox,+Volume+4/+images/c1b602fbbc6b992fe3ec2481d5761b22.

Dem Ensemble Modern von Manfred Stahnke

 

 

Mit einer offenen Frage schließt das Stück ›em 40‹, das Manfred Stahnke dem Ensemble Modern zum vierzigsten Geburtstag gewidmet hat. Den Ernst dieses Statements zu diesen Zeiten unterstrich die Stellung der Uraufführung: ›em 40‹ war das erste Werk, das der basisdemokratisch organisierte Klangkörper in diesem Jahr öffentlich erklingen ließ.

Ensemble Modern On Air

Das Konzert fand ohne Publikum im Dachsaal der Deutschen Ensemble Akademie statt. Den Livestream kann das Ensemble allein aus wirtschaftlicher Not nicht mehr, wie zuvor, unentgeltlich anbieten. Immerhin gibt es ein solidarisches Preissystem von einem „Einsteigerpreis“ von fünf, bis zu einem „Unterstützerpreis“ von dreißig Euro. Dass das Online-Ticket-Unternehmen eine zusätzliche Service-Gebühr erhebt, erscheint in diesem Zusammenhang als bitterer Hohn auf die Wertschätzung künstlerischer Arbeit.

Knisternde Konzentration

Die künstlerische Leistung war, wie eigentlich immer beim Ensemble Modern, enorm. Ein Blick in die Gesichter verriet die knisternde Konzentration in diesem latenten Flötenkonzert. Der Part des Flötisten Dietmar Wiesner, letztes noch aktives Gründungsmitglied, ist so vollmundig-virtuos, wie dieses weltweit gefragte Ensemble für Neue Musik. Die Rolle des Streichquartetts, das ihn umgibt, ist so wortkarg wie ätherisch, dass jede Nuance im Tonfall, jedes Quäntchen mehr oder weniger Lautstärke an Bedeutung gewinnt. Die Dosierung scheint unter der Leitung von Silvain Cambreling genau abgestimmt, aber auch gefährdet zu sein.

„Ebe und Anders“ von Pierluigi Billone

Warum Pierluigi Billone sein Stück für 7 Instrumente (2014) „Ebe und Anders“ nannte, bleibt der Fantasie des Fragenden überlassen. Die herausgehobenen Rollen von Trompeter Sava Stoianov und Posaunist Uwe Dierksen legten nahe, dass der Titel auf Andreas Eberle (Posaune) und Anders Nyqvist (Trompete) anspielt, Kollegen im Klangforum Wien, dem diese Reise durch ungewöhnliche Klangwelten gewidmet ist. Die Menschen an den Kameras gaben sich alle Mühe, dieses Erkunden durch Nahaufnahmen noch anschaulicher zu machen: In einem Konzert hätte man das leise Klopfen auf den Wirbelkasten der E-Gitarre (Christopher Brandt) möglicherweise ebenso wenig wahrgenommen wie das durch leichte Schläge auf das Brustbein hervorgerufene Trompeten-Vibrato oder die Ausdruckstanz-ähnliche Choreographie des Posaunen-Dämpfers. Manches erinnerte an emotionale Äußerungen in einer unbekannten Fremdsprache, Tonfälle, die man irgendwie „versteht“.

„REMIX“ von Georg Friedrich Haas

Georg Friedrich Haas nannte sein Stück „REMIX“, weil er darin eigentlich nur Elemente aus früheren Werken in einen neuen Zusammenhang stellen wollte. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht betrat er dennoch Neuland in Form einer Dichte, die zu einer eigenen Qualität wurde. In Haas Worten: „Der musikalische Sinn entsteht dabei nicht aus den einzelnen Tönen und Klängen (er entsteht auch nicht aus den Ereignissen in den einzelnen Stimmen), sondern er entsteht nur aus dem Gesamtklang“. Die Musikerinnen und Musiker, darunter auch der Komponist und Oboist Tamon Yashima, der 2019/20 Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie war, handhabten die virtuosen Anforderungen entspannt. Man spürte ihre gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem entstehenden Ganzen, einem im Wortsinne „Heiligen“.

