Rakhi Singh in der Frankfurter Börse

Vorurteile, Toleranz, Minimalismus und Diversität sind Themen der britischen Geigerin, Ensembleleiterin und Komponistin Rakhi Singh. Am Sonntag, dem 8. Oktober 2023 bringt sie sie in die Börse: Als Auswärtsspiel der Alten Oper wird sie zwei Konzerte im Börsenhandelssaal geben.

Rakhi Singh

Rakhi Singh erweitert das Klassikspektrum gerne um aktuelle Dimensionen. Zu ihren beiden Konzerten an diesem unüblichen Ort schreibt sie in einem Mail: „Ich liebe es, an unüblichen Orten zu spielen, da man mit dem Publikum auf eine andere Weise in Kontakt kommt“. Ein dazu passendes Stück hatte sie sofort parat, das von den Tickermaschinen an der New Yorker Börse inspirierte „Joyboy“ von Julius Eastman (1940-1990). Rakhi Singh hatte es bereits mit ihrer Gruppe „Manchester Collective“ aufgeführt. Für das Frankfurter Konzert hat sie eine Version erarbeitet, die sie allein aufführen kann.

Minimalismus

Denn das gehört zu ihren zentralen künstlerischen Anliegen: Probieren, ob eine gewünschte Wirkung, in diesem Falle der Klangeindruck von Eastmans Komposition, sich auch mit begrenzten Mitteln schaffen lässt, in diesem Falle allein mit Geige und Elektronik.

Julius Eastman, schwarz und schwul

Über die Musik von Julius Eastman schreibt sie: “Seine Werke sind mehr als nur Musik. Sie sind oft politische Aussagen und spiegeln die Kämpfe wider, die viele Menschen durchmachen mussten und teilweise immer noch müssen, nur weil sie sind, wer sie sind. Er war ein schwarzer schwuler Mann, der von 1940 bis 1990 in New York lebte. Vieles in seiner Musik ist wunderschön, anderes ist voller Kraft und Kampf“.

Von Barock bis Bang-On-A-Can

Julius Eastman war einer der ersten Komponisten von Minimal Music überhaupt. Auch andere Programmpunkte verheißen Nähe zu einer geisteich-unterhaltsamen Musik, in der ein eher begrenztes Material etwa über raffinierte Rhythmik, Überlagerungen und Verschachtelungen zu immer wieder neuen Gestalten findet, etwa von Michael Gordon, der zusammen mit David Lang und Julia Wolfe das New Yorker Bang-On-A-Can-Festival initiiert hat. Julia Wolf wiederum war eine der Lehrmeisterinnen der 1980 in London geborenen Anna Clyne, die am 8. Oktober ebenfalls auf dem Programm steht.
Aber auch Barockes wird erklingen, von Nicola Matteis. Um 1650 in Neapel geboren, hat es ihn nach Großbritannien verschlagen, wo er mindestens bis 1713 nachweisbar war, bevor seine Spur sich verlor.

Diversität

Rakhi Singh wird auch mindestens eine eigene Komposition spielen. Darauf darf man an diesem Ort besonders neugierig sein, denn ihre Musik speist sich aus dem, wie sie die Welt erlebt: „Die Welt wäre langweilig, wenn wir alle gleich wären und dasselbe mögen würden“, schreibt sie. Da möchte man gerne noch einen Schritt weitergehen und die Verschiedenheit von Menschen mit Biodiversität vergleichen: Je verschiedener wir uns erlauben zu sein, umso größer sind unsere Chancen, mit den begrenzten Ressourcen klar zu kommen.

Vorurteile überwinden

Zwischenmenschliche Verschiedenheiten, sind jedoch immer wieder herausfordernd: „Ich verbringe einen Großteil meines Lebens damit, meine Vorurteile zu überwinden und darauf zu hören, was mein Instinkt über etwas denkt. Ob es eine Verbindung zu meinem Herzen herstellt und wie ich mich dabei fühle“, schreibt Rakhi Singh und resümiert: „Musik kann uns lehren, dass wir nicht alle gleich sind. Gleichzeitig bringt sie uns zusammen“, im gemeinsamen konzentrierten Zuhören und Sich-Öffnen.

