Beredte Pausen bei György Kurtág

 

Die Junge Deutsche Philharmonie versammelt die besten Musikstudenten Deutschlands. Fünf von ihnen werden am kommenden Wochenende drei Kammermusikkonzerte spielen, in Offenbach, Frankfurt und Hofheim.
Seit Montag proben sie dafür in der Deutschen Ensemble Akademie mit zwei wunderbaren Dozenten.
„Spektren“ ist die Winter-Kammermusik 2023 überschrieben. Sie ist eine Hommage an die Klangsinnlichkeit der zeitgenössischen Musik, besonders an György Ligeti, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre.

Beredte Pausen bei György Kurtág

„Ich finde das ganz toll, wie ihr das macht: Eure Klänge wecken in mir unendlich viele Assoziationen!“, bestärkt Dozentin Catherine Klipfel das Trio aus Geigerin Zijing Cao, Bratscherin Céline Eberhardt und Cellist Mohamed Elsaygh, das sich an gerade an einem der „Signs, Games and Messages“ von György Kurtág abarbeitet. Dieses Stück besteht jedoch nicht nur aus Klängen, sondern ebenso vielen Pausen. Pausen, in denen sich ganz viel entwickelt. Und welche, in denen absoluter Stillstand gefragt ist, so, dass man sich als Zuhörer bereits gestört fühlt, wenn man spürt, dass einer der Musiker gedanklich schon vorauseilt. „Wie lang soll ich die machen?“, fragt Geigerin Zijing Cao. „Nicht zählen“, rät Dozent Emanuel Wehse. „Mach sie am besten so lang, bis du es nicht mehr aushältst“. Beim nächsten Durchspielen hat das Stück unglaublich an Spannung und Tiefgang gewonnen.

Wunderbare Dozenten

Pianistin Catherine Klipfel und Cellist Emanuel Wehse haben zusammen das Morgenstern-Trio gegründet, das sogar schon in der New Yorker Carnegie Hall aufgetreten ist. Emanuel Wehse war selbst Mitglied der Jungen Deutschen Philharmonie und freut sich riesig, wieder hier zu sein: „Es ist unglaublich, wie konzentrationsfähig und offen diese jungen Menschen sind“.

Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie proben für ihre Winter-Kammermusik 2023

Etwa Bratscherin Céline Eberhardt. Sie ist erst 18 Jahre alt. Zu ihren Lehrern zählte ganz unter anderem Roland Glassl. 2021 bekam sie, zusammen mit ihrer Duopartnerin Danai Vogiatzi, den Förderpreis des Schleswig-Holstein Musik Festivals.
Mit von der Partie, etwa in dem Klavierquartett a-Moll von Gustav Mahler, ist auch Annabel Nolte. Zusammen mit den anderen Streichern freut sie sich ganz besonders auf „ParaMetaString“ (1996) von Ligetis Schülerin Unsuk Chin (*1961), in dem sich Instrumentalklänge mit elektronischen verbinden.

Ligetis Klavieretüden

Im Zentrum des Programms stehen zwei von Ligetis Klavieretüden. „Sie sind das Schwerste, das ich bisher gespielt habe“, sagt Pianistin Shiho Kawasaki darüber. Nicht von ungefähr hat Ligeti seine Nr. 13 »L’escalier du diable« (1993) genannt. Der Notentext sieht ziemlich schwarz aus. Aber formale Wendepunkte hat Shiho Kawasaki in verschiedenen Farben markiert. Aha, sie macht sich strategische Gedanken, wie sie das Gebilde für ihre Zuhörer plastisch machen kann. Ihren ersten Unterricht hat sie im Alter von drei Jahren auf einer elektronischen Orgel bekommen. Mit neun Jahren ist sie auf das Klavier umgestiegen, mit sechzehn Jahren wusste sie: Das mache ich zu meinem Beruf! Als sie 2020 nach Deutschland kam, vereitelte Corona alle menschlichen Kontakte.

Verständnis jenseits des Sagbaren

Umso glücklicher ist sie, sich nun mit anderen jungen Menschen zwischen 18 und 28 auf einer Ebene austauschen zu können, an die Worte ebenso wenig heranreichen, wie weniger gute Musiker. Beim Gespräch in der Mittagspause schwärmen auch ihre Kollegen vom tiefen gemeinsamen Verständnis jenseits des Sagbaren.

