Bajazzo mit Impresario im Palmengarten

Schauspielerische Leidenschaft nährt sich aus realen Gefühlen. In Leoncavallos „Bajazzo“ verschwimmen die Grenzen, bis es Tote gibt. Doch auch in der von besonderer Leidenschaft getragenen Inszenierung der Kammeroper Frankfurt wurden die Toten zum Schlussapplaus wieder lebendig. Zumal er im schönsten Opernhaus Frankfurts, unter freiem Sommerhimmel vor dem Musikpavillon im Palmengarten, besonders herzlich und dankbar prasselte.

Der Bajazzo-Aufführung vorangegangen war eine frisch ausgegrabene Rarität, „Der Impresario von den Kanaren“ von Domenico Sarro (1724). Auch hier geht es um Theaterwelt von innen, um die Hoffnung einer Sängerin auf ein Auskommen, sowie um einen Mann, der ihre Not für sich ausnutzen will. Das Libretto stammt von Pietro Metastasio.

Schauplatz in beiden Stücken ist eine von Frank Keller und Mateo Vilagrasa mit stilechten Details ausgestattete italienische Bar: Im Bajazzo bildet sie die Kulisse für die ländliche Theateraufführung, im „Impresario“ scheint sie das Zuhause der Sängerin (quirlig: Ingrid El Sigai), die mit dem Singen schon völlig aus der Übung gekommen ist, als ein Impresario (phänomenal textverständlich: Thomas Peter) sich bei ihr angemeldet hat. Sie hat sich in Schale geworfen und tyrannisiert den Barista (mit souveränem Charme: Harald Mathes) mit ihrem Lampenfieber, das angesichts der Person, die bald hereingestolpert kommt, nicht hätte sein müssen.

Der (vermeintliche) Impresario hat den Vertrag bereits blanko unterschrieben, aufsetzen darf die Sängerin ihn nach Belieben, was ihr unter beharrlichem Abwehren seiner Versuchen, unter ihre Wäsche zu gelangen, auch gelingt: Ausschließlich Prima-Donna-Rollen bei saftiger Gage und dazu einen beständig hohen Vorrat an Kaffee, Eis und Schokolade. Ersten Konfliktstoff bietet ihre Forderung, die Librettos ausschließlich von Freunden schreiben zu lassen, denn der (vermeintliche) Impresario komponiert nicht nur selbst aufs Dilettantischste, sondern würde sich auch gern selbst als Stückeschreiber profilieren. Letztlich entflieht die Sängerin der Begegnung. Aber vorher erteilt sie dem Zudringling noch eine schallende Ohrfeige.

Unter wie schwierigen akustischen Bedingungen hier gearbeitet wird, begann man zu ahnen, als es im wacker agierenden, von George Jackson geleiteten Orchester zu unbeabsichtigten Parallelgängen kam.

Beide Inszenierungen (Rainer Pudenz) nehmen vor allem deshalb für sich ein, weil sie so unernst sind. Herrlich überzeichnet etwa die sichtbar gemachten erotischen Spannungszustände zwischen den Liebenden (Andrea Jörg als Nedda und Giancarlo Paola als Peppe im Bajazzo).

Gelungen auch der Intermezzo-artige Auftritt von Giancarlo Paola als Gitarrenspieler, der Lieder von Totó und Kanzonetten trällert.

DORIS KÖSTERKE

21.07.2018

 

Expressive Stachelharmonien

Klare hohe Stimmen im Kontrast zu Strohbässen, weitgespannte Bögen, sauber ausgehörte Harmonien, eine Dynamik vom meisterlich gestützten Pianissimo zum Dom-durchbrausenden Vollklang, gut gehaltene Ausklänge im Dialog mit der Akustik des Domes – mit dem Choir of Trinity College, Cambridge unter der Leitung von Stephen Layton war einmal wieder einer der besten Chöre der Welt zu Gast bei den Frankfurter Domkonzerten. Die rund dreißig bemerkenswert jungen Menschen, Studierende der traditionsreichen Elite-Universität, begeisterten nicht zuletzt durch ihre Art, die hohe eigene Leistung in einem gemeinsamen Ganzen aufgehen zu lassen. Die stark durchmischte Aufstellung des Chores schien ein Geheimnis. Sie ermöglichte nicht nur eine Abfolge ein- und mehrchöriger Werke ohne Umstellpausen. Bisweilen schien es sogar, als seien einzelne Stimmen nicht immer nur hohen oder nur tiefen Partien zugeordnet. Solistische Rollen waren über viele Chor-Mitglieder verteilt und wurden aus den Reihen des Chores erfüllt. Nur in der Zugabe, „O Salutaris Hostia“ des 1977 geborenen lettischen Komponisten Eriks Ešenvalds, standen die beiden effektvoll alternierenden Soprani vor der Chorfront.