DORIS KÖSTERKE
September 2023

 

Auswärtsspiel der Alten Oper:
Rakhi Singh, Violine und Elektronik
Sonntag 08. Oktober 2023
Zwei Konzerte, um 15 und um 18 Uhr im Börsenhandelssaal der Börse Frankfurt, Börsenplatz 4.

Klang gewordener Respekt

Die diesjährigen Darmstädter Ferienkurse schlossen mit einer Sternstunde orchestraler Klangkultur. Dafür hatte sich das hr-Sinfonieorchester um viele externe Spitzenmusiker, etwa aus anderen großen Orchestern und dem Ensemble Modern erweitert. Geleitet wurde es von Pierre Bleuse, dem neuen Chefdirigenten des Pariser Ensemble intercontemporain.

Die Musiker, allein 93 im Orchester, füllten fast ein Drittel der Sporthalle der Lichtenbergschule, bemerkenswert aufmerksame Menschen aller Altersstufen den Rest.

String Quartet and Orchestra von Morton Feldman

Das Eröffnungswerk, „String Quartet and Orchestra“ von Morton Feldman war, anders, als man es in einem Konzert mit zeitgenössischer Musik erwarten würde, schon fünfzig Jahre alt und voller Schönklang. Den innersten Kreis inmitten des Orchesters bildete das Frankfurter „Fabrik Quartett“. Es hat sich aus Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) des Jahrgangs 2021/22 formiert und schon Preise gesammelt, bevor seine Mitglieder, die Geiger Federico Ceppetelli und Adam Woodward, Bratscher Jacobo Diaz Robledillo und Cellistin Elena Cappelletti, ihr Studium abgeschlossen hatten. Hier gaben sie leise melodiöse Impulse, die das Orchester mit ebenso leisen Klangschatten beantwortete. So reagierte etwa die Oboe auf einen Geigenton und imitierte dabei genau jene Sprödigkeit, die ihm in diesem Moment eigen gewesen war.

Klang gewordener Respekt

Die zurückgehaltene Lautstärke wirkt insgesamt wie Klang gewordener Respekt. Eine Aktualität des Stücks bestand in der Utopie von Achtsamkeit: Wann immer man zu wissen glaubte, wie sich das Stück weiter entwickelt, wurden diese Erwartungshaltungen auf so behutsame wie erfrischende Weise enttäuscht, besonders schön gegen Ende, als Cellistin Elena Cappelletti das etablierte Metrum in genau ausgerechneten Proportionen dehnte. Dabei entfaltete sie eine magnetische Ausstrahlung, die nur gelingt, wenn man sich seiner tragenden Rolle voll bewusst ist.

Konzert für Turntables und Orchester

Gegenüber Feldmans wie heimlich verhaltener Klanglichkeit mit einer eher nach innen gerichteten Intensität wirkten die folgenden tänzerisch extrovertierten „Six scenes for turntables and orchestra“ von Mariam Rezaei und Matthew Shlomowitz geradezu quietschbunt. Schön anzusehen war der Gesichtsausdruck von Mariam Rezaei an den Turntables, etwa ihr Schmunzeln, als sie zwischen geräuschnahen Aktionen eine klare Tonhöhe anpeilte, die in der Celesta eine überraschende Entsprechung fand. Die Uraufführung dieses Auftragswerks fand besonders bei Jüngeren viel Beifall.

„Orion“ (2002) von Kaija Saariaho

In der dreiteiligen Komposition „Orion“ (2002) von Kaija Saariaho konnte man die Energieströme zwischen den intensiv aufeinander lauschenden Musikern geradezu sehen. Und immer wieder flammte hier und da ein beglücktes Lächeln auf.

Gegen Ende des ersten Teils, „Memento mori“, rissen im Orchesterklang regelrechte Spalten auf, aus denen es wie aus sehr fernen Welten hallte.

Im zweiten Satz, Winter Sky, gab ein vielfarbig glitzernder orchestraler Klangteppich hier und da bezaubernden Soli Raum. Die „Geschichten“, die etwa Konzertmeister Alejandro Rutkauskas oder der junge Oboist Armand Djikoloum darin „erzählten“, hatten hohen künstlerischen Eigenwert. Aber auch das Cellosolo von Fritjof von Gagern, der sonst im Nationaltheater Orchester Mannheim spielt, ließ aufhorchen. Bezaubernd war die spannungsvolle Verhaltenheit des Klarinettisten Michael Schmidt, Gastmusiker vom Staatsorchester Darmstadt und auch die des Trompeters Jón Vielhaber. Er ist neuer Solo-Trompeter im hr-Sinfonieorchester im Probejahr und dies war sein erstes Konzert. Herzlichen Glückwunsch!
Im dritten Satz, „Hunter“, staunte man, wie organisch sich einzelne Impulse im Orchester fortsetzten.

