Scream Sing Whisper

 

Abonnementkonzert des Ensemble Modern

 

 

Wo, außer beim Ensemble Modern, jüngst im Mozart Saal, kriegt man so reichhaltiges Futter für die Fantasie? In „Karakuri – Poupée mécanique“ (2011) hat Ondřej Adámek den Schöpfungsakt einer traditionellen japanischen Puppenspiel-Puppe Karakuri Nyngio musikalisch nachgestaltet, von der genauen (Selbst-)Beobachtung über die beständige Optimierung der Puppe, bis ihre Bewegungen wie natürlich wirken. Zugleich stimmlich und pantomimisch stellte Shigeko Hata dar, wie eine Bogensehne gespannt wird, bis ein Pfeil sich löst, wie er durch die Luft fliegt und wie seine Energie nachlässt. Als musikalisch formbildendes Motiv wiederholt und abgewandelt wurde diese Sequenz vornehmlich vom Perkussionisten David Haller, aber auch vom übrigen Ensemble ausgestaltet und von Felix Dreher (Klangregie) so lebensnah abgestimmt, dass man Pfeil und Bogen vor sich sah. Unmittelbar einleuchtend ließ der 1979 in Prag geborene, unter anderem von Pierre Boulez in Paris ausgebildete Komponist und Dirigent erleben, wie Musik unwillkürlich an Bewegungen denken lässt, die nicht immer menschenmöglich und gerade deshalb so anregend und witzig sind. Im letzten der vier Sätze verselbständigt sich die Mechanik: die Puppe zerstört nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Schöpfer.

Kulturkritik übt auch Im Fall – für Mezzosopran und Ensemble (2017) von Isabel Mundry. Inspiriert von Texten von Thomas A. Kling (1957-2005), „Die letzten Äußerungen des Orakels I und II“, spürt die Komposition einer überlieferten Prophezeiung des Orakels von Delphi nach, die den Untergang der antiken Kultur voraussagt. Die Texte des dritten und letzten Abschnitts stammen aus dem Internet, aus Reiseberichten und Hotelbewertungen und spiegeln den (Ver-)Fall der Kultstätte zum Touristenort. Das Orakel von Delphi, erinnerte Isabel Mundry im Einführungsgespräch mit Patrick Hahn, gab Antworten, die noch komplexer waren als die Fragen. Entsprechend war die Aufführung mit der bizarren, teilweise auch im Wechsel mit dem spürbar lustvoll agierenden Duncan Ward dirigierenden Mezzosopranistin Allison Cook ein rätselhaft-intensives Erlebnis.

Scream Sing Whisper – for 18 players (2015) von Anders Hillborg kam, den im Titel beschriebenen Geräuschen zum Trotze, ganz ohne menschliche Stimmen aus. Für den 1954 geborenen Schweden braucht Musik keinen konzeptuellen und intellektuellen Überbau, wohl aber einen durchgehenden Puls. Darüber durchschreitet er Idiome, die an Bigband-Jazz, Gustav-Mahler, Minimal Music und barocke Terrassendynamik erinnern, fächert einen pianistischen Urknall (Ueli Wiget) zu Bläserklangspektren und Liegetonschichten mit geigerischem Papageiengezwitscher und reibungsreichen Posaunenglissandi (Uwe Dierksen) auf. Bei alledem überträgt sich der Pulsschlag seiner Musik unwillkürlich auf die Hörer, hebt sie für die Dauer des Stückes aus ihrem alltäglichen Dasein heraus und verdeutlicht damit den Drogencharakter von Musik.

DORIS KÖSTERKE

»Multiversum« von Peter Eötvös

 

Beobachten außerirdische Wesen höherer Intelligenz unsere täglichen Kämpfe und finden uns drollig? Haben sie vielleicht eine Mutter, die sagt: „beim nächsten Aufräumen muss das stinkende Terra-Terrarium aber endlich verschwinden“? Die Vorstellung, dass es neben unserem Universum noch andere gibt, hat Peter Eötvös zu seiner Komposition »Multiversum« inspiriert.

Weil er im auf drei Jahre hin angelegten Projekt „Eötvös3“ mit dem hr-Sinfonieorchester zu tun hat, das wiederum für diese Spielzeit mit der Frankfurter Bettinaschule zusammenarbeitet, haben sich auch dort Schülerinnen, Schüler und ihr Musiklehrer Markus Desoi klanglich mit dem Thema beschäftigt, eine eigene Gruppenkomposition erarbeitet und sie ganz tüchtig und lampenfieberfest geübt. Die Uraufführung der rund vier Minuten langen Resultate fand im Großen Saal der Alten Oper statt, im gleichen „Jungen Konzert“, in dem Peter Eötvös das hr-Sinfonieorchester dirigierte.

Eötvös dirigiert seins, Bettina-Schüler spielen ihr eigenes Multiversum

Zwei neunte Klassen entsprachen zwei völlig verschiedenen Welten, lyrisch-melodiös die eine, rhythmusbetont die andere. Beide bekamen dafür großes Lob von dem überaus artig auftretenden, 73-jährigen Komponisten.

Der hatte vorher „Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132“ von Max Reger dirigiert, eine Übersetzung des Mozartschen Idioms ins Bayerisch-Barocke, in dem Reger sich einerseits als Zeitgenosse des melodiös und harmonisch Angeschrägten zeigte. Andererseits – das fanden Jugendliche sofort anschaulich – als jemand, der jeweils unmäßig gefressen, gesoffen und gearbeitet hat.

In Eötvös‘ »Multiversum« war das Orchester in räumlich voneinander getrennte Klanggruppen geteilt: Die Streicher saßen alle auf einem Teil der linken Bühne, die Holzbläser gegenüber. In der hinteren Bühnenmitte flankierten je zwei Hörner und ein Saxophon die Tuba als Zentrum. Den Bühnenhintergrund bildeten vier opulent ausgestattete Schlagzeuger. Das Zentrum der Bühne bildeten zwei Orgeln. Während man die Klänge der Orchestergruppen den Orten zuordnen konnte, an denen die Instrumentalisten saßen, wirkten die Orgelklänge wie ferngesteuerte Wesen: Denn die Klänge, die die wie eine Tänzerin agierende Iveta Apkalna neben dem Dirigenten am Spieltisch der Saalorgel produzierte, erklangen aus dem Prospekt hinter den Schlagzeugern. Was László Fassang vor dem Dirigenten auf der Hammond-Orgel erzeugte, ertönte über Lautsprecher im hinteren Zuschauerraum.

Eötvös‘ Utopie der Welten:
auf Gemeinsamkeiten bauen, Verschiedenheiten spannend finden.

Doch bei alledem schien es, als würden sich diese so verschiedenen Klang-Universen einander keineswegs bekämpfen, sondern, durchpulst von den gleichen Wellenbewegungen, zu ihrer gegenseitigen Bereicherung miteinander Kontakt halten, vielleicht Handel treiben, einander besuchen, zum Essen und zum Feiern einladen, auf Gemeinsamkeiten bauen und die Verschiedenheiten spannend finden.

 

DORIS KÖSTERKE

 

Eine Multimedia-Präsentation des Schüler-Projektes ist auf hr-sinfonieorchester.de zu finden. Video-Livestreams des Konzertes am 8.12., in dem anstelle des Schülerprojektes Mozarts Ouvertüre zur „Entführung aus dem Serail“ und Eötvös‘ „Dialog mit Mozart“ erklangen, gibt es auf hr-sinfonieorchester.de und concert.arte.tv. „Ganz Ohr“ kann man das Konzert unter hr2-kultur.de hören.

