Pygmalia von Manos Tsangaris

Frankfurt. Als „Musiktheater mit wechseln­der Publikumsperspektive“ hat Manos Tsan­garis sein neues Werk „Pygmalia“ über­schrieben. Denn er lässt das Beziehungsdrama zwischen der Künstlerin Pygmalia und ihrem selbsterschaffenen Traummann buchstäblich von zwei Seiten sehen. Literarisches Vorbild war die von Ovid überlieferte Sage vom Bildhauer Pygmalion, der sich, von real existierenden Frauen angewidert, eine Frauenstatue schafft und sich darin verliebt. Neben den Klängen hat Tsangaris auch den szenischen Ablauf, das Licht, die Texte und auch die Wahrnehmungsbedingungen für das Publikum komponiert.

Wechseln­de Publikumsperspektive

Bei der Uraufführung des im Auftrag der Alten Oper geschaffenen Werks durch das Ensemble Modern war die Bühne eine weiße Fläche in der Mitte des Mozartsaals. Die Hälfte der Zuschauer saß zunächst da, wo sonst die Bühne ist, die andere Hälfte unter dem Balkon. Nach einmaligem Durchlauf des Stückes tauschten die Zuschauergruppen die Seiten und damit ihre Perspektive auf das gleiche Geschehen. Die häufigste Frage nach der Aufführung war: „Haben die tatsächlich zweimal genau das gleiche gespielt?“ – ein Indiz, dass Tsangaris gelungen ist, was er wollte: erfahrbar machen, wie wenig objektiv unsere Wahrnehmung ist, wie sehr sie an Fahrt gewinnt, wenn jemand sich direkt an uns wendet und wie wirksam sie ausblendet, was daneben geschieht; wie stark unsere Wünsche und Ziele hineinspielen und wie viel sie unwillkürlich dazutut, um vermittelten Bruchstücken einen Sinn zu geben. Nicht nur gegenüber unserer Umwelt, sondern selbst gegenüber dem uns nächsten Menschen. „Pygmalia ist ein Stück, das zeigt, wie wir unsere Wirklichkeit im Gegenüber erfinden“, sagte Tsangaris.

Der eigentlichen Uraufführung am frühen Abend folgte die hier rezensierte zweite. Die Zeit dazwischen war für die Musiker sehr kurz. Doch sie wirkten hochmotiviert und konzentriert.

Frau erschafft Mann

Zunächst herrschte Dunkel. Knisternde elektronische Störgeräusche aufblitzender Lampen gingen nahtlos in Aktionen der Musiker über. Mit einer am Cellostachel befestigten Taschenlampe über die dunkle Bühne gehend suchte Eva Böcker buchstäb­lich nach Standpunkten, die sie eine Weile im Stehen bespielte und wieder aufgab. Eine singende Frauenstimme war zunächst ebenso wenig zu orten, wie der Bariton, der ihr antwortet. Später wurde er, in Embryo-Stellung auf einem Hunt kauernd, ins Zentrum der Bühne gerollt.
In der mythologischen Vorlage bringt die Liebesgöttin Venus Pygmalions Statue zum Leben. Bei Tsangaris öffnen Video-Projek­tionen (Astrid Rieger) von Meereswellen, Blitzen oder sprießender Vegetation ein sehr offenes Assoziationsfeld.

Pygmalia (so charismatisch gesungen wie gespielt von Marielou Jacquard) betrachtet verzückt die Video-Projektionen auf ihrem weißen T-Shirt. So süß, wie ihr Liebster aufblickt, kann er doch nur ein außerge­wöhnlich begabtes Wesen sein, das Einzig­artiges vollbringen kann – oder?

Vielleicht. Aber „du wolltest doch, dass ich selbständig bin“, wird er ihr später sagen.

Tolle Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern

In der Probenphase zu „Pygmalia“ hatte Omikron massiv zugeschlagen, sowohl bei den Musikern, als auch im handverlesenen Backstage-Bereich. „Am Wochenende dachten wir, wir müssten das Ganze absagen“, erzählte Manos Tsangaris in der Pause. Unter anderem hatte es den designierten Traummann-Darsteller erwischt. Hier kam die breite Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern zum Tragen: bei der „Akademie Musiktheater heute“ (AMH) hatten die Musiker den jungen Bariton Harald Hieronymus Hein kennengelernt.

Harald Hieronymus Hein

Ihm trauten sie die Aufgabe zu. Binnen einer Woche erarbeitete er sich einen Part, der das ganze Spektrum von Stimmgeräuschen über verständliches Sprechen bis hin zur Geste einer großen Oper erfordert. Auch die Orientierung im Ganzen ist schwierig, denn es gibt keinen Dirigenten. Die meist pointilistische Klangsprache ist weitgehend stochastisch: Weil es auf der Bühne oft zu dunkel ist zum Notenlesen, hat Tsangaris den Musikern ein festumrissenes Material an die Hand gegeben, über das sie improvisieren und miteinander kommunizieren können. Dem jungen Sänger sah man nach, dass er zur Sicherheit noch sein Tablet in der Hand behielt. Denn stimmlich und darstellerisch  überzeugte er restlos. Etwa, als er sich stinksauer darüber zeigte, von Pygmalia zu ihrem eigenen Gebrauch geschaffen zu sein.

DORIS KÖSTERKE
03.02.2022

Vgl. das Vorgespräch zur Uraufführung: