Manos Tsangaris zu „PYGMALIA“

Manos Tsangaris (*1956) hat für PYGMALIA Musik, Text, Licht, Ton, und Szene durchkomponiert und ist gleichzeitig Regisseur. – Foto von Fabian Stürtz.

 

Frankfurt. Pygmalia schafft sich den idealen Mann. Im gleichnamigen Musiktheaterstück von Manos Tsangaris ist sie Videokünstlerin. Und Bildhauerin, analog zu ihrem mythologischen Vorbild Pygmalion, der sich in sein eigenes Werk so sehr verliebte, dass die Liebesgöttin Venus sich erbarmte und die Statue zum Leben erweckte. …weiterlesen

Musik und Literatur: Hermann Kretzschmar

„Tatsächlich gibt es Wesen, und das war für mich seit meiner Jugend der Fall, für die alles, was einen bestimmten, für andere feststellbaren Wert besitzt, Vermögen, Erfolg, berufliche Stellung, nicht zählt. Was sie brauchen, sind Phantome. Sie opfern den ganzen Rest. Sie setzen alles ins Werk. Stellen alles andere dahinter zurück, um einem solchen Phantom zu begegnen. Doch dieses verflüchtigt sich einstweilen“ – Worte von Marcel Proust in der jüngsten „Wort/Musik-Komposition“ Phantome von Hermann Kretzschmar. Frage an den Komponisten: „Darf man Prousts Worte als Statement aus Ihrem eigenen Künstlerleben verstehen?“ – „Ich will meine Musik dem Text nicht unterordnen. Eher den Gehalt des Textes weitertragen, über ihn hinausgehen“, stellt der Komponist klar.

Viele kennen Hermann Kretzschmar als einen der beiden Ausnahme-Pianisten des Ensemble Modern. „Wenn Sie mich fragen würden, wer mein Kompositionslehrer war, würde ich antworten: die langjährigen und zahlreichen Erfahrungen als Ensemble Modern-Mitglied“.

Dem in Frankfurt beheimateten Solisten-Ensemble für zeitgenössische Musik gehört er seit 1985 an und die Aufmerksamkeit hängt an dem Zahlendreher, der diese Jahreszahl mit seinem Geburtsjahr, 1958, verbindet.

„Loslassen!“, sagt Kretzschmar. „Loslassen, um sich etwas Neuem zu widmen, ist mir ganz wichtig. Die Phantome, über die Proust spricht, sind wie eine künstlerische Idee, die man ganz deutlich vor sich sieht. Aber wenn man sie dingfest machen will, verschwindet sie. Oder wie absolute Aspekte im Leben. Die lassen einen im Stich, verschwinden. Man kann nichts festhalten“.

Sein jüngstes Hörspiel, Phantome, fußt auf seiner Musik zum Hörbuch (2018) von Prousts „Sodom und Gomorrha“, dem vierten Roman aus dessen Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Die Textstellen, die darin vorkommen, erzählt Kretzschmar, „sind wie Eisberge: nur ihre Spitzen ragen aus der Musik heraus. Darunter wirken sie weiter“.

„Literatur und Musik haben mich seit der Schulzeit beschäftigt“, erzählt der zwischen Moor und Heide Aufgewachsene.

Unter seinen Werken sind auffällig viele literaturgebundene oder zumindest literaturmotivierte Hörstücke. Zusammen mit dem Regisseur Leonhard Koppelmann legte er etwa bei Thomas Manns Doktor Faustus Hand an, um die rund 650 Romanseiten auf rund 270 Seiten Skript für ein zehnstündiges Hörspiel zu reduzieren. Die Textfassung des Hörstücks Sodom und Gomorrha besorgte er zusammen mit dem SWR-Dramaturgen Manfred Hess, mit dem ihn eine langjährige, fruchtbare Zusammenarbeit verbindet. „Wenn es um das Erstellen der Hörfassung eines Romans geht, bin ich außer als Komponist sehr gerne auch als Textbearbeiter involviert. Denn manche Textstellen verbinden sich in mir spontan mit Musik. Das fände ich dann schade, wenn die rausfielen oder verändert würden“, sagt Kretzschmar.