Oboist Albrecht Mayer und I Musici di Roma

Pfirkularatmung mit Pfnupfen

 

 

Toll war allein schon das Erlebnis musikalischer Ehrlichkeit: I Musici di Roma und Oboist Albrecht Mayer kamen in ihrem Konzert im Wiesbadener Friedrich-von-Thiersch-Saal ohne Theatralik und ohne auf Publikumsreaktion hin angelegte dynamische Steigerungen aus: Dieses „Tesori d’Italia“ überschriebene Adventskonzert des Rheingau Musik Festivals mit barocken Meisterwerken war eins der erfüllten Gesten. Die zwölf Musiker (darunter eine Frau) des Ensembles I Musici di Roma wirkten unter der Leitung ihres mit Ganzkörpereinsatz agierenden Primarius Antonio Anselmi so präzise zusammen wie ein einziges, hellwaches Wesen. Die Bassgruppe strukturierte mit militärischer Klarheit die rasende Virtuosität in Concerti und Concerti Grossi von Vivaldi, Pietro Castrucci und Guiseppe Sammartini. In langsamen Sätzen konnte der Generalbass jedoch auch für sauber kalkulierte Unschärfe sorgen, so dass das klangliche Fundament sich wellte und das musikalische Gefüge zu wogen begann wie ein Meer von Tränen.

Albrecht Mayer mag tatsächlich zu den größten Oboisten aller Zeiten gehören: er wirkt, als ob er in Tönen spricht, ohne Pathos, von Mensch zu Mensch. Ein jahreszeitbedingter Infekt, der ihn zu wiederholten Taschentuchpausen nötigte und fast bewogen hatte, das Konzert abzusagen, konnte weder sein Charisma, noch sein Können erschüttern: Zirkularatmung schien bei ihm auch bei Schnupfen zu funktionieren. Seine Virtuosität sprudelte wie eine zur zweiten Natur eingeschliffene sprachliche Äußerung. Der Beeinträchtigung ungeachtet spielte er alle vorgesehenen drei originalen Oboenkonzerte: Alessandro Marcello Konzert für Oboe, Streicher und Basso continuo d-Moll, von Giuseppe Sammartini das op. 8 Nr. 5, von Vivaldi das RV 450 und dazu das selten gespielte Doppelkonzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo B-Dur RV 548, zusammen mit Antonio Anselmi. Die beiden Künstler schienen grundverschieden, doch ihre virtuosen Parts zwitscherten umeinander wie vergnügte Vögel. In seinen launigen Moderationen erzählte Mayer unter anderem, wie Johann Sebastian Bach Marcellos Oboenkonzert ohne urheberrechtliche Skrupel zum Cembalokonzert umfunktioniert hatte. Mit sehr dezent gewählten Worten zeichnete er auch ein Bild von Vivaldis Wirkungsstätte, dem Ospedale della Pietà in Venedig, einem Heim für verwaiste oder „gefallene“ Mädchen, in denen hoch anpassungsfähige und leistungsfähige Wesen um die Gunst ihres Lehrers buhlten und über die Anstrengung, Verlust oder „Schande“ mit Ehrgeiz zu kompensieren, zu enormen Leistungen fähig wurden und „diese unglaublich virtuosen Stücke spielen“ konnten.

Nach dem Schlusston der Zugabe, der Sinfonia aus Johann Sebastian Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21, hielt Mayer noch lange die Spannung, bevor er seinen Zuhörern den Applaus gestattete und sie besinnlich eingefärbt in die Adventszeit entließ.

