Ben Kim beim Rheingau Musik Festival

„Next Generation“ – Ben Kim erhielt den LOTTO-Förderpreis

Mit einem reinen Etüden-Programm stellte sich der amerikanische Pianist Ben Kim im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg vor, bevor er den LOTTO-Förderpreis des Rheingau Musik Festivals 2017 entgegennahm. Je zwei Inventionen und Sinfonien (Nr. 12 und Nr. 14, A-Dur und a-Moll) von Johann Sebastian Bach spielte er ohne (Finger-) Pedal, mit konsequent durchhörbar gegeneinander geführten Stimmen und einem Gesichtsausdruck beim Blick auf seine Hände, der auf eine von blühender Fantasie unterstützte Mnemotechnik schließen ließ.

Mit spürbarem Vergnügen am einkomponierten Humor folgten alle sechs Études, Livre I von Debussys in Hochgeschwindigkeitspräzision. Nach dem letzten dieser aus Fingerübungen entwickelten Klangfarbengemälde erhob sich der junge Pianist mit schelmisch sprühendem Lächeln.

Die Begeisterung über seine Pianistik in Verbindung mit dem blankgeputzten Jazz-Idiom der Concert Etudes op. 40 von Nikolai Kapustin wollte sich in einem Zwischenapplaus entladen, aber er wollte sich wohl die Konzentration nicht zerschlagen lassen und startete entschieden durch zur nächsten.

In den Symphonische Etüden op. 13 von Robert Schumann gefielen gut verdeutlichte Unterscheidungen zwischen Haupt- und Nebenstimmen, Substanz und Verzierung inmitten vollgriffiger Raserei. Die darin kondensierten syphilitischen Phantasien referierte Ben Kim aus der sicheren Entfernung eines genüsslichen Hirntrainings mit auditivem Feed-back.

Christoph Eschenbach hatte den 1983 in Portland, Oregon geborenen Pianisten für den mit fünfzehntausend Euro dotierten hessischen LOTTO-Förderpreis vorgeschlagen. Als Franziska Reichenbacher die Begründung der Jury verlas erfuhr man, dass Ben Kim keineswegs nur Klavier spielt, sondern sich auch von hochalpinen Klettertouren und „dem ganz normalen Leben“ inspirieren lässt. „So viel Natürlichkeit, sympathische Ausstrahlung und angenehme Bescheidenheit gepaart mit größter Virtuosität erlebt man nur sehr selten bei einem Spitzenmusiker“, hieß es in der Begründung der Jury.

DORIS KÖSTERKE

Klavier als Partner

Klavierabend mit Ching-Yun Hu und Lukas Geniušas

Mit Ching-Yun Hu und Lukas Geniušas stellte das International Piano Forum im Mozart Saal zwei höchst unterschiedliche, jeweils preisgekrönte Nachwuchspianisten vor. Ein entscheidender Unterschied lag in ihrem Verhältnis zum Flügel. Für die Taiwanerin (sie spielte Mozarts KV 331, Chopins Variationen op. 2 und Rachmaninoffs zweite Sonate, als Zugaben die Virtuosic Etude, No. 4 von Earl Wild nach Gershwins „Embraceable you“ und Rachmaninoffs Etude Tableaux, Op. 39, No. 1) war er Instrument zu leidenschaftlicher Hochglanz-Pianistik. Der 1990 in Moskau geborene Lukas Geniušas behandelte ihn als Spielpartner mit ernst zu nehmenden Eigenheiten. Sein Beginn von Maurice Ravels Klaviersonatine glich weniger einem Sich-Ausdrücken als einem Hineinfühlen und –lauschen in sein unmittelbares Gegenüber. Welches außergewöhnliche Gespür für die feinen Abläufe in der Mechanik er dadurch gewonnen hatte, zeigte sich spätestens in seinen phänomenal trennscharf moussierenden Tonrepetitionen in der Alborada del gracioso aus Ravels „Miroirs“. Seine Großmutter Vera Gornostaeva („Was bedeutet dieses forte? Leidenschaft? Sarkasmus?”) scheint ihm nicht zuletzt einen umfassend hinterfragenden Ansatz vermittelt zu haben: Noch konsequenter als bei Ching-Yun Hu erlebte man seine Interpretationen als transparente Raum-Zeit-Diagramme. Vor allem natürlich die sich dafür anbietende Zweite Klaviersonate von Sergei Prokofjew. Fast unterkühlt begann er den ersten Satz, bis seine Emotionen sich umso aufrichtiger Bahn brachen und sich mit kristalliner rhythmi­scher Prägnanz und Spielfreude paarten. In seiner ersten Zugabe, „Vision“ aus Griegs op. 46, zeigte er seine Nachdenklichkeit. Die witzig-jazzige zweite Zugabe war „Pursuit rondo“ von Leonid Desjatnikow.

