Heinz Holliger und das Singen der Dinge

 

 

Dinge singen. In einen Begriff gefasst, verstummen sie wie ein angefasster Gong. „Ihr bringt mir alle die Dinge um“, em­pörte sich der junge Rilke. Die drei Kom­positionen, die im jüngsten Abonnement­konzert des Ensemble Modern im Mozart Saal erklangen, wirkten wie konstruktive Antworten auf diese Empörung.

Im Mittelpunkt stand Heinz Holliger, der das Konzert auch dirigierte. Und sein Liederzyklus „Puneigä“ (2002), auf Gedichte von Anna Maria Bacher im „Pumatter Titsch“ – einem Dialekt, der aus dem Mittelhoch­deutschen abgezweigt ist, als seine Spre­cher sich in kaum zugänglichen Tälern am Südrand der Alpen niedergelassen hatten. In der Einführung hatten Christian Fausch und Heinz Holliger eine von der Dichterin gesprochene Aufnahme vorgestellt und vermutet, keinen bahnbrechenden Verständnisvorteil gegenüber Nichtschweizern zu haben. Aber was heißt „Verstehen“? In der Aufführung mit Juliane Banse, der Holliger die Lieder gewidmet hat, und einem siebenköpfigen Ensemble inklusive Cimbalon (laut Holliger ein Instrument, dessen zerbrechlicher Klang sich wunderbar mit anderen mischt) spürte man die Kälte winterlicher Alpen­täler, das gekonnte Leben ihrer Bewohner, samt ihrem Bewusstsein von der Endlichkeit eines Menschenlebens; die Sehnsucht des lyrischen Ichs, die Begrenzungen der körperliche Hülle zu verlassen und die Weisheit im Schluss des letzten Liedes (in der Übertragung von Karl Wanner): „aus meinem Mund käme kein missverstande­nes Wort mehr, und ich wäre frei“.

Zum folgenden Kammerkonzert „Erkundungen im Sechsteltonbereich“ des zu Unrecht verkannten Schweizer Komponisten Jacques Wildberger (1922-2006) hatte der 1939 geborene Holliger im Einführungsgespräch daran erinnert, wie stark unser temperiertes Tonsystem gegenüber den natürlichen Obertönen verbogen ist. Wenn man eine Oktave jedoch nicht in Halb-, sondern in Sechsteltöne unterteilt, wie es Wildberger in seinem Kammerkonzert tat, könne man die Naturtöne darin abbilden. Für die Aufführung war die Bühne bestückt mit Cembalo, Hammerklavier und Konzertflügel, die jeweils um einen Drittelton gegeneinander verstimmt waren. Ihnen gegenüber waren zwei Violoncelli und zwei Kontrabässe platziert, die jeweils nur Flageoletts, also natürliche Obertöne ihrer (teils leicht „verstimmten“) Saiten spielten. Zwischen den Fronten saß Hermann Kretzschmar an einem in Sechsteltönen gestimmten Synthezizer. In einem Vorspiel von ihm allein hörte man sich in diese Mikrotonwelt ein, bis man die Bewegungen darin wie „normale“ Melodien empfand. Es mochte mithin an den von Holliger angekündigten Differentialtönen liegen, dass man das Ganze klanglich als so umfassend empfand, wie eine Naturszene mit zirpenden Grillen und „mit ihnen spielenden“ Musikern.

Seit Studienzeiten ein enger Vertrauter von Heinz Holliger („Wir schicken einander noch immer unsere Skizzen“) ist György Kurtág. Seine Botschaften des verstorbenen Fräuleins R. V. Troussova op. 17 auf russische Gedichte von Rimma Dalos sind konzentrierte Miniaturen über das gesamte Spektrum einer leidenschaftlichen Liebe, mit ihren Wechselbädern aus Erwartung, Hingabe, Enttäuschung, Wut, bis zum musikalisch mehrdeutig gestalteten Schluss: „Für alles, was wir zusammen taten, bezahle ich“.

Viel Beifall für die Musiker, die Werke, das Gesamtkunstwerk Juliane Banse und Holligers Botschaft: „Musik ist die Sprache, die wir haben, wenn all unsere Worte zu Ende gekommen sind“.

DORIS KÖSTERKE
06.12.2019