DORIS KÖSTERKE

cresc… 2017 – Zweiter Tag

„Take Death“

 

“Das Stück ist super. Für mich war es neu, aber das Ensemble Modern kennt es in- und auswendig“, sagte Ilan Volkov über „Take Death für 20 Instrumente & DJ“ von Bernhard Gander, das sich kontrast- und spannungsreich aus einem erbarmungslos gehämmerten Rhythmus entwickelt. Gespielt vom Ensemble Modern unter Volkovs klarem und energischem Dirigat beschloss das Stück das zweite Konzert des „cresc.“ – Festivals im hr-Sendesaal. Die Geschwindigkeit war enorm und brachte gerade die tiefen Instrumente, Kontrabass, Kontrafagott, Kontrabass-Klarinette und -Saxophon an die Grenzen ihrer Klangentwicklung: Während die Spieler Enormes leisteten, war der Klang außerordentlich amüsant. Der DJ (Patrick Pulsinger) durfte, wie der Komponist im informellen Nachgespräch „Pinkes Sofa“ sagte, dazu auflegen was er wollte, nur nicht Strawinskys „Sacre“: es hatte dem Komponisten als Vorbild gedient.

Der mit frenetischem Beifall bedachten Aufführung vorangegangen waren ein Impulsvortrag von Christina Weiss und zwei Uraufführungen. Die ehemalige (2002-2005) Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien stellte heraus, dass moderne Kunst, indem sie immer wieder Grenzen hinterfragt und neue Visionen erprobt, den Weg weisen kann für das ungewohnte Miteinander verschiedener Kulturen.

In „Spinning Lines“ von Martin Matalon spielte das Orchester auf akustischen Instrumenten, während die Solisten Jaan Bossier (Klarinette), Saar Berger (Horn) und Jagdish Mistry (Violine) mit elektronischer Hilfe fesselnde neue Klangmöglichkeiten entfalteten. Rhythmisch schien sich das Stück jedoch allzu lange vor Schluss festzureiten.

Mit einer geballten Ladung an Energie begann „Allheilmittel“ für Orchester mit Klavier und Hyperklavier von Martin Grütter. Der Prozess, in dem die Energie sich zerstreute und neu zusammenballte, schien schlüssig. Beim Hyperklavier, an dem Grütter seit einigen Jahren arbeitet, sind die Tasten eines Keyboard-Systems mit den Klängen verstimmter Klaviere belegt, so dass etwa beim Drücken einer Taste drei verschiedene Töne erklingen, die sich mikrotonal aneinander reiben. Meistens erinnerte der Klang an eine Steeldrum. Allerdings ließen sich die Glissandi, die sich von den Tasteninstrumenten aus ins orchestrale Geschehen ausweiteten, auf den 888 Tasten sehr viel lückenloser und geschmeidiger spielen als auf den 88 Tasten des Flügels.

DORIS KÖSTERKE

Fremd sein – Musik und Politik

Biennale cresc… 2017 – Erster Tag

Nach dem Prolog am Vorabend startete das cresc. Festival mit einem Sechs-Stunden-Programm in der Alten Oper.

Vor dem Eröffnungskonzert im Großen Saal betonte Christian Fausch als Geschäftsführer des Ensemble Modern, man wolle „politisch Position beziehen“. Dies will auch die 1977 in Izmir geborene Komponistin Zeynep Gedizlioğlu. In „Verbinden und Abwenden“ (2016), das hier seine Deutsche Erstaufführung erlebte, war eine Gruppe von 14 Individuen (Mitglieder des Ensemble Modern) ins hr-Sinfonieorchester gestreut. Das Stück schlich sich sehr behutsam ein über den feinen Klang gestrichener Zimbeln, der von Geigen weitergetragen wurde. Was lange brauchte, um Gestalt zu gewinnen, wurde vom Blechbläserquaken niedergemacht. Über Phasen auskomponierter Sprachlosigkeit und akustisch „dicker Luft“ wuchs eine hohe Dramatik, in der es, den einkomponierten Schreien nach zu urteilen, offensichtlich Verlierer gab.