DORIS KÖSTERKE

Kritik Sacre du Printemps in Darmstadt

8. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters Darmstadt

„ … ich fühle eine Art von existentieller Angst, wenn ich den Sacre dirigiere“, sagte Dirigent David Zinman über Strawinskys 1913 in Paris uraufgeführtes Werk. Ein existenzieller Einsatz für die Musik über ein heidnisches Ritual, in dem weise Männer ein junges Mädchen sich zu Tode tanzen lassen, um die Götter des Frühlings gnädig zu stimmen, übertrug sich auch von Will Humburg auf das Publikum, während er das Werk zum Abschluss des 8. Sinfoniekonzerts des Staatsorchesters im Großen Saal des Staatstheaters Darmstadt dirigierte.

Die überwältigende Besetzung mit zum Beispiel acht Kontrabässen, acht Hörnern und acht Schlagzeugern stand hier ausschließlich im Dienste der klanglichen Differenziertheit: mit kammermusikalischer Trennschärfe durchwebten die bis zu acht verschiedenen Einzelstimmen innerhalb einer Instrumentengruppe das kontrapunktisch durchwebte Ganze. Darunter waren viele beglückende Solistenleistungen: butterzart etwa das berüchtigte Fagottsolo zu Beginn und wie aus einer anderen Welt die gedämpften Trompeten in der Einführung zum zweiten Teil.

Das atavistisch wirkende Werk stand in merkwürdigem Kontrast zum Brahms-Lied, das vor dem Konzert im Foyer erklungen war: „Oh wüsst ich doch den Weg zurück“ op. 63 Nr. 8. Eine existentielle Tragweite spürte man auch in György Kurtágs rätselhaft dichtem opus 33, Stele. Die impressionistisch flirrenden Klangbilder in Richard Strauss‘ Also sprach Zarathustra op. 30 vermittelten nach einer gelungenen musikalischen Karikatur „Von der Wissenschaft“ als einem nebulös dumpfen Brüten die „philosophy“ leidenschaftlicher Lebensfreude.

DORIS KÖSTERKE

Klangschatten, Spiegelbilder

Ensemble Modern – A la recherche de temps

A la recherche de temps hatte der Belgische Künstler Serge Verstockt zwei Solo-Stücke überschrieben. Zweifellos eine Anspielung auf Marcel Proust. Im Beitrag des Ensemble Modern zum „Festival for Performing Arts“ erlebten sie im F°LAB ihre Deutsche Erstaufführung. Ein luftiges Halbrund aus vier quadratischen Flächen um einen Notenständer diente der Projektion von Videos, die Koen Theys von den Interpreten beim Aufführen der hoch virtuosen Stücke gedreht hatte. Vier Mikrophone zeichneten die aktuelle Aufführung der Solisten auf. Zeitlich versetzt, verlangsamt oder gerafft abgespielt wurden die Spielenden von ihren eigenen Klangschatten und Spiegelbildern umgeben bis verfolgt. Alles Material war aus dem Gegebenen entwickelt. Hinzugefügt war nur der Wechsel der Video-Hintergründe. Das von Jaan Bossier mit existenziellem Einsatz gespielte Klarinettenstück wurde durch Hell-Dunkel-Wechsel rhythmisiert, während das mit wechselnden Farben und Mustern unterlegte A la recherche de temps II, Doloroso – for viola and video (2015), gespielt von Megumi Kasakawa, wie ein apokalyptischer Tanz wirkte.

Dazwischen, in der von Jagdish Mistry gespielten Étude II für Violine solo (2001) von Jörg Widmann, war allein die Geige die Bühne, auf der ein „klassischer“ mehrstimmiger Satz sich in ein virtuoses Panoptikum aus Glissandi und Flageolett-Tremoli bis zu einem Solo der Greifhand auffächerte. Begonnen hatte der Abend mit In die Stille (1998) für Violoncello solo von Nicolaus A. Huber, gespielt von Michael M. Kasper mit hoher Konzentration und zwingender innerer Logik.