Die 1952 geborene Finnin wurde in ihrem Heimatland nicht zum Kompositionsstudium zugelassen: Sie würde ja doch nur heiraten und Kinder kriegen. So kam sie nach Freiburg, wo Brian Ferneyhough und Klaus Huber die Hochsensible zu schätzen und zu fördern wussten. Anfang der 1980er Jahre ging sie ans IRCAM und Paris wurde ihr zum Lebensmittelpunkt. Dort ist sie am 2. Juni dieses Jahres an einem Hirntumor gestorben.

Emotionale Überzeugungsarbeit

Nach dem Konzert schwärmten Orchestermitglieder auch von den angenehmen Proben mit Pierre Bleuse. Er habe zunächst teils harte emotionale Überzeugungsarbeit geleistet und den Musikern dann immer mehr Zusammenhänge erschlossen, erzählte Armand Djikoloum. Bleuse hat die Spieler zu Mitschaffenden gemacht. – Mit überragendem Erfolg!

DORIS KÖSTERKE
19.8.2023

 

Vergleiche auch „Feindbild Entertainment„.

Yoav Levanon

Star von morgen

Yoav Levanon dürfte sich in die Reihe der Interpreten einreihen, die bei den Burghofspielen im Rheingau spielen, solange sie noch jung sind und kurze Zeit später weltberühmt werden, wie etwa Ewa Kupiec oder das Artemis-Quartett. Das Gespür für künstlerische Qualität bei dieser vergleichsweise bescheiden auftretenden älteren Schwester des Rheingau Musik Festivals ist immer wieder erstaunlich.

Bei den Burghofspielen im Rheingau

Der junge israelische Pianist überzeugte im Wiesbadener Christian-Zais-Saal restlos. Dabei hatte der Blick aufs Programm und auf sein junges Alter – er ist tatsächlich erst 19 – zunächst eine nach olympischen Kriterien zu messende Pianistik befürchten lassen, die mit Musik wenig zu tun hat. Die Befürchtung verflog in den ersten sieben Takten von Chopins Ballade Nr. 1 g-Moll op. 23, einer Art Prolog, der in einem Gestus eindringlichen Sprechens das Folgende zusammenfasst.

Musik kommt aus der Stille

Dem hatte Yoav Levanon eine auffällig lange Periode der schweigenden Sammlung vorausgehen lassen, in der manche im Publikum schon unruhig wurden. Eine scheppernd zu Boden fallende metallene Sitzplatznummerierung schien auch bei ihm eine geradezu schmerzhafte Irritation auszulösen. Also schwieg er noch einen Moment weiter und ließ die Musik dann in idealer Weise aus der Stille treten.

Reichtum an Farben

Von Anfang an überraschte der enorme Reichtum an Farben, aus dem er jeden neuen Gedanken quasi komplett neu einkleidete. Als er nach dem zweiten Auftreten des Themas dynamisch in die Vollen ging, spürte man, wie weise er sich bis dahin zurückgehalten hatte. Notengetreu nahm er die Lautstärke bald wieder in ein spannungsvolles Pianissimo zurück. Dynamische Ausbrüche waren klug dosiert, der Pedalgebrauch wirkte nicht, als wolle er verschleiern. Virtuose Anteile perlten trocken und ebenmäßig, sogar die Doppelgriffläufe, die zum abschließenden „Presto con fuoco“ überleiten. Im wohltuenden Vermeiden von toxisch-romantischer Sentimentalität gab das Ganze einen einleuchtenden, wenn auch kaum zu verbalisierenden Sinn.