Dass man als Fremder in einem anderen Land sehr schnell in der Rolle des Unterlegenen gerät, musste Peter Kujath in seiner Zeit als ARD-Hörfunkkorrespondent in Ostasien wiederholt erfahren. In seinem Impulsvortrag schilderte er, wie man oft nur zufällig erfährt, dass man aneckt. Etwa, indem man sich in ein Taschentuch schnäuzt: Japaner finden das hochgradig eklig und propagieren stattdessen das Hochziehen.

„In Situ“ für eine Gruppe von Solisten, Streichorchester und acht im Raum verteilte Orchestergruppen (2013) von Philippe Manoury, ließ fünf Orchestergruppen vom Balkon aus auf die Zuhörer hinabschallten. In den Proben im Sendesaal waren sie auf gleicher Ebene um das Publikum herum platziert gewesen, so dass die Herkunft der Klänge zuzuordnen war. Nun war man, wie mitunter im Leben, orientierungslos mittendrin: Impulse kamen von überall, nicht alle fanden so viel Raum, wie das Cellosolo von Eva Böcker. Unter dem präzisen Dirigat von Ilan Volkov wechselten hitzige Prozesse mit Nachdenken und Innehalten bis zum nächsten Hochlodern einzelner „Brandnester“, bis die Klangschatten aus der Peripherie allmählich länger wurden und das Stück wie eine offene Frage stehenblieb.

Dem Eröffnungskonzert vorausgegangen waren zwei Veranstaltungen des Projektes »Bridges – Musik verbindet«, das vom Verein „Kirche in Aktion“ getragen wird. Im Mozart Saal präsentierten Jugendliche aus zwei siebten Klassen des Schwerpunkts Musik an der Frankfurter Bettinaschule die Früchte ihrer Zusammenarbeit mit nach Frankfurt geflüchteten professionellen Musikern aus Syrien, dem Iran und Sudan. Eine gelungene Dramaturgie füllte eine Stunde ohne Beifallslöcher mit Beiträgen, die den verschiedenen Kulturen in ihrer Buntheit Raum gab, herausragende Leistungen als solche hervortreten und die Gemeinschaftsgaudi nicht zu kurz kommen ließ. Der Fokus auch der zweiten Hälfte dieses „CROSSING ROADS” überschriebenen Projektes lag auf der Frage, wie man es sich zusammen im Raumschiff Erde schön macht. Im Mangelsdorff-Foyer fand eine einstündige Gruppenimprovisation von weit über zwanzig professionellen Musikern statt. In den eingebetteten Soli waren unter anderem Enkhtuya Jambaldorj mit mongolischer Pferdekopfgeige, Oberton- und Untertongesang, Pejman Jamilpanah mit der orientalischen Laute Tar und höchst angenehmem Bariton zu erleben. Eingebettet von Darbietungen des Ensemble Modern und der Internationalen Ensemble Modern Akademie zeigten auch andere Musiker aus aller Welt, darunter Eleanna Pitsikaki (Kanun), Mustafa Kakour (Oud), Afewerki Mengesha (mit der an elektronische Klänge erinnernden Leier Krar und Gesang) ihr jeweils eigenes Charisma. Die feste zeitliche Struktur war der Garant, dass jeder zu Wort kam, ohne einen anderen zu dominieren.

Den informellen Ausklang „Pinkes Sofa“ im Hindemith Foyer eröffneten Nikolai Amann (Violine) und Changdae Kang (Kontrabass) in Together (1989) von Isang Yun. Die existenzielle Intensität ihres Spiels wirkte noch nach, als Julia Cloot vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain mit Ilan Volkov und Peter Kujath über Reisen und Fremdsein plauderte. „Ich bin jetzt sehr sicher in dem, was mich ausmacht“, sagte Kujath über seine Erfahrungen als Fremder, der seine eigenen Positionen beständig hinterfragt. Für Ilan Volkov bedeutet Reisen, vieles kennenlernen: Anregende Menschen, Kulturen, Traditionen. „Fremd sein“ könne man auch im eigenen Land, findet Volkov. Sogar sich selbst, betonte Peter Kujath.