DORIS KÖSTERKE
31.1.2023

 

Konzerte:

Freitag, den 3. Februar um 19 Uhr in der Französisch-Reformierten Kirche in Offenbach,
Samstag, den 4. Februar um 20.00 Uhr in der Frankfurter Romanfabrik,
Sonntag, den 5. Februar um 11.00 Uhr im Landratsamt Hofheim.

Rostropowitschs Erbe, hochaktuell

Als Russe hat Mstislav Rostropovich (1927-2007) den Systemkritiker Solschenizyn bei sich aufgenommen. Repressalien und Ausbürgerung nahm er dafür in Kauf. Slava, wie seine Freunde ihn nannten, hat auf der zerschlagenen Berliner Mauer Cello gespielt und ist beim Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991 nach Moskau gereist, um für Demokratie zu sprechen. Was hätte er, der einmal gesagt hat, er möge Putin, heute getan? …weiterlesen

Happy New Ears für Junges Polen

Frankfurt . Alle vier Stücke junger polnischer Komponisten, die der dänische Komponist Simon Steen-Andersen im Rahmen des Werkstattkonzerts Happy New Ears des Ensemble Modern in Halle 1 des Frankfurt LAB vorstellte, waren thematisch an Außermusikalischem aufgehängt.

Marta Śniady

Werbeversprechen in Verbindung mit schlüsselreizhaft geschminkten Mädchenmündern waren Thema in der Komposition für Ensemble, Video und Audio Playback (2018) von Marta Śniady (*1986). Der Titel, “probably the most beautiful music in the world” war zweifellos ironisch gemeint. Denn die Musik schien das auf der Leinwand Präsentierte eher zu konterkarieren.

Monika Szpyrka

Auch choreographisch durchkomponiert war „collect.consume.repeat“ für vier Darsteller und Audio-Playback von Monika Szpyrka. Darin verbanden sich Feminismus und Kritik an der Wegwerfgesellschaft mit Spott über gewohnheitsmäßige Automatismen: die beiden Perkussionistinnen Yu-Ling Chiu und Špela Mastnak fahren mit ihren Bewegungen auch dann noch weiter fort, als ihre männlichen Kollegen ihnen längst die Instrumente unter den Händen weggetragen hatten.

Rafał Ryterski

“Genderfuck” hat Rafał Ryterski sein Stück für Schlagzeug solo (restlos überzeugend: Rainer Römer) und Video überschrieben. Das Video zeigte eine rasch aufeinandergeschnittene Chorographie von Piktogrammen: Geschlechterklischees, wie ein Kontinuum an hochhackigen Pumps in allen Farben, wechselte mit Kreistänzen der verschiedenen Mischformen aus den Symbolen für männlich und weiblich, mit denen zahlreiche Gruppierungen gegen traditionelle Geschlechterrollen aufbegehren, sowie mit Piktogrammen der Instrumente, die Rainer Römer bediente. Besonders witzig war das der Kickdrum, das sich synchron zu jedem Schlag ausdehnte und zusammenzog.

Paweł Malinowski

Paweł Malinowski erinnerte mit „Robotron” für Ensemble und Sampler an den Computer-Hersteller der ehemaligen DDR, mit dessen Rechnern das Ministerium für Staatssicherheit („Stasi“) die Bevölkerung überwachte. Robotron stellte auch Synthesizer her, aber die taugten nicht viel, wie Malinowski im Kontrastieren historischer Aufnahmen (Klangregie: Norbert Ommer) mit den Live-Klängen des groß besetzten, von Toby Thatcher durchsichtig dirigierten, in vier Klanggruppen im Raum verteilten und  Ensembles vor Ohren führte: Menschen zu überwachen scheint ein Kinderspiel gegenüber dem Schaffen von Musik.

Das Konzert war aus verschiedenen Gründen, darunter Corona, über Jahre hinweg verschoben worden. Mit Ausnahme der von Monika Szpyrka erlebten alle 2018 entstandenen Kompositionen hier, in der Reihe “curtain_call” der International Composer & Conductor Seminars (ICCS) im Rahmen der Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern, ihre Deutsche Erstaufführung.