DORIS KÖSTERKE
26.1.2021

 

Matthew Herbert „in black and white“ (UA)

Gemächlich bedruckt ein Laserdrucker ein Stück Papier. Der Dirigent sieht es an, scheint ratlos. Zeigt es dem Konzertmeister. Der winkt einen Schlagzeuger herbei. Der schaut drauf, nickt, stellt sich mit Woodblocks aufs Dirigentenpult und gibt Metronom-ähnlich einen Puls vor. Bei der Uraufführung von „in black and white“ für Orchester, Drucker und Schredder von Matthew Herbert im Abschlusskonzert des cresc…-Festivals im hr-Sendesaal stand der Drucker im Zentrum des Orchesters, aus Sicht des Publikums noch vor dem Dirigentenpult. Und würgte ein Blatt nach dem anderen aus. Orchestermitglieder drängelten sich um ihn, holten Blätter ab, setzten die Vorgaben um, die darauf standen. Bald entstand ein orchestraler Groove. Und erinnert an Tanzende, die ihrer Ratlosigkeit, wie ein unerquickliches Dasein zu ändern sei, für einige Stunden in einen Club entflohen sind.

Eine Autorität, die merkwürdigerweise akzeptiert wird

„Was ist die Funktion des Druckers?“ fragte  im Einführungsgespräch vor dem Konzert die (im Programmheft leider nicht genannte) Moderatorin den Komponisten. Er sei eine Autorität, die merkwürdigerweise akzeptiert wird. Obwohl man nicht wisse, wer dahinter steht, war die Antwort des Komponisten.

Integratives Festival

Man konnte das Ganze auch als vom hr Sinfonieorchester sehr gut gemachtes Spielchen konsumieren, in dem Musiker, von ihren hochqualifizierten Ohren geleitet, Papier zerreißen und zerknüllen und sich mit Papierbällchen bewerfen. Darüber durfte man lachen, wie (andere) vor fünfzig Jahren.
In dieser Offenheit, in diesem Vexieren zwischen „Ernst“ und „August“, getragen von süffigen Rhythmen, lag das Integrative des biennalen Festivals: Es schloss auch jene nicht aus, die leicht mit ihrem Tiefgang auf Grund laufen.

Schönbergs Harmonielehre

Das Motto, HUMAN_MACHINE, ließ nicht zuletzt an Menschen denken, die wie Maschinen funktionieren. Die ihre Fähigkeit, etwas zu erkennen und entsprechend zu handeln, nicht nutzen. Auf diese Fähigkeit (im Kontrast zum „Komfort als Weltanschauung“) hebt Arnold Schönberg zu Beginn seiner „Harmonielehre“ ab. Diese wiederum war Pate der gleichnamigen, vierzig Minuten füllende Komposition von John Adams, die mit ihrer symphonischen Sauce über minimalistischer Substanz viel Beifall fand. Ebenso wie Adams‘ „Short Ride in a Fast Machine”, dem Eingangswerk des Abends: darin ließen unerwartete Passagen in der „automatischen“ Entwicklung den Adrenalinspiegel stärker hochschnellen als die Vorstellung, überholte Familienkutschen durch Fahrtwind ins Wanken zu bringen.

Gavin Bryars‘ Untergang der Titanic

Emotionaler Höhepunkt war Gavin Bryars‘ „The Sinking of the Titanic“. Nach der Information, dass die Bordkapelle noch bis zum endgültigen Versinken des Luxusdampfers weiterspielte fragte sich Bryars, wie sich die Musik wohl von unter dem Wasser anhören musste. Unter nervtötenden Wiederholungen des ewiggleichen Themas bewunderte man die Musiker, die, lose koordiniert vom Dirigenten Baldur Brönnimann, in kammermusikalischen Verbänden perfekt zusammenwirkten und die Spannung hielten. Die zugespielten Augenzeugenberichte waren kaum zu verstehen. Umso mehr konnte man sich der grenzüberschreitenden Frage stellen: Wie werden deine eigenen letzten zwanzig Minuten aussehen?