DORIS KÖSTERKE

„In Broken Images“ von Harrison Birtwistle

Großer, herzlicher und verdienter Beifall für das Ensemble Modern Orchestra, für den englischen Dirigenten Paul Daniel und für „In Broken Images“ von Harrison Birtwistle. Für diesen „Secret Theatre“ überschriebenen Abend im Mozart Saal hatte sich der „harte Kern“ des Ensemble Modern mit befreundeten Musikerinnen und Musikern erweitert. Viele von ihnen stammten aus früheren Jahrgängen der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA). Fast alle hatten auch solistische Aufgaben zu erfüllen, so dass man weniger von einem „Orchester“, als von einem mehr als mehr als dreißigköpfigen Solisten-Ensemble sprechen mochte. An ihren hellwachen und hochmotivierten Gesichtern war abzulesen, dass sie um ihre tragende Rolle im Ganzen wussten. Musikalische Wendungen waren nicht einfach abgespielt, sondern so plastisch ausgeformt, dass sie an körperliche Gesten oder sprachliche oder vorsprachliche Äußerungen erinnerten.

„In Broken Images“ von Harrison Birtwistle

Auch die große Palette der Klangfarben, von extrem leuchtkräftigen zu geheimnisvoll nebulösen, verriet gründliche Detailarbeit. Sie war zweifellos ein Verdienst des Dirigenten, der die Aufführung mit runden und freien Bewegungen leitete. Es war auch ein Verdienst des Komponisten, der sich zu dieser an Dialogen reichen Musik von den raumklanglichen Experimenten der Renaissance und frühen Barockzeit hatte inspirieren lassen.

Zu Beginn des Konzerts hatte „Kassiopeia“ (2008) des 1971 in Basel geborene, unter anderem bei Wolfgang Rihm ausgebildeten Andrea Lorenzo Scartazzini allen einleuchtenden formalen Parallelen zum auch als „Himmels-W“ bekannten Sternbild und allen an die Dramatik des Mythos‘ erinnernden Farbkontrasten zum Trotze vergleichsweise buchstabiert gewirkt.

Bratschistin Andra Darzins in „Secret Theatre“

Auch in Birtwistles älterer Komposition, Secret Theatre (1984), die dem Konzert seinen suggestiven Namen verliehen hatte, hatten Daniels detaillierte Dirigierbewegungen noch eckig gewirkt. In diesem von szenischen Momenten durchwirkten Stück, in dem immer wieder andere Musiker auch räumlich aus dem Tutti in eine andere Ebene heraustreten, faszinierte ganz besonders die lettische Bratschistin Andra Darzins: Ihre enorme energetische Bühnenpräsenz bewirkte, dass man ihren Part auch dann gebannt verfolgte, wenn er akustisch vom Dschungel anderer Stimmen verdeckt war.

DORIS KÖSTERKE

Duo Runge&Ammon spielt „Baroque Blues“

Hohe Kunst voll Sinnlichkeit und Spiritualität

 

Vermutlich ist es egal, was man Eckart Runge, dem Gründungscellisten des Artemis-Quartetts, zu spielen gibt: Ob „E“ oder „U“, er wird es so lange drehen und wenden und dabei mit seinen zu Klang werdenden Gedanken und Gefühlen aufladen, bis etwas bahnbrechend Gehaltvolles herauskommt. Diesen Eindruck gewann man im Konzert „Baroque Blues“ des Duos Runge&Ammon im Mozart Saal, in dem die Klangsprachen von Barockmusik und Jazz einander befruchteten: die Jazz-Idiome waren zu Edelsteinen geschliffen, die drei Piazzolla-Stücke wirkten alles andere als gezähmt und auch in den Barock-Bearbeitungen, die gleichsam das Gerüst des Abends bildeten, ließ er sein Cello weinen und vor Vergnügen quietschen, schluchzen, jubeln und inständig beten. Im (bearbeiteten) Larghetto aus Händels Violinsonate g-Moll HWV 364a reihte er emotional „sprechende“ Verzierungen zusammen mit einem unfassbaren Reichtum an Klangfarben an weitgespannte Spannungsbögen, die die auch Pianist Jacques Ammon fein aussingend mittrug. Der Schlussakkord klang nicht nach Händel, sondern leitete über zu Gershwins „It Aint’t Necessarily So“.