Im eröffnenden „Exsultate Deo“ von Palestrina (c. 1525–94) gefiel die aparte Phrasierung, durch die der Jubel enorm an Schwung gewann. Gemessen am Alter der Komposition staunte man über eine Gruppe leicht vibrierender hoher Frauenstimmen. Weit später im Programmverlauf, in Ralph Vaughan Williams‘ Agnus Dei aus der Messe in g-Moll, einem fein geflochtenen Netz aus Solistenformationen und Tutti, wirkte diese Vibrato-Farbe gezielt eingesetzt, um dem Gebet Innigkeit zu geben. Natürlich bot das Programm einige Motetten aus den Zeiten von Elizabeth I., von Thomas Tallis, Robert Parsons und Tomás Luis de Victoria. In William Byrds „O Lord, make thy servant, Elizabeth our Queen, to rejoice in thy strength“ schmunzelte man über die Aktualität.

Drei Soli für Orgel gliederten das Konzert. Gut durchhörbar wirkte das Alla breve, BWV 589. Im Postlude pour l’Office de Complies von Jehan Alain (1911-40) fühlte man sich von den Rohrblatt-Farben der Hauptstimmen beim Tasten von Zusammenklang zu Zusammenklang sicher an die Hand genommen, während die “Alleluyas” von Simon Preston (* 1938) sehr nachdenklich stimmten.

Die beglückendsten Momente des Konzerts waren jedoch die zeitgenössischen Kompositionen, die expressiven Stachelharmonien in „Mother of God, here I stand“ von John Tavener (1944–2013) oder in „O magnum mysterium“ von Jaakko Mäntyjärvi (* 1963), sowie die sauber ausgehörte Mixturklänge in Evening Hymn und Ekteniya of the Litany von Einojuhani Rautavaara (1928–2016).

DORIS KÖSTERKE

20.07.2018

UA Bára Gísladóttir, Sarah Nemtsov

Uraufführungen zur Eröffnung der Darmstädter Ferienkurse 2018

 

 

Eine Atmosphäre fröhlicher Offenheit rahmte das Eröffnungskonzert der Darmstädter Ferienkurse in der Großen Sporthalle der Lichtenbergschule. Das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Baldur Brönnimann hatte noch bis kurz vor dem Einlass der Zuhörer geprobt. Die Stücke seien heikel, aber gut, hieß es aus Reihen der Orchestermusiker.

Bára Gísladóttir: VAPE

Die 1989 in Island geborene Bára Gísladóttir hat sich zu ihrem 2016/17 entstandenen Orchesterstück VAPE durch den Sarin-Angriff in der U-Bahn von Tokio am 20. März 1995 anregen lassen: den fünf Mitgliedern, die das in Kunststoffbeuteln verpackte Nervengift in fünf Pendlerzügen einbrachten, sollten fünf Gruppen von Instrumenten entsprechen. Im kaum hörbaren, geräuschnahen und konspirativ beklemmenden Eingangsklangnebel meinte man zumindest Flöte und Kontrabass als Attentäter identifizieren zu können. Als die Schlagzeuger sich an großen Plastikpaketen zu schaffen machten kombinierte man: jetzt sind die Attentäter kurz vorm Austeigen und bearbeiten die Pakete mit ihren Regenschirmspitzen, damit das bis dahin flüssige Sarin verdampfen und sich in Zügen wie U-Bahn-Stationen verteilen kann. Als Hörer im klanglich Nebulösen tappend dachte man, dass bei höherer Qualität des Sarins und einer professionelleren Methode der Verbreitung weit mehr als „nur“ 13 Menschen sterben und über sechstausend würden verletzt werden könnten.

Sarah Nemtsov: dropped.drowned

Dass viel Können dazugehört, um solche Klänge herzustellen, dachte man auch in „dropped.drowned“ (2017) der 1980 in Oldenburg geborenen Sarah Nemtsov: Im Vergleich zur zuvor erzählten Geschichte wirkte dies eher wie ein abstrakter Malvorgang mit dicken und dünnen, energischen und zarten Strichen im Fluss eines Schaffensvorgangs, der manchmal fließt, sich manchmal überschlägt und manchmal stockt, wobei man an das Zitat der neuseeländischen Schriftstellerin Janet Frame im Einführungstext der Komponistin dachte, dass Menschen die Stille fürchten, weil darin, wie im klaren Wasser, alles sichtbar wird: weggeworfene Gedanken etwa, vergrößerte Schatten seiner selbst. In der Musik schienen es Rufe aus einer anderen Welt, deklamiert wie in Dringlichkeit, aber nicht zu dechiffrieren. Als flirrende Geigenklänge das Gefühl gaben, es könnte Schluss sein, dachte man an den ebenfalls im Programmtext geschriebenen Satz: „Das Loslassen ist eine der schwierigsten Übungen, nicht nur in der Kunst“. Der tatsächliche Schluss dieses Stückes war denn auch ein Unüblicher. Etwas fiel, dann noch etwas. Und das Stück hörte auf, als müsse man sich jetzt um etwas anders kümmern.