Wie leben wir? Wie wollen wir leben?

Im Gespräch mit Kurator Steen-Andersen und drei der Komponisten lag auch für Moderator Paul Cannon die Frage auf der Hand, warum so viele Polen ausgerechnet zu Steen-Andersen ins dänische Århus kommen. Die Polen seien handwerklich alle sehr gut ausgebildet, sagte Steen-Andersen dazu. Er ermutige sie nur dazu, sich selbst zu sein. Marta Śniady erzählte, sie sei voller Hemmungen nach Århus gekommen und regelrecht aufgetaut, als es dort zunächst einmal gar nicht um Musik gegangen sei, sondern eher um Fragen, wie: Wie leben wir? Wie wollen wir leben? – Die sollten in jeder Kunst gestellt werden, auch in der Musik.

DORIS KÖSTERKE
12.4.2022

Unerhört – Alma Mahler

 

Darmstadt. Gustav Mahler wollte die um 22 Jahre jüngere Alma Schindler (1879-1964) nur heiraten, wenn sie aufhörte zu komponieren. Der Schritt fiel ihr schwer. Denn in ihrer Studienzeit bei Alexander Zemlinsky hatte sie unter anderem bereits über hundert Lieder geschrieben. Als Gustav Mahler nach acht Ehejahren dann doch einmal eine Arbeitsmappe seiner Frau in die Hand bekam, setzte er sich selbst für den Druck und die Aufführung einiger dieser Lieder ein. Insgesamt haben 17 Lieder von Alma Mahler überlebt. Der Rest ist ebenso verschollen, wie ihre anderen Kompositionen. In der Reihe „Unerhört“ am Staatstheater Darmstadt werden Mezzosopranistin Solgerd Isalv und Pianist Jan Croonenbroeck 14 dieser Lieder am kommenden Samstag aufführen.

„Theater muss eine Vorreiterrolle spielen“

Die Reihe wurde von Operndirektorin Kirsten Uttendorf und Dramaturgin Isabelle Becker ins Leben gerufen. In einem Telefon-Interview ließen beide spüren, dass wie wichtig ihnen diese Reihe ist. Beim Spielzeitmotto „Was fehlt“ waren beide sich einig: Komponistinnen! „Theater muss eine Vorreiterrolle spielen und zeigen, dass ein System auch anders funktionieren kann“, sagt Kirsten Uttendorf. „Wir haben selbst gemerkt, dass wir viele Komponistinnen noch nicht kennen und kennenlernen wollen. Den Sängern und Pianisten aus unserem Ensemble ging es genauso. Sie haben sich als Paten und Patinnen für jeweils eine Komponistin zusammengefunden, setzen sich intensiv mit deren Werk und Biographie auseinander und gestalten daraus einen Abend“. Besonders schön ist es für Uttendorf, wenn Ensemblemitglieder bei ihr anrufen und sagen: „Ich hab noch eine interessante Komponistin gefunden!“.

Biographische Brüche – damals wie heute

Das Interesse an dieser Reihe ist überwältigend. Zumal die Punkte, an denen eine vielversprechende Künstlerlaufbahn zerbricht, an denen der große Wurf mit einem groß angelegten Werk nicht gelingt, heute noch ähnlich sind.

Von der schönsten Frau Wiens zur Trinkerin

Alma Mahler galt einmal als die schönste Frau Wiens. Neben ihren Ehen mit Gustav Mahler, Walter Gropius und Franz Werfel hatte sie unübersichtlich viele Affären mit Künstlern ihrer Zeit. „Sie war von ihrem eigenen Wert überzeugt und hat die Reibung gesucht mit Künstlern, von denen sie das Gefühl hatte, das sind hier ebenbürtige Menschen, mit denen möchte ich in eine künstlerische Auseinandersetzung gehen“, sagte Uttendorf. „Auf der anderen Seite hat sie die Künstler, für die sie sich begeisterte, auch sehr inspiriert“. Die volle Erfüllung schien sie darin nicht gefunden zu haben. Schriftstellerin Claire Goll schrieb über die alternde Alma Mahler, von Thomas Mann „La grande veuve“ genannt: „Diese aufgequollene Walküre trank wie ein Loch“.