DORIS KÖSTERKE

Stefan Heucke Deutsche Messe

Text von Norbert Lammert

Die Chagall-Fenster leuchteten zur Uraufführung der ökumenischen „Deutschen Messe“ für Soli, Chor und Orchester von Stefan Heucke innerhalb der deutschlandweiten Festserie „Luther 2017 – 500 Jahre Reformation“. Der Rundfunkchor Berlin und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin füllten die Mainzer Pfarrkirche St. Stephan von der Apsis über die Vierung hinaus bis zum zweiten Gewölbe des Langschiffes. In den ersten Zuschauerreihen saß Prominenz aus Kirche und Welt. Denn Widmungsträger des Werkes war Kardinal Lehmann und der Textdichter Norbert Lammert. Der Bundestagspräsident hatte das Ordinarium missae auf seine Aktualität hin befragt und in zeitgemäße eigene Worte gefasst. In Lammerts „Kyrie“ heißt es unter anderem: „erbarme dich der Menschen, die sich stark fühlen“. Für das Luther-Jahr konnte Lammert (Katholik) den wenig bekannten Komponisten (Protestant) für die Fortsetzung einer früheren Zusammenarbeit und das Deutsche Symphonieorchester zur Vergabe eines Kompositionsauftrages gewinnen.

Heucke lässt immer wieder Vertrautes durch seine opulenten Klangmassen schimmern. Traditionelle Satztechniken wie Fuge und Sequenz, aber auch Choralthemen und Liturgisches: den Anruf „Christe, du Lamm Gottes“ etwa als Rhythmus-Zitat mit großer Holzklappe und Kontrabässen. Heuckes Farb- und Formensprache suggeriert innere Bilder. Das Glaubensbekenntnis etwa schien einem Scheiterhaufen abgetrotzt, Militärtrommel und Trompeten untermalten das „gib uns deinen Frieden!“. Effektvoll sind seine kurzen rhythmischen Beschleunigungsphasen, wohltuend seine kammermusikalischen Inseln und akustischen Nah-Fern-Wirkungen.

Applaus für alle Mitwirkenden, für Philipp Ahmann für die Einstudierung des Chores, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, in dem einzelne Musiker spürbar engagiert das Ganze, wie auch ihre Rolle darin überblickten, für den beide Klangkörper sicher leitenden Steven Sloane, für die durchtrainierte Juliane Banse, deren Sopran auch bei höchster Durchschlagkraft nie schrill wurde und für die ebenso angenehmen Solisten, Birgit Remmert (Mezzosopran), Tilman Lichdi (Tenor) und Michael Nagy. Aber nicht für die Komposition: ihre Theatralik, ihr zu oberflächlicher Bezug zum kritischen Text und ihre totalitäre Lautstärke in Antithese zu einer Ökonomie der Mittel wirkte geradezu gegenreformatorisch.

DORIS KÖSTERKE

Utopien: Schönberg, Brahms, Beethoven

7. Sinfoniekonzert Staatsorchester Darmstadt

„Wenn ich an Lichtspiele denke, so denke ich an zukünftige, die notwendigerweise künstlerisch werden sein müssen. Und zu denen wird meine Musik passen!“, sagte Arnold Schönberg über seine „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ op. 34. Mit diesem utopischen Stück Ohrenkino begann das 7. Sinfoniekonzert im großen Haus in Darmstadt. Lustvoll gestaltete das wache und sichtlich hochmotivierte Orchester etwa die fahlen Farben des Fiesen.

Das Dirigat der in Estland geborenen Kristiina Poska hinterließ einen angenehmen Eindruck mit ihrer Detailtreue, ihrer aufmerksamen Dosierung der Tempi und der Lautstärken und ihrer Kollegialität, auch gegenüber dem orchestereigenen Solisten im As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunjan, Manfred Bockschweiger, der für seinen Farbenreichtum und seine technisch blitzsaubere Virtuosität viel Beifall erhielt. Als er die Dirigentin daran teilhaben lassen wollte, trat sie demonstrativ zurück. Ihren Blumenstrauß am Ende des Konzerts gab sie an Konzertmeisterin Sarah Müller-Feser weiter.