Simon Steen-Andersen: Piano Concerto

Das Piano Concerto von Simon Steen-Andersen wurde bei den Donaueschinger Musiktagen 2014 uraufgeführt und vielfach preisgekrönt. Wer das Stück zum zweiten Mal sah, dem schien es auch in dieser Aufführung an seiner Entwicklung gemessen zu lang. Kleinere Dosen Klamauk hätten genügt.

Es kombiniert die Live-Aufführung mit einem Video, das, mit Methoden wie Wiederholung, Motiv-Abspaltung, zeitlicher Dehnung und Raffung oder „Krebsgang“ wie Musik komponiert ist. Das Grundmaterial ist die Zeitlupen-Aufnahme eines aus einiger Höhe fallenden Flügels, der beim Aufprall auf den Boden zwar in Teilen zerschellt, dank seiner drei Beine als Knautschzone jedoch so erstaunlich stabil bleibt, dass der Pianist ihm noch vergleichsweise vertraute Klänge entlocken kann. Nicolas Hodges zeigte sich hier in seiner Doppelbegabung als Pianist und Komiker, der etwa seinem Double auf der Leinwand zunickt, es solle nun fein nachspielen, was er vorspiele. Aber das Double schaut ausdruckslos ins Publikum, während das Orchester seinen Part übernimmt.

Natürlich ist es gekonnt, wenn ein Orchester tatsächlich klingt wie ein verstimmtes Bar-Piano. Und natürlich ist es witzig, wenn dazu der Flügel im vor- und zurücklaufenden Video ein Tänzchen hopst, bei dem die Splitter beim Aufprall auseinanderstieben und beim Hochfedern wieder zum Ganzen finden. Aber wo liegt der kulturelle Nährwert?

DORIS KÖSTERKE
14.07.2018

Milo Machover öffnet einen Himmel voller Gamben

Wenn ein Musiker in die Hölle kommt, besagt ein Scherzspruch, müsse er von früh bis spät Musik von Blockflöten ertragen. Doch wir wissen ja von den Stoikern, dass die Wirklichkeit niemals so schlimm ist wie die Angst davor. Und dass man sich auf schlimme Zustände vorbereiten kann, indem man den Umgang mit ihnen einübt. Konkret: man setze sich bewusst einer Überdosis an Blockflöten aus und übe sich im Bewahren heiterer Seelenruhe!

Barocknacht auf Burg Kronberg

So gesehen stand die in diesem Jahr besonders hohe Konzentration an Blockflöten in der Barocknacht des Instituts für Historische Interpretationspraxis (HIP) der Frankfurter Musikhochschule eindeutig im Zeichen der Stoa. Obwohl Stoiker Seneca in Monteverdis Oper „L’incoronazione di Poppea“, die zum Abschluss der Barocknacht-Premiere auf Burg Kronberg von den Instrumentalisten des HIP und dem Kolleg „BAROCK-VOKAL“ der Uni Mainz gemeinsam in der Johanniskirche aufgeführt wurde, gar nicht gut wegkommt.

Seneca als Sugar-Daddy

Das lag keineswegs an Florian Küppers, der den Lehrer Neros mit trag- und ausbaufähigem schwarzen Bass sang, während singende Knaben ihn in dieser (unter Mitarbeit von Karl Böhmer) angenehm unernsten Inszenierung wie einen Sugar-Daddy umschwärmten. Das lag an Nerone, vom Altus Jeff Mack trefflich als penetrantes Enfant terrible dargestellt, das seine Gattin Ottavia (stimmgewaltig: Anna Schors) verstoßen und Poppea (angenehm timbriert: Julie Grutzka) heiraten will. Senecas moralisches Gesülze geht ihm dabei auf die Nerven und er befiehlt dessen Selbstmord.

Als Amme taugt auch ein Mann

Über die Hochzeit freut sich besonders Poppeas Amme Arnalta (gespielt von Justin Schütz, und zwar toll!), in Erwartung, damit in den Rang einer großen Dame aufzusteigen. Und Armor natürlich, behände gesungen von Ines Vinkelau, der aber ohnehin um seine heimliche Allmacht weiß. Als Antiheld des Abends überzeugte Rodrigo Sosa Dal Pozzo als Ottone.