Spontane Verbindungen mit Musik stellten sich in „Sodom und Gomorrha“ etwa für die zahlreichen Leitmotive ein, mit denen Proust arbeitet. Für sie komponierte Kretzschmar rund hundert verschiedene musikalische Module, die auf bestimmte Personen, Situationen oder gesellschaftliche Ereignisse hinweisen. Wiederholt erkennbar ist die Eisenbahnstrecke. Anleihen an der Musikgeschichte lässt Hermann Kretzschmars Tonsprache ebenfalls erkennen. Etwa übersetzte er den Umkreis der Salons in eine Permutation von Chopins posthum veröffentlichten As-Dur-Walzer.

Neuer Aufhänger für „Phantome“ gegenüber „Sodom und Gomorrha“ ist ein ausgedehntes Zitat von Jean Racine aus dessen Phèdre, darunter die Sätze: „Auf Reichtum, Gold stütze dich nimmer“, oder „Die Zahl unsrer Jahre ist ungewiss. Darum eilen wir uns heut noch, uns des Lebens zu freu’n.“ Im ersten Buch von „Sodom und Gomorrha“ misst Proust diesem Zitat auf dem Weg zu seiner Selbstfindung eine ähnlich zentrale Bedeutung zu, wie seinem Schlüsselerlebnis mit dem sprichwörtlich gewordenen Gebäck Madeleine. Insgesamt viermal in verschiedenen Stimmungen rezitiert oder gesungen durchzieht das Racine-Zitat das Hörstück wie Pfeiler einer Brücke. „Die einzige Musik, die bruchstückhaft immer wiederkehrt, sind die sogenannten ‚Phantom-Splitter‘, flatterhaft wie ein Gespenst, ohne feste Tonhöhen notiert, vage, manchmal Bläsern, manchmal Streichern überlassen, manchmal in den Klang einer singenden Säge mündend“, erzählt Kretzschmar.

Das Inhaltliche der Texte, mit denen Kretzschmar sich beschäftigt ist beim Schreiben seiner Musik stets präsent. Für das Komponieren orientiert er sich jedoch eher an formalen Aspekten der Vorlage. Daraus entwickelt er ein auf mehreren Ebenen durchkonstruiertes Gerüst für seine Komposition. Die verschiedenen Ebenen von Text und Musik sind mal gegenläufig, mal Hintergrund, mal treffen sie zusammen. „Der Glockenton nach dem Satz ‚Sie hat ihre eigenen Türglocke‘ hat sich zufällig aus dem Gegeneinander verschiedener Konstruktionsschichten ergeben. Er hat mir gefallen, so hab ich ihn gelassen“, erzählt er. „Manchmal sehe ich aber mein Konstrukt auch skeptisch und gebe ihm eine ganz andere Richtung“. Im Hörspiel „Phantome“ sind es etwa die von einer Sprecherin eingeworfenen Zahlen oder Begriffe, wie Entrelude, Coda oder Reprise: Sie scheinen das Ganze gliedern zu wollen, werden jedoch ad absurdum geführt und gewinnen eben dadurch aus dem Ganzen wieder ihren Sinn: als klangliche Versinnlichung des von Proust thematisierten Zustands zwischen Schlafen und Wachen. Vor allem des Schlafes. Als Hort aller Erinnerungen, die, wie Proust einräumt, vielleicht weit vor unser menschliches Leben zurückreichen. Darin sind die Phantome als klare (platonische) Ideen präsent und flattern nicht mehr davon.

Doris Kösterke

 

 

Das Hörstück „Phantome“ hatte Ende Januar Premiere und ist in der Mediathek des SWR2 abrufbar.

https://www.swr.de/swr2/hoerspiel/phantome-swr2-hoerspiel-studio-2021-01-28-100.html.