Mehrschichtig

Noch deutlicher als bei Chopin spielte Yoav Levanon in Robert Schumanns Sinfonische Etüden c-Moll op. 13 mit pianistischen Farben, hob die verschiedenen Schichten wunderbar deutlich voneinander ab. So schwebte die Melodiestimme in der Zweiten Etüde über dem durchgängig vom vollgriffigen Pulsieren, als ließe sie sich von Wassermassen gerne tragen, aber nicht nass machen. Er näherte sich diesen hochromantischen Stücken sehr sachlich, mit einer inneren Sicherheit, die ebenso erstaunte wie überzeugte.

Hohe Abstraktion

In den Études-Tableaux op. 39 von Sergej Rachmaninoff erreichte sein edles, höchst abstraktes, lustvolles und klangschönes Spiel mit Farben, Formen und Strukturen einen wunderbaren Höhepunkt nach dem anderen. Schmunzelnd musste man in der zweiten Etüde tatsächlich an das geheime Konzept denken, das Rachmaninoff an Ottorino Respighi verraten hatte, die diese Klanggemälde orchestrierte: „Rotkäppchen und der Wolf“, mit einer mächtig bedrohlich und zottelig klingenden linken Hand, gegenüber der die linke niedlich-ängstlich zu zittern schien. Doch die meisten Konzepte blieben abstrakt und luden jeden ein, beim Hören eigene innere Bilder zu schaffen.

Große innere Sicherheit, die ansteckt

Nach stehenden Ovationen kündigte Yoav Levanon Liszts Zweite Ungarische Rhapsodie als entschieden einzige Zugabe an. Hatte man sie je so farblich klar konturiert, kraftvoll, klangschön und mühelos virtuos gehört? Im Nachklang blieb eine starke Gelassenheit.

DORIS KÖSTERKE
9.8.2023

Beredte Pausen bei György Kurtág

 

Die Junge Deutsche Philharmonie versammelt die besten Musikstudenten Deutschlands. Fünf von ihnen werden am kommenden Wochenende drei Kammermusikkonzerte spielen, in Offenbach, Frankfurt und Hofheim.
Seit Montag proben sie dafür in der Deutschen Ensemble Akademie mit zwei wunderbaren Dozenten.
„Spektren“ ist die Winter-Kammermusik 2023 überschrieben. Sie ist eine Hommage an die Klangsinnlichkeit der zeitgenössischen Musik, besonders an György Ligeti, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre.

Beredte Pausen bei György Kurtág

„Ich finde das ganz toll, wie ihr das macht: Eure Klänge wecken in mir unendlich viele Assoziationen!“, bestärkt Dozentin Catherine Klipfel das Trio aus Geigerin Zijing Cao, Bratscherin Céline Eberhardt und Cellist Mohamed Elsaygh, das sich an gerade an einem der „Signs, Games and Messages“ von György Kurtág abarbeitet. Dieses Stück besteht jedoch nicht nur aus Klängen, sondern ebenso vielen Pausen. Pausen, in denen sich ganz viel entwickelt. Und welche, in denen absoluter Stillstand gefragt ist, so, dass man sich als Zuhörer bereits gestört fühlt, wenn man spürt, dass einer der Musiker gedanklich schon vorauseilt. „Wie lang soll ich die machen?“, fragt Geigerin Zijing Cao. „Nicht zählen“, rät Dozent Emanuel Wehse. „Mach sie am besten so lang, bis du es nicht mehr aushältst“. Beim nächsten Durchspielen hat das Stück unglaublich an Spannung und Tiefgang gewonnen.

Wunderbare Dozenten

Pianistin Catherine Klipfel und Cellist Emanuel Wehse haben zusammen das Morgenstern-Trio gegründet, das sogar schon in der New Yorker Carnegie Hall aufgetreten ist. Emanuel Wehse war selbst Mitglied der Jungen Deutschen Philharmonie und freut sich riesig, wieder hier zu sein: „Es ist unglaublich, wie konzentrationsfähig und offen diese jungen Menschen sind“.

Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie proben für ihre Winter-Kammermusik 2023

Etwa Bratscherin Céline Eberhardt. Sie ist erst 18 Jahre alt. Zu ihren Lehrern zählte ganz unter anderem Roland Glassl. 2021 bekam sie, zusammen mit ihrer Duopartnerin Danai Vogiatzi, den Förderpreis des Schleswig-Holstein Musik Festivals.
Mit von der Partie, etwa in dem Klavierquartett a-Moll von Gustav Mahler, ist auch Annabel Nolte. Zusammen mit den anderen Streichern freut sie sich ganz besonders auf „ParaMetaString“ (1996) von Ligetis Schülerin Unsuk Chin (*1961), in dem sich Instrumentalklänge mit elektronischen verbinden.