Grenzüberschreitungen sind nicht immer unproblematisch. Um der eines Corona-Virus‘ in Nähe der hr Bigband vorzubeugen, hatte der Klangkörper seinen Auftritt und die vorgesehene Uraufführung des Auftragswerks »Contre-Jour« für Bigband von Eve Risser kurzfristig abgesagt.

DORIS KÖSTERKE
7.3.20

Mitschnitte der Kompositionen von John Adams werden am 26.03., die der beiden Briten Herbert und Bryars 2020 am 09.04.20202 jeweils ab 20:04 im „Konzertsaal“ gesendet.

Gespräch mit Shiva Feshareki über ihr „Opus Infinity“

 

Sie fühlt sich in der „drum n bass“- und Jungle-Kultur wohl. Darüber hinaus hat die Turntable-Virtuosin und Komponistin Shiva Feshareki auch einen PhD in Musik. Für das diesjährige „cresc…“-Festival mit dem Schwerpunkt „Human – machine“ – hat das Ensemble Modern ihr einen Kompositionsauftrag erteilt. Ihr Opus Infinity für Turntables, Orchester und Life-Elektronik ist, wie Shiva Feshareki sagt, „flüssige Architektur“.

Flüssige Architektur

Der Partitur ist eine bunte Bildkomposition vorangestellt: Der Plan, wie die einzelnen Instrumente im Raum positioniert sind, zwischen denen man sich als Zuhörer seinen Platz sucht. Die Klänge kommunizieren über den gesamten Raum. Wie in einem Hoketus, einer seit dem Mittelalter gebräuchlichen Musizierform, in der die einzelnen Töne einer Melodie auf verschiedene Instrumente verteilt sind. Im Zusammenspiel entsteht die Melodie neu und umso farbiger. Mitten im Raum steht der Tisch mit einem herkömmlichen Plattenspieler und einem CD-Player, dessen Drehgeschwindigkeit man ebenfalls durch buchstäbliches Eingreifen verändern kann. Die Turntable-Virtuosin improvisiert über die festgelegten Parts der Musiker. Ihre Klänge umwandern den gesamten Raum.

Aufstellplan wie Musik sind laut Komponistin nach gleichen Prinzipien gebaut. Nach Gesetzen, die man auch in der Natur findet, wie der Fibonacci-Reihe oder dem Goldenen Schnitt. Die im Großen erkennbaren Strukturen werden zur Mitte hin ins Unendliche verkleinert, wie sich, manchen Ansichten zur Folge, der Kosmos auch im Bau von Planzen und Lebewesen spiegelt. Die Unendlichkeit, auf die der Titel anspielt, zielt nicht nach außen, sondern nach innen.

“ … das Gegenteil von militärisch“

Bei den Proben für die Uraufführung fallen die vielen Kabel und Lautsprecher des eigens für diese Aufführung entwickelten Raumklangsystems auf. Wozu dieser Aufwand? Als Antwort klopft Shiva Feshareki auf eine Tischplatte: Erst nur an einem Ort, dann führen die klopfenden Hände ein Zwiegespräch über den Tisch hinweg. Schließlich bewegt sie das Klopfen über die gesamte Platte. Der Eindruck ist ungleich lebendiger und interessanter. „Was sie macht, ist das Gegenteil von militärisch“, merkt Christian Duka an, der als Programmierer an der Komposition beteiligt war.

Etwas, das allen Menschen gemeinsam ist

Shiva Feshareki, mit iranischen Wurzeln in London geboren und aufgewachsen, sucht nach etwas, das allen Menschen gemeinsam ist, das alle unabhängig von Herkunft und Bildungsstand „verstehen“. Wie in einer alten Geschichte die Blinden, die verschiedene Körperteile eines Elefanten betasten und zu völlig verschiedenen Schlüssen kommen, wie ein Elefant sei: wie eine Schlange, wie ein Säbel, wie eine Säule. Doch alle haben auf ihre Art Recht. Wie in einem Hoketus ergeben die verschiedenen Ansichten ein zutreffendes Bild.