Oder

https://www.audiolibrix.de/en/Podcast/Listen/1231489/hermann-kretzschmar-phantome

Megumi Kasakawa spielt David Fennessy

Gespenstisch: Auf der noch leeren Bühne standen Plexiglas-Schirme vor den Pulten der Bläser. Als Schutz der Mitspieler vor einem Ausstoß von Aerosolen, der nach musikmedizinischen Studien gar nicht zu erwarten ist. Ein Stapel Küchenkrepp wartet auf die Entwässerung des Horns. Kein Zweifel: das Team des Frankfurt LAB hat keine Mühe gescheut, die Spielstätte für das erste Live-Konzert des Ensemble Modern nach zweieinhalb Monaten Isolation Corona-fest zu machen. Das ursprünglich für ein Abonnementkonzert in der Alten Oper geplante Programm hatte man zugunsten von personell reduzierten Stücken geändert, auf eine Stunde kondensiert und, um unter den Abstandsgeboten keinen Hörwilligen ausschließen zu müssen, dreimal hintereinander gespielt.

Was für eine Leistung der Musiker! Und welches Fest, sie wieder zu erleben, wie sie über das präzis koordinierende und herausfordernde Dirigat von David Niemann hinaus aufeinander hörten, mit ihren Blicken den engen Bezug zu dem jeweiligen Kollegen unterstreichend, dessen Impuls sie weiterführten, in dessen Klang sie sich einschmiegten, um ihn umzufärben.

Die Deutsche Erstaufführung von Baca II (2019) von Nina Šenk bestach durch ihre klare Materialordnung: In allen, teils dramatischen Entwicklungen meinte man das Ausgangsgangsmaterial „PunktPunktPunkt – großes Amalgam – hinausweisende Linie“ wiederzuerkennen. Die Komponistin hat es analog zum Fertigen einer Glasperle (Baca) im Zusammentragen verschiedener Erden, dem Verschmelzen und dem sorgsamen Abkühlen gewählt. Im Bild der Glasperle sieht Šenk die Dualität aus Zerbrechlichkeit und Stärke gespiegelt, die sie ausdrücklich auf die Position von Frauen in der Gesellschaft bezieht.

“The double mingles of elements” (2017/2018) von Klaus Ospald glich einem Kaleidoskop sorgsam modellierter Klangzu­stände, die sich mitunter wie schwüle dicke Luft im Raum zusammenballten und von echauffierten Soli zerrissen wurden. Eindrucksvoll gebot Dirigent David Nieman ein stilles Lauschen, bis ein in den Flügelsaiten (Kult: Hermann Kretzschmar) nachhallender Klarinettenaufschrei (mit vollem Einsatz: Jaan Bossier) verklungen war.. Das wäre ein hintersinniger Schluss gewesen. Aber das Stück ging noch etwa zwei Drittel so lang weiter. Immerhin mit plastischen Klangbildern, die man etwa als Aufprall mit Stoßwelle samt Staubwolke interpretieren konnte.

Seine Deutsche Erstaufführung erlebte das Bratschenkonzert „Hauptstimme“ (2013) von David Fennessy mit Megumi Kasakawa als unerschrockener, auch szenisch ansprechend agierender Solistin. Viele seiner jüngsten Werke, schrieb Fennessy im Programmtext, „konzentrieren sich auf das Konzept des Individuums und darauf, was es zu einer Gruppe beitragen kann“.

Das Stück begann wie ein vom Schlagzeug (Rainer Römer) eingeheizter Groove. Zum Draufsetzen, aber ohne Wohlfühlfaktor. Mehr und mehr „Aussteigern“ lassen die ruhig agierende Solistin im Dialog mit dem nach wie vor einpeitschenden Schlagzeug zurück. Schließlich schweigt auch das Schlagzeug. Die Solistin spielt ruhige Arpeggien, die zunächst unspektakulär wirken. Doch mehr und mehr hört man sich in ihre wohltuende Sonorität ein und erkennt wieder, was der 1976 geborene Ire 2007 sagte, als er Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie war: Er stelle sich in jedem seiner Stücke vor, wie es sich anfühlt, es zu spielen. Sein Ziel: etwas hervorrufen, das er, in Abgrenzung zu einer äußeren Virtuosität, als mentale Virtuosität, als Intensität beschreibt. – Durch die Brille der Corona-Erfahrungen betrachtet eine neue, zuvor unterschätzte Qualität.