Sie war die Mutter jener Manon Gropius, der Alban Berg sein Violinkonzerte „Dem Andenken eines Engels“ widmete. Den Tod eines der beiden Kinder, die sie mit Gustav Mahler hatte, brachte sie mit dessen kurz zuvor geschriebenen „Kindertotenliedern“ in Verbindung. Von ihren vier ausgetragenen Kindern hat nur Anna Mahler sie überlebt.

Lieder von Alma Mahler in der Reihe „Unerhört“ am Darmstädter Staatstheater

In den frühen Liedern sieht Kirsten Uttendorf eine „gute Qualität, sehr dicht komponiert, auf sehr starke Texte“, etwa von Rilke, Dehmel, Heine. „Sie gehen sehr unter die Haut“. Isabelle Becker bezeichnet sie als spätromantisch-impressionistisch, wobei beide betonen, dass die Einflüsse von Schönberg und Berg ja erst nach ihrer Ehe, nach dem Ende ihres Komponierens, auf sie gewirkt haben und eine mögliche Entwicklung nicht absehbar ist.

Rund 1900 unerhörte Komponistinnen

„Von den rund 1900 Komponistinnen, die belegt sind, haben wir in dieser Spielzeit gerade mal eine Handvoll abgearbeitet“, sagt Becker. Aber immerhin! Der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt. „Wahrscheinlich können wir die Reihe unendlich fortsetzen, weil es unendlich viele vergessene Komponistinnen gibt, die vergessen sind oder auch heutige Komponistinnen, die man fördern muss“, sagt Uttendorf.

Dafür arbeiten sie zunehmend mit dem Archiv für Frau und Musik in Frankfurt und mit Musikwissenschaftlerinnen zusammen, die sich auf einzelne Komponistinnen spezialisiert haben.

Männlich oder weiblich – was sagt es aus?

Am 7. Mai stellen Sopranistin Jana Baumeister und Pianistin Irina Skhirtladze die Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdi, Fanny Hensel vor. Am 10. April machen Sopranistin Cathrin Lange und Pianistin Elena Postumi mit Cécile Chaminade bekannt, über die ihr Zeitgenosse Ambroise Thomas sagte: „Dies ist keine komponierende Frau, sondern ein Komponist, der eine Frau ist.“ Umgekehrt, gibt Kirsten Uttendorf zu bedenken, wird die Musik von Jules Massenet, Komponist etwa des Don Quichote, oft „weiblich“ genannt, weil er sehr sentimental und melodramatisch komponiert hat.

In der jüngeren Generation werden die Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ ohnehin als fließend gesehen. Isabelle Becker spricht von der „Evolution eines sozialen Geschlechts“, dem biologische Gegebenheiten gleichgültig sind. „Vielleicht schaffen wir es irgendwann, genderneutral zu argumentieren“, meint sie. Dann geht es nicht mehr um zufällige biologische Geschlechter von Urhebern, sondern nur noch um gute Musik.

DORIS KÖSTERKE
7.3.2022

 

 

Rafał Blechacz in Oberursel

 

Oberursel. Mit seinem trocken perlenden, auch in Höchstgeschwindigkeitslaufwerken noch ebenmäßigen Anschlag begeisterte Rafał Blechacz in der Stadthalle Oberursel. Der Beginn des Konzerts bei der Chopingesellschaft Taunus e.V. mit Bachs Partita Nr. 2 c-Moll BWV 828 erschien wie eine Verbeugung vor dem Gastgeberland. Hier überzeugten vor allem die sanglich gestalteten langsamen Sätze, deren spannungsvolle Mehrstimmigkeit Blechacz wunderbar durchsichtig zu gestalten wusste. Nicht von ungefähr hat der 1985 in Nakło nad Notecią (deutsch: „Nakel“) geborene Pianist schon als Teenager zahlreiche Preise gewonnen. Im Alter von gerade einmal zwanzig Jahren gewann er, als erster Pole seit Krystian Zimerman, den Chopin-Wettbewerb in Warschau, einschließlich aller vier Sonderpreise und dem Publikumspreis. Um den Abstand zu anderen Bewerbern deutlich zu machen, wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs kein zweiter Preis vergeben. Seitdem festigte Blechacz seinen Ruf als einer der besten Pianisten der Welt.