Techniken aus heutiger Zeit in die Barockmusik getragen

Im Instrumentalensemble der HIP–Abteilung fielen die Lautenisten Sergio Bermudez und Christian Sprenger auf, weil sie lautmalerische Techniken aus heutiger Zeit in die Barockmusik integrierten.

Vor der „Krönung“ hatte man in zwei bis drei parallelen Mini-Konzerten nur selten Gelegenheit, der Übermacht der Blockflöten zu entgehen und konzentrierte sich auf zwei hervorragende Musikerinnen in der Bassgruppe, Roxana Neacsu (Cembalo) und Christine Vogel (Violone).

Milo Machover öffnet einen Himmel voller Gamben

Zwischen den Exerzitien eines weisen Erduldens von Höllenqualen in heiterer Gelassenheit erlebte man auch einen Ausblick in einen Himmel voller Gamben: In allen Kulturen versuche man, über seine Singstimme mit Gott zu kommunizieren, erzählte Ensembleleiter Milo Machover zur Einführung. Im Salve regina à 6 in alternatim von Jacob Obrecht (1457–1505) sangen die sechs Gambisten zunächst jede Gebetszeile gemeinsam, um sie dann im Instrumentalspiel zu vertiefen und vermittelten eine Grundfunktion von Musik überhaupt: eine über Konfessionen erhabene „Religio“ an etwas, das mehr ist, als das einzelne Ich.

Die wohl intensivste Abhärtung für die Musikerhölle voller Blockflöten ist wohl die, selbst Blockflöte zu unterrichten. Das All Recorder Teachers Consort spielte auf zylindrisch gebohrten Renaissance-Blockflöten, die, im Gegensatz zu den konisch gebohrten Barockblockflöten, in der Tiefe sonor und in der Höhe fragil klingen. Mit dieser Option ist es in der Hölle für Musiker vielleicht dann doch nicht so schlimm.

DORIS KÖSTERKE

 

08.07.2018

Zwei Pole: Tianwa Yang und Albrecht Mayer

im Fokus des Rheingau Musik Festivals

 

 

Bald sah man nur noch auf Geigerin Tianwa Yang. Obwohl Oboist Albrecht Mayer, Artist in Residence beim diesjährigen Rheingau Musik Festival und Quartettpartner an diesem Abend im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg, sicher nicht unbeteiligt war an den spürbar geschärften Phrasierungen, die dem „Phantasy Quartet“ für Oboe, Violine, Viola und Violoncello op. 2 (1932) von Benjamin Britten musikantisches Feuer verliehen. Zwischen diesen beiden starken Polen konnten Bratscherin Liisa Randalu und Cellist Gabriel Schwabe nicht mehr als vermitteln, vor allem intonatorisch. Detailfreudig ausgestaltet überzeugte Mozarts Quartett für Oboe, Violine, Viola und Violoncello F-Dur KV 370 mit schelmischer Galanterie, etwa schmusenden Vorhalten und schalkhaftem Ausweichen.

Höhepunkt des Abends war die Sonate für Violine und Violoncello von Maurice Ravel, gespielt von Tianwa Yang und Gabriel Schwabe. Der erste Satz ein schwerelos verspielter melodiöser Schönklang, der zweite voll herzhafter Folklorismen, der langsame dritte in einem Pianissimo, dass es schien, als wage im Saal niemand mehr zu atmen. Die erzeugte Spannung entlud sich voll Temperament in den rhythmischen Delikatessen des Finalsatzes.

Ein weiterer Leckerbissen waren Albrecht Mayers Worte über das „Fantasy Quartet“ von Ernest John Moeran (1894-1950): Man spürte am Tonfall, dass er nicht meinte, was er sagte. Alles andere war Schillern. Auch, als Mayer nachschob, er meine seine Beschreibung keineswegs sarkastisch, sondern nur ironisch. Und in der nachgeschobenen „Hommage“ an Simon Rattle, nach 19 Jahren mit einem englischen Sir als Chef vermöge man nicht mehr zwischen Ironie und Sarkasmus zu unterscheiden. Das musikantische Stimmungsbild war wohl ins Programm geraten, weil es so viele Originalkompositionen für Oboe nicht gibt. Zugabe war das Rondo aus dem Oboenquartett von Gordon Jacob.