Ganz schön aus der Puste, denn Cellospielen ist Schwerarbeit, plauderte Runge über die Hintergründe des Projekts „Baroque Blues“ als „persönliche Antwort auf den verstaubten Klassikbetrieb auf der einen Seite und seichtes Crossover auf der anderen“. Barockmusik und Jazz leben beide von der Improvisation nach mehr oder minder verbindlichen Regeln und der Blues scheint auch im Barock das wichtigste Gefühl. Er nannte den passus duriusculus, der als ständig wiederholte Bassfigur das Rückgrat vieler lamentierenden Barock-Kompositionen , nicht nur für das an diesem Abend gespielte „Lumi potete piangere“ von Giovanni Legrenzi, bildet. Pianist Ammon griff den chromatisch über eine Quarte absteigenden „etwas zu harten Gang“ auf und zeigte unter begeistertem Beifall, dass er sich auch als Sujet für eine fetzige Jazz-Improvisation eignet. Der chilenische Pianist scheint die Idiome von Jazz und Tango mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Seit rund zwanzig Jahren spielt er mit Runge im Duo zusammen, der es seinerseits als „Lebensaufgabe“ bezeichnet, Jazz lebendig zu spielen. Über dieses Bemühen hat Runges Klangsprache an unmittelbar sinnlicher Eingänglichkeit gewonnen, als spräche da ein „ganzer Mensch“ in Cellotönen. Mit extrem feinem Ohr reproduzierte er auch den typischen Klang des Bandoneons, einschließlich jenes Sotto-Voce-Vibratos, das dem Tango Nuevo mitunter eine Aura verleiht, als handele es sich um die letzte Worte eines Sterbenden. In zwei Stücken, „Nearly Waltz“ und „Burleke“ stellte das Duo den 1937 in der Ukraine geborenen Komponisten Nikolai Kapustin vor. Sein kompositorisch komplex verdrahtetes Jazz-Idiom beschrieb Runge als „Musik, die wir immer gesucht haben ohne zu wissen, dass es sie schon gibt“.

Die Zugaben waren Piazzollas Libertango und „Blue and green“ von Miles Davies, der laut Runge „mit wenigen Tönen ganz viel sagt“.

DORIS KÖSTERKE

Ensemble Nevermind in der Alten Oper

Barockmusik und Fiddle-Weisen

In fast allen Kulturen der Welt – nicht nur im Jazz – wird Musik improvisiert. Der detaillierte Notentext ist ein Sonderfall und zugleich der Grund, warum „klassische“ Musik bisweilen als leblos empfunden wird: Wo er nicht von der gesamten Persönlichkeit eines Interpreten „wiederbelebt“ wird, führt er bestenfalls zu einem netten Konversationsklang. Doch die vier jungen Musiker des Ensemble Nevermind wollen mehr. Der Fokus des Ensembles, das sich in Paris am Conservatoire National Supérieur de Musique zusammengefunden hat und im jüngsten der Bachkonzerte im Mozart Saal zu Gast war, liegt in der Barockmusik. Aber die quirlige „Frontfrau“ Anna Besson flötet auch Uraufführungen, Cembalist Jean Rondeau ist auch als Jazzer aktiv und die beiden Streicher, Geiger Louis Creac’h und Gambist Robin Pharo, zeigen eine hohe Affinität zum Fiddlen.