In Beethovens Dritter Leonoren-Ouvertüre kam das Trompetensignal, gespielt von Marina Fixle, effektvoll vom Balkon, während das musikalische Geschehen bisweilen auf der Stelle zu treten schien.

Klangsinnlich und transparent gestaltete das Orchester auch Brahms‘ Dritte Sinfonie. Zwar hätte man sich in den Binnensätzen von mehr Emotionalität gewünscht. Dennoch erlebte man darin jene Sehnsucht, die sich selbst viel zu heilig ist, um je nach Erfüllung zu streben.

DORIS KÖSTERKE

Tamáss – Berührung und Grenze

Hörtheater: Tamáss (UA)

Tamáss bedeutet zugleich Berührung und Grenze. Der arabisch-persische Begriff war Motto einer zweijährigen Zusammenarbeit des Mainzer Musiktheaters mit Oriental-Jazz-Ensemble LebiDerya aus Mannheim. Die Uraufführung der Resultate als dichtes „Hörtheater“ verdiente den reichen Beifall im Großen Haus am Staatstheater Mainz. Die Idee hatte der mit arabischer Musik erfahrene Perkussionist Joss Turnbull. Regie geführt hat Anselm Dalferth.

Das Publikum war auf der Bühne platziert und staunte über die gute Akustik im Zuschauerraum, wo die Musiker im ersten Programmteil im hektischen Durcheinander von einer inselartigen Kleinbühne zur nächsten hetzten: Kaum lud eine musikalische Begegnung zum Zuhören ein (etwa das einander Durchdringen von ostkirchlich anmutendem Gesang mit dem Spiel der arabischen Laute Oud), wich sie schon wieder einem allgemeinen Gerenne.

Waren die Darsteller in diesem ersten Teil (kann man ihn kürzen?) noch als Träger von Funktionen kostümiert, Sopranistin Alexandra Samouilidou etwa im Diven-Kleid und die Orchestermusiker im Frack, begegneten sie einander im zweiten Abschnitt als Menschen in Alltagskleidung, in Paaren und Doppelpaaren. Glanzpunkte waren die sublimiert-erotische Perkussions-Szene für Tisch, Flasche und Glas zwischen Maren Schwier und Ziad Nehme, sowie die Wiedersehens-Szene zwischen Johannes Stange und Joss Turnbull, in der eine Umarmung in eine Bodyperkussion und ein stilisierter Streit handgreiflich in ein Händeschütteln mündete. Sound-Artistin Mutamassik umschwärmte den Geige spielenden Mihail Katev mit elektronischen Aufnahmegeräten. Das danach Abgespielte klang im wahrsten Sinne des Wortes „billig“.

Eine feierliche Darbietung des Zweiten Satzes aus Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ versank in geschäftigem Klappstuhl-Klappern. Es markierte den Beginn des dritten und letzten Teils, in dem die Darsteller sich als Einzelwesen vorstellten: Anrührend zeigte Malte Schaefer, dass er nicht nur stimmführend bratschen, sondern auch sehr gekonnt singen kann. Als „Küken“ des Ensembles sang Maren Schwier ein koreanisches Kinderlied. Die sture Reihung von insgesamt 16 Selbstdarstellungen wirkte einerseits noch trockener, als die zuvor durchdeklinierten Paarformationen. Doch nur zwei Selbstdarstellungen (E-Gitarre und Soundart) gingen durch Länge auf die Nerven und nur wenige blieben blass. Der Rest berührte. Etwa der aus dem Libanon stammende Tenor Ziad Nehme, oder die kreolischen Wurzeln der provencalischen Mezzosopranistin Geneviève King. Am dankbarsten wurden die libanesischen Musiker mit ihren Beiträgen aufgenommen: der charismatische Sänger Abdel Karim Shaar, Oud-spieler Abdalhade Deb und Ghassan Sahhab, der auf der arabischen Zither Qanun einen Tango spielte.

DORIS KÖSTERKE

Schönbergs »Pierrot lunaire«

 

Das Merlin Ensemble Wien begeisterte auch im vierten und letzten Konzert seines Gastspiels bei den Internationalen Maifestspielen, im Foyer des Wiesbadener Staatstheaters. In Brechts erschreckend aktuellem, von Hanns Eisler (1898 – 1962) vertonten „Vielleicht-Lied“ kämpfte die Schweizer Schauspielerin Sylvie Rohrer noch mit der jede Textverständlichkeit zerstreuenden Foyer-Akustik. Im Folgenden nahm sie restlos für sich ein, als mit bezauberndem Charme orakelndes, androgyn piepsendes Fabelwesen.