Seinen zweiten Konzertabend gestaltete Albrecht Mayer im Kreuzgang von Kloster Eberbach zusammen mit seinem Orchesterkollegen Andreas Ottensamer, Solo-Klarinettist bei den Berliner Philharmonikern, sowie der Kammerakademie Potsdam. Konzertmeisterin Yuki Kasai koordinierte die allein aus sich heraus mit Leidenschaft und Begeisterung agierenden Musiker. Dass Andreas Ottensamer so tat, als würde er das Orchester dirigieren, wann immer ihm sein Spiel auch nur eine Hand frei ließ, war eher Gymnastik zur Musik. Um wirklich den Orchesterklang zu modellieren, wie es Albrecht Mayer mit einer nahezu unmerklichen Handbewegung zu Beginn des für Klarinette und Englischhorn bearbeiteten Concertino für Klarinette und Fagott op. 47 von Franz Danzi gelang, fehlte Ottensamer der energetische Kontakt zu den Musikern.

Hätten schärfere Konturen die Musik vertiefen können? Angesichts der Wiederholungsseligkeit der Stücke, neben dem erwähnten noch Mozarts Sinfonie Nr. 12, das „Darmstädter Konzert Nr. 1“ für Klarinette und Orchester von Carl Philipp Stamitz und die Sinfonie Nr. 49 von Christian Cannabich, verneinte man diese Frage. Der Reiz des Abends lag im Atmosphärischen und im Klang der virtuos geblasenen Rohrblattinstrumente.

DORIS KÖSTERKE

Konzerte am 4. und 5.07.2018

Die Wahre Freundschaft des Andreas Scholl

„Freundschaft“ ist der Leitgedanke des Rheingau Musik Festivals 2018. Wahre Freundschaft bewies Andreas Scholl: Er kam gerade von einer Asien-Tournee zurück. Sein Töchterchen genoss es, endlich wieder mit Papa zu schmusen. Da kam ein Anruf vom Rheingau Musik Festival, Vesselina Kasarova sei erkrankt, ob er nicht ihr Konzert in der Basilika von Kloster Eberbach übernehmen könne. Dafür müsse er noch in Rom mit dem Ensemble proben. Alles binnen 48 Stunden. Und Scholl sagte zu.

Das Repertoire der Mezzo-Sopranistin und des Countertenors überschnitt sich sogar ein wenig, so dass das Programm nicht komplett umgestellt werden musste. Tapfer kämpfte sich der Sänger in Händels „Verdi prati“ durch die Übermacht der Instrumentalisten bis zum strahlend aufblühenden Spitzenton.

Zuvor, in Vivaldis Sinfonia aus der Oper „La verità in cimento“ RV 739, hatten die elf Instrumentalisten des Concerto de‘ Cavalieri spürbare Überraschungen mit der Akustik erlebt, in der die Mitwirkenden selbst einander oft nicht hören. Trotz klarer Leitung durch Marcello Di Lisa kam es zu wiederholten Verirrungen bei der Koordination. In der Verzögerung, mit der er ein auskomponiertes Schluss-Echo nachlieferte, zeigte der promovierte Altphilologe klug kalkulierten Humor. Im Concerto grosso D-Dur op. 6 Nr. 4 von Arcangelo Corelli schälte sich der melodiöse Fluss aus den Klangsäulen des Beginns, wie zarte Rankpflänzchen aus verwittertem Gemäuer. Die langsamen Sätze wirkten als eindringliche besinnliche Klangreden. Der Finalsatz war ein jubelndes Sich-Umeinander-Winden der Geigen von Federico Guglielmo und Alessia Pazzaglia. In Vivaldis Concerto für Streicher in D-Dur RV 121 ließen die originell klangmalerischen Verzierungen des Konzertmeisters aufhorchen. In langsamen Sätzen zeigten die Musiker ihre Vertrautheit mit dem musikalischen Weinen und Seufzen nach der barocken Affektenlehre. In scharfen Laut-Leise-Kontrasten beeindruckten sie mit ihrer Präsenz, in rasanten Sturm- und Gewitterstimmungen zeigten sie fast zu viel Virtuosität.

Die Stimme von Andreas Scholl (wie auch die seiner Schwester Elisabeth) entfaltet ihr einzigartiges Charisma am schönsten in langsamen Sätzen, an diesem Abend etwa in Händels Arie „Dove sei, amato bene“. Statt die Melodie, wie es schon zur Barockzeit oft passierte, im Da Capo mit Verzierungen zu überfrachten, hat Andreas Scholl sie frei umsungen, in der Schlusskadenz gelassen dem Nachhall lauschend und mit ihm spielend. Nach Verklingen des Schlusstons bemühten alle Musiker sich deutlich, die Spannung weiter zu halten, die jedoch vom begeisterten Beifall zertrümmert wurde.

Andreas Scholl sang alles auswendig, mit freiem Blick ins Publikum und lebhaft darstellendem Spiel und leidenschaftlicher Präsenz. Die intonatorische Freizügigkeit seiner Koloraturen in Händels “Empio, dirò, tu sei” mochte, ebenso wie ein gelegentlich unkontrolliertes Umkippen tiefer Einzeltöne in die Männerstimme, vorangegangenen Strapazen geschuldet sein.