Ligetis Klavieretüden

Im Zentrum des Programms stehen zwei von Ligetis Klavieretüden. „Sie sind das Schwerste, das ich bisher gespielt habe“, sagt Pianistin Shiho Kawasaki darüber. Nicht von ungefähr hat Ligeti seine Nr. 13 »L’escalier du diable« (1993) genannt. Der Notentext sieht ziemlich schwarz aus. Aber formale Wendepunkte hat Shiho Kawasaki in verschiedenen Farben markiert. Aha, sie macht sich strategische Gedanken, wie sie das Gebilde für ihre Zuhörer plastisch machen kann. Ihren ersten Unterricht hat sie im Alter von drei Jahren auf einer elektronischen Orgel bekommen. Mit neun Jahren ist sie auf das Klavier umgestiegen, mit sechzehn Jahren wusste sie: Das mache ich zu meinem Beruf! Als sie 2020 nach Deutschland kam, vereitelte Corona alle menschlichen Kontakte.

Verständnis jenseits des Sagbaren

Umso glücklicher ist sie, sich nun mit anderen jungen Menschen zwischen 18 und 28 auf einer Ebene austauschen zu können, an die Worte ebenso wenig heranreichen, wie weniger gute Musiker. Beim Gespräch in der Mittagspause schwärmen auch ihre Kollegen vom tiefen gemeinsamen Verständnis jenseits des Sagbaren.

DORIS KÖSTERKE
31.1.2023

 

Konzerte:

Freitag, den 3. Februar um 19 Uhr in der Französisch-Reformierten Kirche in Offenbach,
Samstag, den 4. Februar um 20.00 Uhr in der Frankfurter Romanfabrik,
Sonntag, den 5. Februar um 11.00 Uhr im Landratsamt Hofheim.

Rostropowitschs Erbe, hochaktuell

Als Russe hat Mstislav Rostropovich (1927-2007) den Systemkritiker Solschenizyn bei sich aufgenommen. Repressalien und Ausbürgerung nahm er dafür in Kauf. Slava, wie seine Freunde ihn nannten, hat auf der zerschlagenen Berliner Mauer Cello gespielt und ist beim Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991 nach Moskau gereist, um für Demokratie zu sprechen. Was hätte er, der einmal gesagt hat, er möge Putin, heute getan? …weiterlesen

Happy New Ears für Junges Polen

Frankfurt . Alle vier Stücke junger polnischer Komponisten, die der dänische Komponist Simon Steen-Andersen im Rahmen des Werkstattkonzerts Happy New Ears des Ensemble Modern in Halle 1 des Frankfurt LAB vorstellte, waren thematisch an Außermusikalischem aufgehängt.

Marta Śniady

Werbeversprechen in Verbindung mit schlüsselreizhaft geschminkten Mädchenmündern waren Thema in der Komposition für Ensemble, Video und Audio Playback (2018) von Marta Śniady (*1986). Der Titel, “probably the most beautiful music in the world” war zweifellos ironisch gemeint. Denn die Musik schien das auf der Leinwand Präsentierte eher zu konterkarieren.

Monika Szpyrka

Auch choreographisch durchkomponiert war „collect.consume.repeat“ für vier Darsteller und Audio-Playback von Monika Szpyrka. Darin verbanden sich Feminismus und Kritik an der Wegwerfgesellschaft mit Spott über gewohnheitsmäßige Automatismen: die beiden Perkussionistinnen Yu-Ling Chiu und Špela Mastnak fahren mit ihren Bewegungen auch dann noch weiter fort, als ihre männlichen Kollegen ihnen längst die Instrumente unter den Händen weggetragen hatten.

Rafał Ryterski

“Genderfuck” hat Rafał Ryterski sein Stück für Schlagzeug solo (restlos überzeugend: Rainer Römer) und Video überschrieben. Das Video zeigte eine rasch aufeinandergeschnittene Chorographie von Piktogrammen: Geschlechterklischees, wie ein Kontinuum an hochhackigen Pumps in allen Farben, wechselte mit Kreistänzen der verschiedenen Mischformen aus den Symbolen für männlich und weiblich, mit denen zahlreiche Gruppierungen gegen traditionelle Geschlechterrollen aufbegehren, sowie mit Piktogrammen der Instrumente, die Rainer Römer bediente. Besonders witzig war das der Kickdrum, das sich synchron zu jedem Schlag ausdehnte und zusammenzog.