Zum Abschluss konterte Megumi Kasakawa den Fußtrittgruß des Dirigenten, der derzeit Küsschen und Knuddeln ersetzen muss, präzis koordiniert auf filigranen High Heels.

DORIS KÖSTERKE
24.5.2020

http://www.sokratia.de/innere-virtuositaet-bei-david-fennessy/

 

Ensemble Modern spielt Frank Zappa

Frank Zappas letzte Band: Die Zusammenarbeit mit dem Rock-Avantgardisten war das wohl breitenwirksamste Projekt im demnächst vierzigjährigen Bestehen des Ensemble Modern. Mit einem Sonderkonzert zu seinem Gedenken brachte das Frankfurter Ensemble den Großen Saal der Alten Oper zum Toben.

Das erste Stück, „Dog / Meat“ aus dem gemeinsam erarbeiteten Projekt „The Yellow Shark“ (1991-93) klang noch wie mit Minimal Music gewürztes Hollywood. Doch in den folgenden ausgewählten Stücken spürte man das rege Interesse, das die Rocklegende der musikalischen Avantgarde seiner Zeit entgegengebracht und für sich fruchtbar gemacht hatte: Als, zum Beispiel, in „Outrage of Valdez“ manche Tutti-Effekte klangen, wie ins Orchestrale übersetzte Gongschläge samt ihrer Klang-Entwicklung im Nachhall, schien von Edgard Varèse inspiriert. Der atavistische rhythmische Sog in „G-Spot Tornado“ erinnerte an Strawinsky, das schwerelos pointilistische Klanggemälde „Ruth is sleeping“, an zwei Flügeln gespielt von Hermann Kretzschmar und Ueli Wiget, an Anton Webern. Und gleichzeitig an einen klaren Gebirgsbach mit Kaskaden aus Eiswürfeln.

Mehr noch im zweiten Teil des Abends, in Stücken aus dem Album „Greggery Peccary & Other Persuasions“, schienen die enorm farbigen, mitunter an Außerirdisches erinnernden Klänge des Abends nicht zu­letzt auch das Werk des Klangregisseurs Norbert Ommer: dank seiner Arbeit konnten Harfe (Ellen Wegner) und Tuba (Jozsef Juhasz) oder Geige (Jagdish Mistry) und Trompete (Sava Stoianov) einander in ihren Duos akustisch auf Augenhöhe begegnen.

Der Gesamtklang des um einige Gäste auf 29 Musiker verstärkte Solisten-Ensemble war wunderbar transparent, ein großes Verdienst auch von Ali N. Askin, der die überwiegend als Synclavier-Dateien überlieferten Kompositionen von Frank Zappa für Ensemble arrangiert hat. Die packenden Soli waren von den Musikern selbst improvisiert.

So sympathisch anti-hierarchisch es ist, wenn Zupfinstrumente (Mandoline – Detlef Tewes, Banjo – Jürgen Ruck und Gitarren – Steffen Ahrens, Christopher Brand) sich mühelos im Orchester behaupten: außerhalb von Soli und kammermusikalischen Abschnitten wurde es sehr laut. Der Majorität des Publikums schien gerade das zu gefallen. Die Rezen­sentin, von den Beats zermürbt wie ein weichgeklopftes Schnitzel, verließ das Konzert nach der dritten Zugabe, die offensichtlich nicht die letzte war (die Musiker hatten nicht mitgezählt), durchaus angetan von den Rhythmen, Klängen und überzeugt von der der Qualität der Musik. Aber auch überzeugt, dass die vielbeklagte Verrohung unserer Gesellschaft durch die Lautstärke ihrer Popularmusik zumindest mitbedingt ist.

DORIS KÖSTERKE
29.11.2019