Zugabe war Händels “Ombra Mai Fù”, beginnend mit einem groß angelegten Schwellton, in dem Andreas Scholl das charismatische Timbre seiner Stimme voll zur Geltung brachte. Bravos und Jubel für den Sänger, dessen Töchterchen wach geblieben war, um jetzt endlich mit ihrem Papa zu schmusen.

DORIS KÖSTERKE

 

27.06.2018

Giuliano Carmignola und die wilden 13

Eine Virtuosität, in der Geigenstriche zu perkussiven Mustern verflirren, war das Markenzeichen des Venice Baroque Orchestra bei den Frankfurter Bachkonzerten im Großen Saal der Alten Oper. Die 13 Musiker, vom ersten Geigenpult aus geleitet von Gianpiero Zanocco, begannen mit dem verhaltenen Adagio im Concerto grosso „La follia“ Nr. 12 d-Moll op. 5 von Francesco Geminiani, wohl, um ihr teutonisch-erdenschweres Publikum nicht zu überbranden, sondern aus seiner mutmaßlichen Trägheit abzuholen. In ihren Reihen durften nur die Cellisten sitzen und die einzigen beiden Damen lediglich bratschen. Im Vergleich zu deutschen Akademikerbarockmusikern schienen sie auf weniger Wert auf das minutiöse Ausformen einzelner Motive zu legen als auf das Gestalten größerer Spannungsbögen: Man spürte klar definierte Zielpunkte, um die herum auch Tempo und Dynamik an- und abschwollen wie eine Meeresbrandung. Im Anziehen des Tempos und einem gezielten Ausbremsen schienen auch humoristische Wirkungen beabsichtigt: Vorhalte wurden wie Honig gezogen und überraschend aufgewickelt oder, in langsamen Sätzen, schmusig ausgekostet. Mit diesen Kunstgriffen verabreichten sie ihrem Publikum die wohl wirksamste psychodelische Droge der Barockmusik, Variationen über das Follia-Thema, die durch alle Stimmungslagen auf der Klaviatur menschlicher Affekte spielen, vom Weltschmerz zum musikalischen Prosecco-Rausch, von magnetischer Verhaltenheit zu überraschend umwerfenden Energiewellen, strategisch perfekt geplant, in vollkommener Abstimmung aufeinander, wenn auch nicht im sentimentalen Sinne „erfüllt“.

Für Vivaldis Concerto für zwei Violinen, Streicher und Basso continuo a-Moll RV 523 gesellte sich Giuliano Carmignola zum Ensemble, um im besten Sinne des Wortes mit Gianpiero Zanocco um die Wette zu geigen, draufgängerisch mit dem Fuß aufstampfend und gelegentlich Quietschen und freizügige Intonation in Kauf nehmend. Die Nähe zu einer Zirkusnummer schien vom Komponisten beabsichtigt.

Wohl als Tribut an die Gastgeber spielten das Ensemble und Giuliano Carmignola noch drei Solokonzerte, BWV 1056, BWV 1041 und BWV 1042 von Bach in unsentimental rauschender italienischer Übersetzung.

Die rasanten Zugaben stammten beide von Vivaldi, die erste aus dem Violinkonzert C-Dur „Il piacere“, die zweite aus dem „Sommer“.

 

DORIS KÖSTERKE

08.06.2018

Die Kleine Kammermusik für Telemann

Ob die neue Konzertreihe Die Kleine Kammermusik mit ihrem Fokus auf das solistische und kammermusikalische Schaffen von Georg Philipp Telemann tat­sächlich eine „echte Lücke“ im Frankfurter Kulturleben schließt, wie ihre Initiatoren behaupten? Die Lokalverbundenheit der über den Crowd­funding-Wettbewerb „kulturMut“ ermöglichten Initiative – einerseits über den in Frankfurt „groß“ gewordenen Kompo­nisten, andererseits über Musiker, die „stark mit Frankfurt und miteinander“ verbunden sind, liegt in jedem Fall im Trend.

Dass hier Menschen zu Menschen gekommen waren, die sie kannten und mochten, zeigte im „Von Freundschaft und Glück“ überschriebenen ersten Konzert der Reihe in der Alten Nikolaikirche der üppige, außergewöhnlich wohlwollende Applaus, unter dem die jungen Musiker zusehends an Sicherheit und Ausstrahlung gewannen.