Michael Mautner hatte die fünf für diesen Abend ausgewählten Brecht-Lieder, von Eisler für Gesang und Klavier geschrieben, ansprechend bunt für die gleiche Besetzung bearbeitet, die auch im Hauptwerk des Abends, in Schönbergs »Pierrot lunaire« op. 21, gebraucht wird.

Martin Walch hielt von seinem Pult aus mit Violine oder Bratsche in der Hand das geschmeidig aufeinander reagierende Ensemble (Sonja Korak, Flöte und Piccolo; Haruhi Tanaka, Klarinette und Bassklarinette; Luis Zorita, Violoncello und Till A. Körber, Klavier) in leidenschaftlich bebendem Fluss, auch in Hanns Eisler »Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben« op. 70.

Der surrealistische, von Otto Erich Hartleben verdeutschte, mitunter bittere, sarkastische und sadistische Humor in Albert Girauds »Pierrot lunaire« passt nicht ins konventionell Schöne, Wahre, Gute. Und doch schrieb Anton Webern über die Gedichte an Alban Berg: „Sie sind sehr zart und schön“. Die Idee zu ihrer Vertonung stammte ursprünglich nicht von dem visionären Moralisten Schönberg, sondern von der Auftraggeberin und Interpretin der Uraufführung, Albertine Zehme. Auf sie geht auch der in diesem Werk erstmals zum Einsatz gebrachte Sprechgesang in „rhythmischer Deklamation“ zurück: Im lebensnah melodischen Sprechen wollte sie „dem Ohr seine Stellung fürs Leben zurückerobern“.

Der Sprechgesang von Sylvie Rohrer war an diesem Abend, wie von Schönberg gewünscht, gleichberechtigt in die Musik mit eingewoben. Mit ihrer sehr eigenen Gestik und Mimik (Regie: Hermann Beil) fügte sie Text und Musik noch eine weitere irritierende Ebene hinzu und hielt die Aufführung in einer unaufhörlich schwebenden poetischen Spannung.

DORIS KÖSTERKE

Einmal häuten, bitte!

Umbrations

Abonnementkonzert des Ensemble Modern im Mozart Saal

 

 

Das Farbenspiel Roms: Leuchtende Fassaden, dunkle Höfe, bunte Gassen, mosaizierte Fußböden, invasive „neongrüne Papageien“ und mittagsmüdes Verblassen in gleißendem Licht. In seiner Komposition PolychROME (2017) hat es der amerikanische Komponist Christopher Trapani (*1980) in Klänge übersetzt, die im Abonnementkonzert des Ensemble Modern im Mozart Saal zu hören waren: reizvoll schattierte Klang-Geräusch-Leinwände für Fernweh-Fantasien. Der Schluss aus schrillenden Piccolo-, Oboen- und Flageolett-Tönen ließ jedoch weniger an Sonnenlicht als an den Feuerball einer Atomexplosion denken.

In „Die Häutung des Himmels“ von Martin Grütter antwortete ein Fernschlagzeug wie ein orakelndes Echo vom hinteren Balkon auf die Aktionen auf der Bühne. Oft markierten seine Aktionen, wie etwa seine Singende Säge oder ein gegeigtes Becken, den Eintritt in neue Klangwelten. Im Einführungsgespräch mit Christian Fausch hatte Grütter von der Annäherung an einen verbal nicht fassbaren Sehnsuchtsort gesprochen. Er zeigte sich am Schluss in einem einfachen Gitarren-Arpeggio, das man, nachdem das Stück durchschritten war, als pure Wohltat erlebte.