Paweł Malinowski

Paweł Malinowski erinnerte mit „Robotron” für Ensemble und Sampler an den Computer-Hersteller der ehemaligen DDR, mit dessen Rechnern das Ministerium für Staatssicherheit („Stasi“) die Bevölkerung überwachte. Robotron stellte auch Synthesizer her, aber die taugten nicht viel, wie Malinowski im Kontrastieren historischer Aufnahmen (Klangregie: Norbert Ommer) mit den Live-Klängen des groß besetzten, von Toby Thatcher durchsichtig dirigierten, in vier Klanggruppen im Raum verteilten und  Ensembles vor Ohren führte: Menschen zu überwachen scheint ein Kinderspiel gegenüber dem Schaffen von Musik.

Das Konzert war aus verschiedenen Gründen, darunter Corona, über Jahre hinweg verschoben worden. Mit Ausnahme der von Monika Szpyrka erlebten alle 2018 entstandenen Kompositionen hier, in der Reihe “curtain_call” der International Composer & Conductor Seminars (ICCS) im Rahmen der Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern, ihre Deutsche Erstaufführung.

Wie leben wir? Wie wollen wir leben?

Im Gespräch mit Kurator Steen-Andersen und drei der Komponisten lag auch für Moderator Paul Cannon die Frage auf der Hand, warum so viele Polen ausgerechnet zu Steen-Andersen ins dänische Århus kommen. Die Polen seien handwerklich alle sehr gut ausgebildet, sagte Steen-Andersen dazu. Er ermutige sie nur dazu, sich selbst zu sein. Marta Śniady erzählte, sie sei voller Hemmungen nach Århus gekommen und regelrecht aufgetaut, als es dort zunächst einmal gar nicht um Musik gegangen sei, sondern eher um Fragen, wie: Wie leben wir? Wie wollen wir leben? – Die sollten in jeder Kunst gestellt werden, auch in der Musik.

DORIS KÖSTERKE
12.4.2022

Unerhört – Alma Mahler

 

Darmstadt. Gustav Mahler wollte die um 22 Jahre jüngere Alma Schindler (1879-1964) nur heiraten, wenn sie aufhörte zu komponieren. Der Schritt fiel ihr schwer. Denn in ihrer Studienzeit bei Alexander Zemlinsky hatte sie unter anderem bereits über hundert Lieder geschrieben. Als Gustav Mahler nach acht Ehejahren dann doch einmal eine Arbeitsmappe seiner Frau in die Hand bekam, setzte er sich selbst für den Druck und die Aufführung einiger dieser Lieder ein. Insgesamt haben 17 Lieder von Alma Mahler überlebt. Der Rest ist ebenso verschollen, wie ihre anderen Kompositionen. In der Reihe „Unerhört“ am Staatstheater Darmstadt werden Mezzosopranistin Solgerd Isalv und Pianist Jan Croonenbroeck 14 dieser Lieder am kommenden Samstag aufführen.

„Theater muss eine Vorreiterrolle spielen“

Die Reihe wurde von Operndirektorin Kirsten Uttendorf und Dramaturgin Isabelle Becker ins Leben gerufen. In einem Telefon-Interview ließen beide spüren, dass wie wichtig ihnen diese Reihe ist. Beim Spielzeitmotto „Was fehlt“ waren beide sich einig: Komponistinnen! „Theater muss eine Vorreiterrolle spielen und zeigen, dass ein System auch anders funktionieren kann“, sagt Kirsten Uttendorf. „Wir haben selbst gemerkt, dass wir viele Komponistinnen noch nicht kennen und kennenlernen wollen. Den Sängern und Pianisten aus unserem Ensemble ging es genauso. Sie haben sich als Paten und Patinnen für jeweils eine Komponistin zusammengefunden, setzen sich intensiv mit deren Werk und Biographie auseinander und gestalten daraus einen Abend“. Besonders schön ist es für Uttendorf, wenn Ensemblemitglieder bei ihr anrufen und sagen: „Ich hab noch eine interessante Komponistin gefunden!“.