In der Flötensonate Nr. 2 A-Dur spürte man, wie Johannes Berger (Barockcello) und Jürgen Banholzer (Cembalo/Orgel) mit dem Solisten Christian Prader (Traversflöte) atmeten und wie insbesondere der Cellist den musikalischen Verlauf durch mutige Widerreden befeuerte. Die Sonate stammte aus den Methodischen Sonaten, die (anders als heutige Instrumentalschulen) den musi­kalischen „Liebhabern“ vor allem zeigten, wie man eine vorgegebene Melodie im barocken Sinne verziert.

Die Klammer des Konzertes bildete die in verschiedenen Folgen der Zeitschrift „Der getreue Music-Meister“ erschienene Cello­sonate in D-Dur. Weil die Sonate in lockerer Folge er­schie­nen war, verteilte auch Johannes Berger sie über das gesamte Konzert, jeweils als Vor­spiel zu den von Verena Gropper (Sopran) gesungenen Kanta­ten und Opernarien. Das Erscheinen in Fortsetzungen gab musikalischen Liebhabern die Möglichkeit, einen Satz nach dem anderen zu üben. Telemanns Vorteil lag darin, dass die „Sammler“ seiner Sonate der Zeitschrift zumindest für einige Nummern als Kunden treu blieben.

Noch ohne Ablenkung durch Online-Spiele erreichten die „Dilettanten“ oft ein erstaunliches Niveau, zumal sie sich dem Instrumentalspiel mit allen bürgerli­chen Tugenden, wie Ausdauer, Fleiß und Redlichkeit widmeten, denen Telemann – nicht ohne Augenzwinkern – seine Morali­schen Kantaten gewidmet hat, von denen Verena Gropper einige sang.

Die Zugabe, das Da Capo der Arie „Komm, oh Schlaf“ aus der Oper „Germanicus“, sang Verena Gropper auswendig. Mit freien Bli­cken ins Publikum vermittelte sie endlich auch das Augenzwinkern in Telemanns Musik. Endlich warmgesungen und spielerisch frei nahm sie restlos für sich ein.

DORIS KÖSTERKE

6.6.18

Umwelt beobachten, um sich selbst zu verstehen

Komponistin Carola Bauckholt und Lyriker Jan Wagner

beim Werkstattkonzert „Happy New Ears“

 

Im Kies beim Kirschbaum knirscht der Giersch – Jan Wagner. Und allerorts raschelt die Goretexjacke – Carola Bauckholt: Im jüngsten Werkstattkonzert des Ensemble Modern im Holzfoyer der Oper sprach der Lyriker mit der Komponistin über den Klang der Welt. Über die konkreten, wie in den Bewegungen von Tieren, die Carola Bauckholt in ihrer Komposition „Treibstoff“ auf Instrumente übertragen hat. Über die Werkzeugklänge, die ihre vergnüglich aufgeführte Komposition „Schraubdichtung“ für Sprechstimme (Paul Cannon), Cello (Eva Böcker), Kontrafagott (Johannes Schwarz) und Schlagzeug (Rumi Ogawa) inspiriert haben. Über die noch konkreteren, die die Streicher Giorgios Panagiotidis, Megumi Kasakawa, Eva Böcker und Paul Canon im (eigentlich für Schlagquartett geschriebenen) „Hirn und Ei“ ihren Wetterschutz-Jacken entlockten: durch Reiben mit der Hand, Kratzen mit der Scheckkarte, mit Händen in die Taschen das Gewebe in Aufruhr bringend, mit Reißverschluss-Glissandi und humorerfüllter Choreographie, alles nach durchkomponierter Partitur. Auch über die vorgestellten Klänge, wie das mit einem Bein im Wasser laufende Tier im Schlagzeugpart von „Treibstoff“. Und schließlich über die verborgenen, mit denen das oben beschriebene Unkraut seinen „Tyrannentraum“ (Wagner) verwirklicht.

Die Faszination für das ganz alltägliche verbindet die 1959 geborene Komponistin und den 1971 in Hamburg geborenen Lyriker. Wobei sie sich im Gespräche darüber einig waren, dass sie die Umwelt beobachten, um sich selbst zu verstehen. Ihre Komposition „Treibstoff“, sagte Carola Bauckholt, untersuche Fragen, wie: Was treibt uns an? Was lässt uns aufhorchen? Was lässt uns anhalten?

Von früher Jugend an habe sie beobachtet, wie der „Überbau“ bröckelt, wie Visionen, Utopien und Systeme zusammenbrechen. So habe sie den Spaß und die Freude am Konkreten an die Stelle abstrakter Ideale: In ihren Kompositionen geht es kaum dramatisch zu. Eher laden sie ein, genauer auf die Klänge der Welt zu hören, um sich an ihr zu freuen.