Ein gedankenreiches Werk, das im Rahmen des „cresc…“-Festivals am Samstag, den 29.02.2020 in der Halle 1 des Frankfurt LAB ab 21:45 seine Uraufführung erleben wird.

DORIS KÖSTERKE
27.02.2020

Das Interview fand nach den Proben zur Uraufführung am 17.02.2020 statt.

 

 

To whom it may concern 1 von Nuno Ramos

 

Philosophisch Interessierte waren zunächst enttäuscht: Nuno Ramos bezog seine Perfor­mance „Über die menschliche Natur (To whom it may concern 1)“, die im Frankfurter Mousonturm uraufgeführt wurde, zwar auf die legendäre gleichnamige Debat­te zwischen Michel Foucault und Noam Chomsky, die Fons Elders 1971 im niederländischen Fernse­hen moderierte. Aus ihren Positionen, Foucault sy­stem­orien­tiert, Chomsky anarchisch ange­haucht, könnte man heute SUV-Fahrer und Fahrraddemonstranten darüber diskutieren lassen, wie Politik sich durch individu­elles Han­deln beeinflussen lässt. Aber Ramos konzentrierte sich auf die Musikali­tät der Sendung. Wo blieb der sittliche Nährwert dieses Mousonturm-Bei­trags zum „Eroica“-Musikfest? – „Der kommt!“ verhieß Dramaturg Marcus Droß, „nur anders“.

Uraufführung im Frankfurter Mousonturm

Immerhin war die Performance das Ergebnis von elf selbstverantwortlich ihre Parts erschaffenden Individuen: Ramos sah seine Rolle nur im Anstoßen und Moderieren der kreativen Prozesse.

Zu den drei Sprachen der Sendung, in der Foucault Französisch sprach, Chomsky Amerikanisch und ein Moderator Nieder­ländisch, fügte Ramos noch das Altgrie­chische aus Iannis Xenakis‘ Komposition „Kassandra“ (1987) für Bariton (mit Psal­terium) und Schlagzeug hinzu. Vom Schlag­zeug verstärkt füllte Bariton Miljenko Turk seinen Part mit reichlich Emotion. Aber man „verstand“ nur, dass „sie“ sich fürchterlich aufregt. Wie Xenakis die Deklamationsmelodie der klassi­schen griechischen Tragödie in eine graphisch notierte Partitur fasste, analysierte auch Komponist Diego Ramos die Sprache der Fern­sehaufnahme und fasste sie in eine ebenfalls graphisch notierte Partitur. Die daraus generierten Texte durchdrangen sich mit Xenakis‘ „Kassandra-Rufen“.

Dorsey Bushnell spielte Noam Chomsky mit dem Vorteil angeborenen US-Idioms und großer Lust am Überzeichnen der Choreo­graphie seiner Hände. Julia Mihály spricht „kein Wort Französisch“ und spielte musikantisch mit dem perkussiven Duktus Foucaults. Beide hatten sich wieder und wieder die über YouTube zugängliche Debatte angeschaut und die Laut- und Körpersprache der beiden Phi­losophen studiert. Perkussionistin Yuka Ohta huschte jenseits der nur 16 Minuten füllenden Xenakis-Aufführung wie ein Pest-Doktor mit Kapuze verkleidet von einem zum anderen und imitierte den Sprachduktus mit Rassel oder Rummelpott.

„Das ist, wie Demokratie funktioniert“, sagte Ramos nach der Aufführung am Tresen. Ein wenig bitter, seit seine brasiliani­schen Landsleute Jair Bolsonaro zum Prä­sidenten gewählt haben: Vernunft oder gar „Liebe zur Weisheit“ spielen keine Rolle.

Keine schöne Botschaft? Frei nach Brecht eine Aufforderung: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! / Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss“! Nicht auf der Bühne, nicht nur in Worten, sondern im täglichen Handeln.

DORIS KÖSTERKE