Biographische Brüche – damals wie heute

Das Interesse an dieser Reihe ist überwältigend. Zumal die Punkte, an denen eine vielversprechende Künstlerlaufbahn zerbricht, an denen der große Wurf mit einem groß angelegten Werk nicht gelingt, heute noch ähnlich sind.

Von der schönsten Frau Wiens zur Trinkerin

Alma Mahler galt einmal als die schönste Frau Wiens. Neben ihren Ehen mit Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel hatte sie unübersichtlich viele Affären mit Künstlern ihrer Zeit. „Sie war von ihrem eigenen Wert überzeugt und hat die Reibung gesucht mit Künstlern, von denen sie das Gefühl hatte, das sind hier ebenbürtige Menschen, mit denen möchte ich in eine künstlerische Auseinandersetzung gehen“, sagte Uttendorf. „Auf der anderen Seite hat sie die Künstler, für die sie sich begeisterte, auch sehr inspiriert“. Die volle Erfüllung schien sie darin nicht gefunden zu haben. Schriftstellerin Claire Goll schrieb über die alternde Alma Mahler, von Thomas Mann „La grande veuve“ genannt: „Diese aufgequollene Walküre trank wie ein Loch“.

Sie war die Mutter jener Manon Gropius, der Alban Berg sein Violinkonzerte „Dem Andenken eines Engels“ widmete. Den Tod eines der beiden Kinder, die sie mit Gustav Mahler hatte, brachte sie mit dessen kurz zuvor geschriebenen „Kindertotenliedern“ in Verbindung. Von ihren vier ausgetragenen Kindern hat nur Anna Mahler sie überlebt.

Lieder von Alma Mahler in der Reihe „Unerhört“ am Darmstädter Staatstheater

In den frühen Liedern sieht Kirsten Uttendorf eine „gute Qualität, sehr dicht komponiert, auf sehr starke Texte“, etwa von Rilke, Dehmel, Heine. „Sie gehen sehr unter die Haut“. Isabelle Becker bezeichnet sie als spätromantisch-impressionistisch, wobei beide betonen, dass die Einflüsse von Schönberg und Berg ja erst nach ihrer Ehe, nach dem Ende ihres Komponierens, auf sie gewirkt haben und eine mögliche Entwicklung nicht absehbar ist.

Rund 1900 unerhörte Komponistinnen

„Von den rund 1900 Komponistinnen, die belegt sind, haben wir in dieser Spielzeit gerade mal eine Handvoll abgearbeitet“, sagt Becker. Aber immerhin! Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. „Wahrscheinlich können wir die Reihe unendlich fortsetzen, weil es unendlich viele vergessene Komponistinnen gibt, die vergessen sind oder auch heutige Komponistinnen, die man fördern muss“, sagt Uttendorf.

Dafür arbeiten sie zunehmend mit dem Archiv für Frau und Musik in Frankfurt und mit Musikwissenschaftlerinnen zusammen, die sich auf einzelne Komponistinnen spezialisiert haben.

Männlich oder weiblich – was sagt es aus?

Am 7. Mai stellen Sopranistin Jana Baumeister und Pianistin Irina Skhirtladze die Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdi, Fanny Hensel vor. Am 10. April machen Sopranistin Cathrin Lange und Pianistin Elena Postumi mit Cécile Chaminade bekannt, über die ihr Zeitgenosse Ambroise Thomas sagte: „Dies ist keine komponierende Frau, sondern ein Komponist, der eine Frau ist.“ Umgekehrt, gibt Kirsten Uttendorf zu bedenken, wird die Musik von Jules Massenet, Komponist etwa des Don Quichote, oft „weiblich“ genannt, weil er sehr sentimental und melodramatisch komponiert hat.

In der jüngeren Generation werden die Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ ohnehin als fließend gesehen. Isabelle Becker spricht von der „Evolution eines sozialen Geschlechts“, dem biologische Gegebenheiten gleichgültig sind. „Vielleicht schaffen wir es irgendwann, genderneutral zu argumentieren“, meint sie. Dann geht es nicht mehr um zufällige biologische Geschlechter von Urhebern, sondern nur noch um gute Musik.

DORIS KÖSTERKE
7.3.2022