Musik und Literatur: Hermann Kretzschmar

„Tatsächlich gibt es Wesen, und das war für mich seit meiner Jugend der Fall, für die alles, was einen bestimmten, für andere feststellbaren Wert besitzt, Vermögen, Erfolg, berufliche Stellung, nicht zählt. Was sie brauchen, sind Phantome. Sie opfern den ganzen Rest. Sie setzen alles ins Werk. Stellen alles andere dahinter zurück, um einem solchen Phantom zu begegnen. Doch dieses verflüchtigt sich einstweilen“ – Worte von Marcel Proust in der jüngsten „Wort/Musik-Komposition“ Phantome von Hermann Kretzschmar. Frage an den Komponisten: „Darf man Prousts Worte als Statement aus Ihrem eigenen Künstlerleben verstehen?“ – „Ich will meine Musik dem Text nicht unterordnen. Eher den Gehalt des Textes weitertragen, über ihn hinausgehen“, stellt der Komponist klar.

Viele kennen Hermann Kretzschmar als einen der beiden Ausnahme-Pianisten des Ensemble Modern. „Wenn Sie mich fragen würden, wer mein Kompositionslehrer war, würde ich antworten: die langjährigen und zahlreichen Erfahrungen als Ensemble Modern-Mitglied“.

Dem in Frankfurt beheimateten Solisten-Ensemble für zeitgenössische Musik gehört er seit 1985 an und die Aufmerksamkeit hängt an dem Zahlendreher, der diese Jahreszahl mit seinem Geburtsjahr, 1958, verbindet.

„Loslassen!“, sagt Kretzschmar. „Loslassen, um sich etwas Neuem zu widmen, ist mir ganz wichtig. Die Phantome, über die Proust spricht, sind wie eine künstlerische Idee, die man ganz deutlich vor sich sieht. Aber wenn man sie dingfest machen will, verschwindet sie. Oder wie absolute Aspekte im Leben. Die lassen einen im Stich, verschwinden. Man kann nichts festhalten“.

Sein jüngstes Hörspiel, Phantome, fußt auf seiner Musik zum Hörbuch (2018) von Prousts „Sodom und Gomorrha“, dem vierten Roman aus dessen Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Die Textstellen, die darin vorkommen, erzählt Kretzschmar, „sind wie Eisberge: nur ihre Spitzen ragen aus der Musik heraus. Darunter wirken sie weiter“.

„Literatur und Musik haben mich seit der Schulzeit beschäftigt“, erzählt der zwischen Moor und Heide Aufgewachsene.

Unter seinen Werken sind auffällig viele literaturgebundene oder zumindest literaturmotivierte Hörstücke. Zusammen mit dem Regisseur Leonhard Koppelmann legte er etwa bei Thomas Manns Doktor Faustus Hand an, um die rund 650 Romanseiten auf rund 270 Seiten Skript für ein zehnstündiges Hörspiel zu reduzieren. Die Textfassung des Hörstücks Sodom und Gomorrha besorgte er zusammen mit dem SWR-Dramaturgen Manfred Hess, mit dem ihn eine langjährige, fruchtbare Zusammenarbeit verbindet. „Wenn es um das Erstellen der Hörfassung eines Romans geht, bin ich außer als Komponist sehr gerne auch als Textbearbeiter involviert. Denn manche Textstellen verbinden sich in mir spontan mit Musik. Das fände ich dann schade, wenn die rausfielen oder verändert würden“, sagt Kretzschmar.

Spontane Verbindungen mit Musik stellten sich in „Sodom und Gomorrha“ etwa für die zahlreichen Leitmotive ein, mit denen Proust arbeitet. Für sie komponierte Kretzschmar rund hundert verschiedene musikalische Module, die auf bestimmte Personen, Situationen oder gesellschaftliche Ereignisse hinweisen. Wiederholt erkennbar ist die Eisenbahnstrecke. Anleihen an der Musikgeschichte lässt Hermann Kretzschmars Tonsprache ebenfalls erkennen. Etwa übersetzte er den Umkreis der Salons in eine Permutation von Chopins posthum veröffentlichten As-Dur-Walzer.

Neuer Aufhänger für „Phantome“ gegenüber „Sodom und Gomorrha“ ist ein ausgedehntes Zitat von Jean Racine aus dessen Phèdre, darunter die Sätze: „Auf Reichtum, Gold stütze dich nimmer“, oder „Die Zahl unsrer Jahre ist ungewiss. Darum eilen wir uns heut noch, uns des Lebens zu freu’n.“ Im ersten Buch von „Sodom und Gomorrha“ misst Proust diesem Zitat auf dem Weg zu seiner Selbstfindung eine ähnlich zentrale Bedeutung zu, wie seinem Schlüsselerlebnis mit dem sprichwörtlich gewordenen Gebäck Madeleine. Insgesamt viermal in verschiedenen Stimmungen rezitiert oder gesungen durchzieht das Racine-Zitat das Hörstück wie Pfeiler einer Brücke. „Die einzige Musik, die bruchstückhaft immer wiederkehrt, sind die sogenannten ‚Phantom-Splitter‘, flatterhaft wie ein Gespenst, ohne feste Tonhöhen notiert, vage, manchmal Bläsern, manchmal Streichern überlassen, manchmal in den Klang einer singenden Säge mündend“, erzählt Kretzschmar.

Das Inhaltliche der Texte, mit denen Kretzschmar sich beschäftigt ist beim Schreiben seiner Musik stets präsent. Für das Komponieren orientiert er sich jedoch eher an formalen Aspekten der Vorlage. Daraus entwickelt er ein auf mehreren Ebenen durchkonstruiertes Gerüst für seine Komposition. Die verschiedenen Ebenen von Text und Musik sind mal gegenläufig, mal Hintergrund, mal treffen sie zusammen. „Der Glockenton nach dem Satz ‚Sie hat ihre eigenen Türglocke‘ hat sich zufällig aus dem Gegeneinander verschiedener Konstruktionsschichten ergeben. Er hat mir gefallen, so hab ich ihn gelassen“, erzählt er. „Manchmal sehe ich aber mein Konstrukt auch skeptisch und gebe ihm eine ganz andere Richtung“. Im Hörspiel „Phantome“ sind es etwa die von einer Sprecherin eingeworfenen Zahlen oder Begriffe, wie Entrelude, Coda oder Reprise: Sie scheinen das Ganze gliedern zu wollen, werden jedoch ad absurdum geführt und gewinnen eben dadurch aus dem Ganzen wieder ihren Sinn: als klangliche Versinnlichung des von Proust thematisierten Zustands zwischen Schlafen und Wachen. Vor allem des Schlafes. Als Hort aller Erinnerungen, die, wie Proust einräumt, vielleicht weit vor unser menschliches Leben zurückreichen. Darin sind die Phantome als klare (platonische) Ideen präsent und flattern nicht mehr davon.

Doris Kösterke

 

 

Das Hörstück „Phantome“ hatte Ende Januar Premiere und ist in der Mediathek des SWR2 abrufbar.

https://www.swr.de/swr2/hoerspiel/phantome-swr2-hoerspiel-studio-2021-01-28-100.html.

Oder

https://www.audiolibrix.de/en/Podcast/Listen/1231489/hermann-kretzschmar-phantome