Heiner Goebbels, A House of Call

 

 

Die Frankfurter Erstaufführung von „A House of Call. My Imaginary Notebook“ (2020) von Heiner Goebbels wurde begeistert aufgenommen. Warum?

Nichtbelehrenwollen

Der Aufführung im Großen Saal der Alten Oper war, als Beitrag zum Fratopia-Festival, ein einstündiger Vortrag des Komponisten über die Intention seines erweiterten Kompositionsbegriffs, „… mit den Mitteln der Bühne musizieren“, im Clara-Schumann-Foyer vorausgegangen. Goebbels wollte ihn explizit nicht als „Einführungsvortrag“ verstanden wissen: Seine Ästhetik sei unmittelbar zugänglich. Erklärungen würden die möglichen Zugänge eher verengen und verstellen.

Dennoch war es erhellend zu erfahren, was Heiner Goebbels, unter anderem auch einstiger Inten­dant der Ruhrtriennale und Professor für Angewandte Theaterwissenschaft und gerade siebzig geworden, nicht will: Er will kein Narrativ vermitteln und nicht belehren. Faktoren wie Bühnenbild und Licht sollen keinen Fokus bilden, sondern eher einen Kontrapunkt. Ihn reizt eine „Sprache, die etwas von Orakel hat“, also alles andere als eindeutig ist. Und am Ende sei sowieso alles Musik.

Dirigent Vimbayi Kaziboni

Das Ensemble Modern hatte sich zum 70-köpfigen Ensemble Modern Orchestra erweitert. Dirigent Vimbayi Kaziboni stand am rechten Rand der Bühne. Wer das Glück hatte, ihn direkt im Blick zu haben, war fasziniert von seiner Präsenz, seiner Energie, der Exaktheit seiner impulsiv klangmalenden Bewegungen. Die frappierende Übereinstimmung zwischen seinen Bewegungen und dem Erklingenden lag natürlich auch an den Musikern.

Alle Instrumente waren verstärkt, um sie klanglich genau auf die eingespielten Tonaufnahmen abstimmen zu können. Die Tontechnik lag bei Felix Dreher und Volker Bernhard.

Die Aufführung begann fließend: ein erwartungsvoll nervöser Puls unterlief die Gespräche und Geräusche des Publikums und brachte sie zum Verstummen.

Verspätetes Verstärken

„Grain de la Voix“ hat Heiner Goebbels den zweiten von vier großen Formteilen überschrieben, der sich um historische Aufnahmen rankt. Unter anderem wurde der georgische Kriegsgefangene Giorgi Nareklishvili im Lager Mannheim 1916 von Mitarbeitern der Königlich Preußischen Phonographischen Kommission vor den Phonographen genötigt. Er sang, er sterbe für sein Vaterland und deshalb möge seine Mutter über seinen Tod nicht weinen, ohne jede instrumentale Unterstützung. Doch im Moment der Aufführung folgen ihm die Instrumentalisten, vor allem Cymbalon und Akkordeon, durch jede melismatische Verästelung. Ist es überinterpretiert, wenn sie ihm damit ein verspätetes Verstärken, Verstehen und Erhören zuteilwerden lassen?

Kinder der Herero und Nama

Unter dem Knistern und Knastern vom Schimmel befallener Wachswalzen spiegeln Kinderstimmen beim Singen von „Nun danket alle Gott“ eine ängstliche Überanpassung und zugleich einen Hilferuf als Nachfahren der Herero und Nama im heutigen Namibia, Überlebende also des wohl ersten Genozids im 20. Jahrhundert.

Mitunter entwickeln die schimmelnden Walzen geradezu ein Eigenleben: wie eine alte Schallplatte fressen sie sich beim Abspielen zunehmend heftig an der gleichen Stelle fest und erinnern dabei an Peitschenhiebe.

Rituale

Der vierte und letzte Teil beginnt mit einem „Bakakl“ der indigenen Gruppe der Murui oder Muiane im Amazonas-Gebiet. Sie dokumentieren für einen Anthropologen ihr Ritual der Salzgewinnung. Musikalisch ein Dialog zwischen Vorsänger und einem Assistenten, der immer wieder ein markan­tes, von einem Glottisschlag eingeleitetes „‘hm“ einfügt. Ihr rituelles Gleichmaß löst sich gleichsam auf, um der festen Stimme der über hundertjährigen Mutter des Komponisten Raum zu geben, die das Eichendorf-Gedicht „Schläft ein Lied in allen Dingen“ rezitiert.

Alles ist Musik

Dass die Welt anfinge zu singen, sich quasi in Musik auflöst, schien die eigentliche Botschaft des Abends. Der Abschluss war ein Ausschnitt aus „Worstward Ho“ (1983) von Samuel Beckett, von allen Musikern gemeinsam wie ein Gebet gespro­chen, demonstrativ ohne Dirigat – Vimbayi Kaziboni hielt seine Hände gefaltet – auf wechselnden Rezitationstönen, jeweils gestützt und klanglich eingefärbt von Klavier, Harfe oder Vibraphon – ein Ritual, das wohl kaum jemanden kalt ließ.

Warum ist Heiner Goebbels so erfolgreich?
Einerseits, weil man sich als Rezipient von dem Anspruch befreit fühlt, etwas verstehen zu sollen. Andererseits, weil er vertraute rituelle Muster verwendet, wie etwa den Wechsel von „Vorsänger“ und beantwortendem Kollektiv, oder das Ritornell (Sologeiger Jagdish Mistry!). Er hat keine Scheu vor der Macht von Melos und Rhythmus, die bei ihm nie stupide werden. Der Hauptgrund scheint zu sein, dass er selbst sich von Klängen und Stimmen berühren lässt und seinen Zuhörer dies vermittelt – obwohl er, wie er behauptet, genau das gar nicht will.

DORIS KÖSTERKE
14.9.2022