Bauckholt nährt ihre Entdeckerfreude besonders im Bereich von tieffrequentigen Geräuschen im fruchtbaren Zusammenwirken mit Musikern, etwa mit dem Schlagquartett Köln, oder dem Thürmchen-Ensemble, das sie zusammen mit Caspar Johannes Walter gegründet hat. Und natürlich im Austausch mit anderen Komponisten: Das Scheibchen Kork, verriet sie, das ein Streicher-Pizzicato klingen lässt wie den Ton einer steel drum, hatte sie von dem Frankfurter (Internisten und) Komponisten Thomas Stiegler übernommen. Aus Freude am Zusammenwirken ermunterte sie ihren Gesprächspartner wieder und wieder, eigene Gedichte vorzulesen: das mit der Qualle, der Seife, vom Giersch. Und schließlich, als gemeinsames Statement, das Zitat von Jean Paul: Humor erniedrige das Große und erhöhe das Kleine im Hinblick auf eine Unendlichkeit, in der „alles gleich und nichts ist“.

DORIS KÖSTERKE

ARGO von José M. Sánchez-Verdú

Dramma in musica von José M. Sánchez-Verdú (2018)

Premiere am Staatstheater Mainz

Für anderthalb Stunden wird das Kleine Haus des Staatstheaters Mainz zum Bauch der Argo. Das Licht ist dämmerig. Die Klänge sind überwiegend diffus. Elektronisch weiterverarbeitet kommen sie nicht nur aus dem Orchestergraben, sondern wie von überall. In unregelmäßigen Abständen durchziehen rätselhaft tiefe Klänge den Raum und das Zwerchfell. Aus zwei gegenüberliegenden Logen tönen Oboe und Englischhorn. Ihr zusätzlich live-elektronisch verschmolzener Zusammenklang, hatte Dramaturgin Ina Karr verraten, sei dem antiken Aulos nachempfunden. Von hinten tönt eine Sopranistin. Ihre Worte sind unverständlich und sollen es auch sein, um Musik zu bleiben. Reisegenossen auf der an einen Lattenkäfig erinnernden Bühne sind (neben dem choreographisch anspruchsvoll geführten Chor) Anführer Jason (Martin Busen), Orpheus (klangschön: Altus Alin Deleanu), der den Gesang der Sirenen mit eigenem überdröhnt. Dann, dank einer Mythenverschränkung in der literarischen Vorlage, auch Odysseus (Brett Carter), der der Besatzung die Ohren verstopft und sich fesseln lässt, um den Gesang der Sirenen zwar zu hören, ihm aber nicht zu folgen. Und Butes, der beim Gesang der Sirenen ins Meer sprang. (Dass Göttin Kypris ihn vor seinem sicher scheinenden Tod retten wird, weiß am Ende dieses Stückes nur der Zuschauer). Pascal Quignard hat Butes ein Buch gewidmet, das den Komponisten José M. Sánchez-Verdú zu seinem „Dramma in musica“ ARGO inspiriert hat. Als Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz wurde „ARGO“ bei den diesjährigen Schwetzinger SWR Festspielen uraufgeführt und hatte nun in Mainz Premiere.

„Dramma in musica“ heißt, dass Sánchez-Verdú das Drama sich auch in den Klängen selbst abspielen lassen will. Szenisch ist das Stück stark ausgedünnt, vieles auf Schattenriss angelegt. Genial die pendelnde Hängeleuchte, die den Bühnen-Käfig horizontal zum Schwanken bringt (Inszenierung: Mirella Weingarten, Licht: Ulrich Schneider, Ausstattung: Etienne Pluss). Im Nixenkostüm mit gut zweimeterlanger Mähne ist Sopranistin Maren Schwier mal Aphrodite, mal Sirene, mal Medea. Am profiliertesten war Jonathan de la Paz Zaens als sich mehr und mehr dem Wasserspiegel im Zentrum der Bühne nähernder Butes.

Alle Mitwirkenden unter der Leitung von Hermann Bäumer leisten Außerordentliches beim Vermitteln ihrer Rollen in der ungewohnten Klangsprache. Die nahtlosen Übergänge der Klänge, etwa von Flöte und Windmaschine oder Frauenchor und Blechbläsern, verraten viel Kleinarbeit des SWR Experimentalstudios mit dem Komponisten und den Mainzer Musikern. Als Zuhörer spürt man vor allem, wie die meist flächigen, Klänge den Adrenalinspiegel steigen und sinken lassen.

Der in Algeciras geborene Komponist, hatte die Dramaturgin in der Einführung erzählt, fühle sich eher einer arabischen Erzähltradition nahe, die die Bezüge zur Gegenwart nicht explizit herausarbeitet, sondern in poetischer Schwebe lässt. So lässt das Stück wahrscheinlich noch andere Deutungen offen als diese: Butes wollte um jeden Preis da raus.

DORIS KÖSTERKE

20.05.2018