Nicht nur Pianist

Zwischenzeitlich hat er noch eine Doktorarbeit im Fach Philosophie geschrieben, über Aspekte von Metaphysik und Ästhetik in der Musik. Sie habe ihm geholfen, „die Freiheiten und Grenzen musikalischer Interpretationen besser zu verstehen“, formulierte er gegenüber der Kultur-Website „KlassikAkzente“. Solche Grenzen waren auch in diesem Konzert spürbar: Im Allegro-Teil der Sinfonia in der Bach-Partita überraschte ein Pedalgebrauch ohne unmittelbar einleuchtende Vorteile. Auch in anderen schnelleren Sätzen ließen sich mitunter verknubbelnde Linien ein Fragen aufkommen, mit welchen Mitteln sich vielleicht mehr Trennschärfe hätte erreichen lassen. Das Fragen kam zu keinen besserwisserischen Ergebnissen. Auch die Überlegung, ob Bach sich für die Realisierung vielleicht ein zweimanualiges Cembalo vorgestellt hätte, an dessen klangliche Schattierungsmöglichkeiten der Konzertflügel im schnellen Tempo nicht heranreicht, schien bei kritischem Blick in den Notentext nicht immer als der Weisheit letzter Schluss. Vielleicht kommt Interpretation an diesem Punkt wirklich an jene Grenzen, wo eine im Notentext kondensierte Klangvorstellung Utopie bleibt?

Bekenntnis zu Europa

Im politischen Kontext dieser Tage wirkte auch das weitere Programm wie ein Bekenntnis zu Europa: Als Wahl-Österreicher vereinigte Beethoven belgische und deutsche Wurzeln. Seine 32 Variationen c-Moll WoO 80, die Blechacz an zweiter Stelle im Programm spielte, vexieren zwischen Musik und pianistischer Eigendynamik.

Aus Chopins „Vater“-Land folgte in der zweiten Hälfte des Abends das eigentlich für Orgel geschriebene „Prélude, Fugue et Variation“ von César Franck, dessen äußere Schlichtheit einer umso tieferen Religiosität Raum gibt. Auch hier überzeugten vor allem die langsamen Rahmensätze. Krönung des Abends war Chopins Sonate h-Moll op. 58. Hier erschien alles restlos stimmig und ausgereift, die souveräne Pianistik, die klare Unterscheidung zwischen tragender Substanz und färbendem Beiwerk, die zielgenau dosierte Agogik und, tief berührend, die zurückgehaltene und gerade deshalb verstärkt spürbare Emotionalität.

DORIS KÖSTERKE
6.3.2022

Pygmalia von Manos Tsangaris

Frankfurt. Als „Musiktheater mit wechseln­der Publikumsperspektive“ hat Manos Tsan­garis sein neues Werk „Pygmalia“ über­schrieben. Denn er lässt das Beziehungsdrama zwischen der Künstlerin Pygmalia und ihrem selbsterschaffenen Traummann buchstäblich von zwei Seiten sehen. Literarisches Vorbild war die von Ovid überlieferte Sage vom Bildhauer Pygmalion, der sich, von real existierenden Frauen angewidert, eine Frauenstatue schafft und sich darin verliebt. Neben den Klängen hat Tsangaris auch den szenischen Ablauf, das Licht, die Texte und auch die Wahrnehmungsbedingungen für das Publikum komponiert.