Seine „Umbrations“ seien kein geschlossener Zyklus, stellte Brian Ferneyhough (*1943) im Einführungsgespräch klar. Alle der mittlerweile elf über mehr als 15 Jahre hinweg entstandenen Stücke reiben sich an geistlichen Kompositionen des elisabethanischen Komponisten Christopher Tye (16. Jahrhundert) und lassen dessen pastellfarbene Klangwelt durch das komplexistische Dickicht der Klangsprache Ferneyhoughs blinzeln. Die Besetzung reicht vom Solocello (Lukas Fels interpretierte das erst in diesem Jahr entstandene „In Nomine“ so überzeugend, als hätte er es selbst geschrieben) zum zwölfköpfigen Ensemble. Einen Binnenrahmen bildeten an diesem Abend die vier Sätze „Dum transisset“, die das (seit stolzen elf Jahren in der Besetzung dieses Abends spielende) Arditti Quartett in all ihrer Vielgestaltigkeit auslotete. Dirigent Brad Lubman dirigierte nur die groß besetzten Teile mit klaren, mitunter lautmalenden Bewegungen.

Viele verschiedene Klangwelten vom kaum hörbaren Flageolett-Zwitschern zur Gamelan-ähnlichen Mixtur mit Kettledrum und Klavier und enorm tapfere Interpreten entließen mit einer großen Sehnsucht nach geläutert klaren Strukturen, die eher locken als überschwemmen. (Wie wäre es mit einem Kompositionsauftrag an Herrn Grütter für ein Häutungswerk über Ferneyhough?)

DORIS KÖSTERKE

„In C“ von Terry Riley im Weltkulturenmuseum

„In C“ von Terry Riley im Weltkulturenmuseum aufgeführt
(18.01.2017)

 

Selten blickt man bei Aufführungen „ernster“ Musik in so fröhliche Gesichter, wie jüngst im Weltkulturenmuseum: Inmitten der Ausstellung „Der rote Faden“ erklang Terry Rileys „In C“, als wären hier Grundzüge der Web- und Flechtkunst ins Akustische übersetzt.

Megumi Kasakawa blickte strahlend von einem ihrer Mitspieler zum anderen. Die Ensemble-Modern-Bratschistin hatte das frühe Stück Minimal Music mit Studenten und Kollegen in einem Workshop am Institut für zeitgenössische Musik (IzM) an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) erarbeitet. „Ein tolles Stück und tolle Musiker“, schwärmte sie nach der gut einstündigen Aufführung und fügte hinzu: „Das ist kurz!“. Denn das 1964 entstandene Stück existiert nicht als Partitur im Sinne einer dramaturgisch durchgeformten Zeitstrecke, sondern lässt seinen Interpreten nach festen Regeln geraume Freiheiten: Jeder Musiker hat den gleichen Zettel auf den Notenständer, bedruckt mit 53 rhythmisch-melodischen Segmenten, die sich jeder Spieler mit seinem eigenen Ausdruck „zu eigen machen“ und nach eigenem Ermessen mehrfach wiederholen kann. Allerdings soll sich der Schwarm um nicht mehr als drei Segmente auseinanderziehen. Man braucht also ein ständig offenes Ohr für das, was die anderen machen. Vor allem muss das Metrum gewahrt bleiben, das durch ein vom Xylophon erbarmungslos gehämmertes „C“ (daher „In C“) vorgegeben wird. Der Stress ist groß, die Herausforderung, darin etwas Persönliches zu vermitteln, noch größer. Wenn dies gelingt, ist die Freude für alle Beteiligten umso größer, die sie in Blickkontakten miteinander und mit dem Publikum teilen, dem es ausdrücklich erlaubt war, sich während der Darbietung die Ausstellung anzuschauen: Etwa die buchstäbliche Verflechtung von traditionellem Handwerk und kritischer Kunst bei den beiden indigenen Künstlerinnen Sarah Sense und Shan Goshorn. Oder die Adoptionsmaske mit der zum Hereingreifen reizenden Lasche auf der Nase. Oder sich nach dem „Verstricken“ in den Gesetzen der Mode fragen und im Vergleich der Exponate mit mutmaßlich maschinell gefertigten Kleidungsstücken über das Verhältnis von Regeln und kreativer Freiheit nachdenken, während aus Rileys reich schattierter Regelmäßigkeit felszackengleiche Segmente herausragten, die mit 19 oder 62 Zählzeiten Länge das gängige Taktgefühl erfrischend gegen den Strich bürsteten. Und immer wieder schmunzeln.

DORIS KÖSTERKE

Am Mittwoch, 1. Februar, 19 Uhr findet in der Ausstellung ein weiteres Konzert statt: Mit eigens dafür geschaffenen, jeweils von folkloristischer Webkunst inspirierten Kompositionen von Raphaël Laguillat und Tobias Hagedorn.