Doch erst gab es Barockmusik: ein mit viel Spielwitz aufbereitetes Viertes aus Telemanns Neuen Pariser Quartetten und eine etwas unterschätzt daher plätschernde Sonate von Bach (BWV 529). Doch schon bauten zwei von britischer Volksmusik inspirierte Kompositionen von Francesco Geminiani die Brücke zur keltischen Folklore: Der 1687 in Lucca geborene, 1762 in Dublin gestorbene Geiger (im offensichtlich zu schnell geschriebenen Programmtext gab es noch mehr Fehler) wirkte ab 1714 in London, später in Irland. Unter anderem schrieb er eine Violinschule mit Richtlinien, wie man die gleichsam als „Gerippe“ notierten Barockmusiken mit improvisierten Diminutionen zu füllen habe. Von Geminiani war es nur ein kleiner Schritt zu den vom Publikum begeistert beklatschten, vom Nevermind-Cembalisten Jean Rondeau arrangierten Improvisiationen über Port na bPucai und On yonder Hill There Sits a Hare. Improvisationen über das La Folía-Thema, der wohl populärsten psychedelischen Droge der Musikgeschichte, führten wieder zu barocken Kompositionen zurück: Zum Sechsten aus den Neuen Pariser Quartetten von Telemann und zu einer weiteren Triosonate von Bach (BWV 1039). Auch hier schien die virtuose Musikantik noch über manches sinnstiftende hinweg zu huschen. Doch das Gesamtkonzept blieb erfrischend.

DORIS KÖSTERKE

Telemann und die Liebe

Ensemble La Stagione beim Forum Alte Musik

 

„Telemann und die Liebe“ war das jüngste Konzert des Frankfurter Ensembles La Stagione im Kaisersaal überschrieben. Im Mittelpunkt standen zwei Trauungskantaten, für die Telemann – möglicherweise aus wirtschaftlichen Erwägungen – auch die Texte selbst geschrieben hatte. Mit derartigen Gelegenheitskompositionen besserte er sein ohnehin üppiges Gehalt als Frankfurts städtischer Musikdirektor und Kapellmeister der Barfüßer- und der Katharinenkirche noch weiter auf und die Telemanngesellschaft hat die mühevolle Arbeit auf sich genommen, einige davon aus einer sehr schlechten Quellenlage heraus zu rekonstruieren. Zeitbedingt hatten Telemanns Texte nichts mit Romantik zu tun und das Voyeur-Futter aus Telemanns geschiedener Ehe, in der er sich vergleichbar fruchtbar gezeigt hatte, wie im Komponieren, beschränkte sich auf eine Darlegung des reproduktions- und haushaltstechnisch funktionellen bürgerlichen Frauenideals der Barockzeit: „Lieblich und schöne sein ist nichts“, war die eine Kantate (TVWV 11:27) überschrieben, „Ein wohlgezogen Weib ist nicht zu bezahlen“ die andere (TVWV 11:23).

In seinem Telemann-Projekt bringt „La Stagione“ auch immer einen Komponisten zu Gehör, der mit Telemann befreundet war, in diesem Falle Johann Sebastian Bach. In der virtuosen kammermusikalischen Aufführung des Brandenburgischen Konzert Nr. 5 D-Dur BWV 1050 für Flöte (Karl Kaiser), Violine (Ingeborg Scheerer), Cembalo und Streicher gewann man den Eindruck, dass die Cembalistin in vollautomatisierter Hochgeschwindigkeit das Tempo zu konstant hielt, um Ihren Mitspielern noch Raum zur Gestaltung zu lassen.

Ansonsten zeigten sich die von Michael Schneider geleiteten Musiker engagiert, wenn auch nicht ganz so hellwach, wie man sie in kleineren Formationen schon erlebt hat. In einem netten Klangbad vermittelten gefällige Melodien in barock-maschinistischer Energetik etwas von der Transzendenz, mit der man vieles ertragen kann.

DORIS KÖSTERKE