Wechseln­de Publikumsperspektive

Bei der Uraufführung des im Auftrag der Alten Oper geschaffenen Werks durch das Ensemble Modern war die Bühne eine weiße Fläche in der Mitte des Mozartsaals. Die Hälfte der Zuschauer saß zunächst da, wo sonst die Bühne ist, die andere Hälfte unter dem Balkon. Nach einmaligem Durchlauf des Stückes tauschten die Zuschauergruppen die Seiten und damit ihre Perspektive auf das gleiche Geschehen. Die häufigste Frage nach der Aufführung war: „Haben die tatsächlich zweimal genau das gleiche gespielt?“ – ein Indiz, dass Tsangaris gelungen ist, was er wollte: erfahrbar machen, wie wenig objektiv unsere Wahrnehmung ist, wie sehr sie an Fahrt gewinnt, wenn jemand sich direkt an uns wendet und wie wirksam sie ausblendet, was daneben geschieht; wie stark unsere Wünsche und Ziele hineinspielen und wie viel sie unwillkürlich dazutut, um vermittelten Bruchstücken einen Sinn zu geben. Nicht nur gegenüber unserer Umwelt, sondern selbst gegenüber dem uns nächsten Menschen. „Pygmalia ist ein Stück, das zeigt, wie wir unsere Wirklichkeit im Gegenüber erfinden“, sagte Tsangaris.

Der eigentlichen Uraufführung am frühen Abend folgte die hier rezensierte zweite. Die Zeit dazwischen war für die Musiker sehr kurz. Doch sie wirkten hochmotiviert und konzentriert.

Frau erschafft Mann

Zunächst herrschte Dunkel. Knisternde elektronische Störgeräusche aufblitzender Lampen gingen nahtlos in Aktionen der Musiker über. Mit einer am Cellostachel befestigten Taschenlampe über die dunkle Bühne gehend suchte Eva Böcker buchstäb­lich nach Standpunkten, die sie eine Weile im Stehen bespielte und wieder aufgab. Eine singende Frauenstimme war zunächst ebenso wenig zu orten, wie der Bariton, der ihr antwortet. Später wurde er, in Embryo-Stellung auf einem Hunt kauernd, ins Zentrum der Bühne gerollt.
In der mythologischen Vorlage bringt die Liebesgöttin Venus Pygmalions Statue zum Leben. Bei Tsangaris öffnen Video-Projek­tionen (Astrid Rieger) von Meereswellen, Blitzen oder sprießender Vegetation ein sehr offenes Assoziationsfeld.

Pygmalia (so charismatisch gesungen wie gespielt von Marielou Jacquard) betrachtet verzückt die Video-Projektionen auf ihrem weißen T-Shirt. So süß, wie ihr Liebster aufblickt, kann er doch nur ein außerge­wöhnlich begabtes Wesen sein, das Einzig­artiges vollbringen kann – oder?

Vielleicht. Aber „du wolltest doch, dass ich selbständig bin“, wird er ihr später sagen.

Tolle Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern

In der Probenphase zu „Pygmalia“ hatte Omikron massiv zugeschlagen, sowohl bei den Musikern, als auch im handverlesenen Backstage-Bereich. „Am Wochenende dachten wir, wir müssten das Ganze absagen“, erzählte Manos Tsangaris in der Pause. Unter anderem hatte es den designierten Traummann-Darsteller erwischt. Hier kam die breite Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern zum Tragen: bei der „Akademie Musiktheater heute“ (AMH) hatten die Musiker den jungen Bariton Harald Hieronymus Hein kennengelernt.

Harald Hieronymus Hein

Ihm trauten sie die Aufgabe zu. Binnen einer Woche erarbeitete er sich einen Part, der das ganze Spektrum von Stimmgeräuschen über verständliches Sprechen bis hin zur Geste einer großen Oper erfordert. Auch die Orientierung im Ganzen ist schwierig, denn es gibt keinen Dirigenten. Die meist pointilistische Klangsprache ist weitgehend stochastisch: Weil es auf der Bühne oft zu dunkel ist zum Notenlesen, hat Tsangaris den Musikern ein festumrissenes Material an die Hand gegeben, über das sie improvisieren und miteinander kommunizieren können. Dem jungen Sänger sah man nach, dass er zur Sicherheit noch sein Tablet in der Hand behielt. Denn stimmlich und darstellerisch  überzeugte er restlos. Etwa, als er sich stinksauer darüber zeigte, von Pygmalia zu ihrem eigenen Gebrauch geschaffen zu sein.

DORIS KÖSTERKE
03.02.2022

Vgl. das Vorgespräch zur Uraufführung: