Raus bist du, wenn du dir die Preise nicht leisten kannst

 

(Stadt) Land Fluss von Daniel Kötter und Hannes Seidl

Musiktheater-Premiere beim Festival „Displacements. Andere Erzählungen von Flucht, Migration und Stadt“

 

Was ist eine Mauer gegen die Möglichkeiten von Internet und Hacking? Die eigentlichen Grenzen, betont der an der Denver University lehrende Philosoph Thomas Nail, sind sozialer Natur: Ohne Papiere keine Wohnung, keine Arbeit. Ohne Smartphone kein Anschluss an die Welt. Ohne Segelyacht – und so weiter. In jedem Bereich der Gesellschaft gibt es Vertriebene und Migranten. Seine Rede, „The Figure of the Migrant“, eröffnete das Festival „Displacements. Andere Erzählungen von Flucht, Migration und Stadt“: Im Mousonturm und rund um ihn herum wird bis zum vierten Februar 2018 mit vielfältigen Mitteln der Kunst operiert.

Den Anfang machte „(Stadt) Land Fluss“, die jüngste Musiktheaterproduktion von Daniel Kötter und Hannes Seidl. Sie macht jeden Besucher zum medial gesteuerten Migranten: mit einem Kopfhörer ausgestattet, aber ohne Sitzplatz und ohne Sicherheit vermittelndes Gepäck („Taschen bitte an der Garderobe abgeben!“) läuft man beim Betreten des Saales zunächst gegen Wände. Doch wie im Rest der medial vermittelten Welt erscheint das mit eigenen Sinnen direkt erfahrbare Labyrinth aus auf Metallrahmen verschraubten Gipsplatten als längst nicht so wichtig, wie die in unregelmäßigen Abständen darauf montierten Smartphones und die Videofilme, die darauf laufen.

Sie zeigen aus vielen verschiedenen Perspektiven eine umzäunte Containerstadt. Den im Hintergrund erkennbaren Elbbrücken nach zu urteilen liegt sie im flussaufwärts erweiterten Hamburger Hafengebiet. Ein unwirtlicher Ort: Das regionaltypische Schmuddelwetter hat den Boden aufgeweicht. Von See her weht eine dermaßen steife Brise, dass mehrere vereinte Manneskräfte es kaum schaffen, eine Plane als Unterstand neben einer hell erleuchteten Bude zu befestigen.

Christina Kubisch hat die Geräusche dieser Containerstadt eingefangen, vor allem die fröhlichen der vielen Kinder. Neben diesen eingespielten Geräuschen hört man mit den elektromagnetischen Kopfhörern auch fließenden Strom, die Lebensader des Digitalen. Und an einigen Stellen auch Reden: Mutmaßlich ein Stadtentwickler träumt von einer Stadt, die an dieser Stelle wachsen soll, rundum lebenswert, multikulturell, lebendig, tolerant. Unausgesprochen bleibt: Raus bist du, wenn du dir ihre Preise nicht leisten kannst. Und die müssen so hoch sein, um den Aufbau eines neuen Containerhafens zu finanzieren.

Die Musik (wir nennen sie so, weil sie in geplanter Weise mit geplanter Wirkung vielgestaltige Klänge in vielgestaltigen Rhythmen bewegt) von Niklas Seidl lässt dabei nur selten an Spannungen denken. Das Hantieren der Musiker Sebastian Berweck, Martin Lorenz, und Andrea Neumann an Plattenspielern, Lautstärkereglern und auf präparierten Klaviersaiten bildet spürbare sinnliche Anziehungspunkte. Auch ihre Aktionen sind elektronisch verstärkt, geformt und vermittelt.

So wandelt man von einer Station zur anderen, von einem akustischen Feld und von einem Video zum nächsten. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, die einem mit auf den Weg gegeben wurde: Wem gehört diese Stadt? Im Bewusstsein, dass man das Ganze, sollte es überhaupt als fassliches Ganzes beabsichtigt sein, allenfalls bruchstückhaft erfassen kann. Doch eine Frage trägt man aus dem Kunstwerk in den Abend und den Rest der Welt: Was ist bei Stromausfall?

DORIS KÖSTERKE

 

„Weihnachtsimpressionen“ von Alfred Stenger

Uraufführung im Weihnachtskonzert der Frankfurter Musikhochschule

In der Uraufführung der „Weihnachtsimpressionen“ von Alfred Stenger gelangen dem Frauenchor gut ausgehörte Spannungsharmonien in melodischen Parallelführungen. Die rund ums Publikum platzierten Flöten, sowie die von der Empore herab Tönenden, Sopran und Trompeten, waren vom Dirigenten Günther Albers wirkungsvoll mit den Musikern auf der Bühne koordiniert. Interessant an diesem Werk waren die in verschieden rhythmisierten Akkordbrechungen glitzernden Klangflächen. Der üppige Beifall galt sicher nicht zuletzt der Person des auch als Dirigent und Pianist beliebten Hochschullehrers.

Scream Sing Whisper

 

Abonnementkonzert des Ensemble Modern

 

 

Wo, außer beim Ensemble Modern, jüngst im Mozart Saal, kriegt man so reichhaltiges Futter für die Fantasie? In „Karakuri – Poupée mécanique“ (2011) hat Ondřej Adámek den Schöpfungsakt einer traditionellen japanischen Puppenspiel-Puppe Karakuri Nyngio musikalisch nachgestaltet, von der genauen (Selbst-)Beobachtung über die beständige Optimierung der Puppe, bis ihre Bewegungen wie natürlich wirken. Zugleich stimmlich und pantomimisch stellte Shigeko Hata dar, wie eine Bogensehne gespannt wird, bis ein Pfeil sich löst, wie er durch die Luft fliegt und wie seine Energie nachlässt. Als musikalisch formbildendes Motiv wiederholt und abgewandelt wurde diese Sequenz vornehmlich vom Perkussionisten David Haller, aber auch vom übrigen Ensemble ausgestaltet und von Felix Dreher (Klangregie) so lebensnah abgestimmt, dass man Pfeil und Bogen vor sich sah. Unmittelbar einleuchtend ließ der 1979 in Prag geborene, unter anderem von Pierre Boulez in Paris ausgebildete Komponist und Dirigent erleben, wie Musik unwillkürlich an Bewegungen denken lässt, die nicht immer menschenmöglich und gerade deshalb so anregend und witzig sind. Im letzten der vier Sätze verselbständigt sich die Mechanik: die Puppe zerstört nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Schöpfer.

Kulturkritik übt auch Im Fall – für Mezzosopran und Ensemble (2017) von Isabel Mundry. Inspiriert von Texten von Thomas A. Kling (1957-2005), „Die letzten Äußerungen des Orakels I und II“, spürt die Komposition einer überlieferten Prophezeiung des Orakels von Delphi nach, die den Untergang der antiken Kultur voraussagt. Die Texte des dritten und letzten Abschnitts stammen aus dem Internet, aus Reiseberichten und Hotelbewertungen und spiegeln den (Ver-)Fall der Kultstätte zum Touristenort. Das Orakel von Delphi, erinnerte Isabel Mundry im Einführungsgespräch mit Patrick Hahn, gab Antworten, die noch komplexer waren als die Fragen. Entsprechend war die Aufführung mit der bizarren, teilweise auch im Wechsel mit dem spürbar lustvoll agierenden Duncan Ward dirigierenden Mezzosopranistin Allison Cook ein rätselhaft-intensives Erlebnis.

Scream Sing Whisper – for 18 players (2015) von Anders Hillborg kam, den im Titel beschriebenen Geräuschen zum Trotze, ganz ohne menschliche Stimmen aus. Für den 1954 geborenen Schweden braucht Musik keinen konzeptuellen und intellektuellen Überbau, wohl aber einen durchgehenden Puls. Darüber durchschreitet er Idiome, die an Bigband-Jazz, Gustav-Mahler, Minimal Music und barocke Terrassendynamik erinnern, fächert einen pianistischen Urknall (Ueli Wiget) zu Bläserklangspektren und Liegetonschichten mit geigerischem Papageiengezwitscher und reibungsreichen Posaunenglissandi (Uwe Dierksen) auf. Bei alledem überträgt sich der Pulsschlag seiner Musik unwillkürlich auf die Hörer, hebt sie für die Dauer des Stückes aus ihrem alltäglichen Dasein heraus und verdeutlicht damit den Drogencharakter von Musik.

DORIS KÖSTERKE

»Multiversum« von Peter Eötvös

 

Beobachten außerirdische Wesen höherer Intelligenz unsere täglichen Kämpfe und finden uns drollig? Haben sie vielleicht eine Mutter, die sagt: „beim nächsten Aufräumen muss das stinkende Terra-Terrarium aber endlich verschwinden“? Die Vorstellung, dass es neben unserem Universum noch andere gibt, hat Peter Eötvös zu seiner Komposition »Multiversum« inspiriert.

Weil er im auf drei Jahre hin angelegten Projekt „Eötvös3“ mit dem hr-Sinfonieorchester zu tun hat, das wiederum für diese Spielzeit mit der Frankfurter Bettinaschule zusammenarbeitet, haben sich auch dort Schülerinnen, Schüler und ihr Musiklehrer Markus Desoi klanglich mit dem Thema beschäftigt, eine eigene Gruppenkomposition erarbeitet und sie ganz tüchtig und lampenfieberfest geübt. Die Uraufführung der rund vier Minuten langen Resultate fand im Großen Saal der Alten Oper statt, im gleichen „Jungen Konzert“, in dem Peter Eötvös das hr-Sinfonieorchester dirigierte.

Eötvös dirigiert seins, Bettina-Schüler spielen ihr eigenes Multiversum

Zwei neunte Klassen entsprachen zwei völlig verschiedenen Welten, lyrisch-melodiös die eine, rhythmusbetont die andere. Beide bekamen dafür großes Lob von dem überaus artig auftretenden, 73-jährigen Komponisten.

Der hatte vorher „Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132“ von Max Reger dirigiert, eine Übersetzung des Mozartschen Idioms ins Bayerisch-Barocke, in dem Reger sich einerseits als Zeitgenosse des melodiös und harmonisch Angeschrägten zeigte. Andererseits – das fanden Jugendliche sofort anschaulich – als jemand, der jeweils unmäßig gefressen, gesoffen und gearbeitet hat.

In Eötvös‘ »Multiversum« war das Orchester in räumlich voneinander getrennte Klanggruppen geteilt: Die Streicher saßen alle auf einem Teil der linken Bühne, die Holzbläser gegenüber. In der hinteren Bühnenmitte flankierten je zwei Hörner und ein Saxophon die Tuba als Zentrum. Den Bühnenhintergrund bildeten vier opulent ausgestattete Schlagzeuger. Das Zentrum der Bühne bildeten zwei Orgeln. Während man die Klänge der Orchestergruppen den Orten zuordnen konnte, an denen die Instrumentalisten saßen, wirkten die Orgelklänge wie ferngesteuerte Wesen: Denn die Klänge, die die wie eine Tänzerin agierende Iveta Apkalna neben dem Dirigenten am Spieltisch der Saalorgel produzierte, erklangen aus dem Prospekt hinter den Schlagzeugern. Was László Fassang vor dem Dirigenten auf der Hammond-Orgel erzeugte, ertönte über Lautsprecher im hinteren Zuschauerraum.

Eötvös‘ Utopie der Welten:
auf Gemeinsamkeiten bauen, Verschiedenheiten spannend finden.

Doch bei alledem schien es, als würden sich diese so verschiedenen Klang-Universen einander keineswegs bekämpfen, sondern, durchpulst von den gleichen Wellenbewegungen, zu ihrer gegenseitigen Bereicherung miteinander Kontakt halten, vielleicht Handel treiben, einander besuchen, zum Essen und zum Feiern einladen, auf Gemeinsamkeiten bauen und die Verschiedenheiten spannend finden.

 

DORIS KÖSTERKE

 

Eine Multimedia-Präsentation des Schüler-Projektes ist auf hr-sinfonieorchester.de zu finden. Video-Livestreams des Konzertes am 8.12., in dem anstelle des Schülerprojektes Mozarts Ouvertüre zur „Entführung aus dem Serail“ und Eötvös‘ „Dialog mit Mozart“ erklangen, gibt es auf hr-sinfonieorchester.de und concert.arte.tv. „Ganz Ohr“ kann man das Konzert unter hr2-kultur.de hören.

Oboist Albrecht Mayer und I Musici di Roma

Pfirkularatmung mit Pfnupfen

 

 

Toll war allein schon das Erlebnis musikalischer Ehrlichkeit: I Musici di Roma und Oboist Albrecht Mayer kamen in ihrem Konzert im Wiesbadener Friedrich-von-Thiersch-Saal ohne Theatralik und ohne auf Publikumsreaktion hin angelegte dynamische Steigerungen aus: Dieses „Tesori d’Italia“ überschriebene Adventskonzert des Rheingau Musik Festivals mit barocken Meisterwerken war eins der erfüllten Gesten. Die zwölf Musiker (darunter eine Frau) des Ensembles I Musici di Roma wirkten unter der Leitung ihres mit Ganzkörpereinsatz agierenden Primarius Antonio Anselmi so präzise zusammen wie ein einziges, hellwaches Wesen. Die Bassgruppe strukturierte mit militärischer Klarheit die rasende Virtuosität in Concerti und Concerti Grossi von Vivaldi, Pietro Castrucci und Guiseppe Sammartini. In langsamen Sätzen konnte der Generalbass jedoch auch für sauber kalkulierte Unschärfe sorgen, so dass das klangliche Fundament sich wellte und das musikalische Gefüge zu wogen begann wie ein Meer von Tränen.

Albrecht Mayer mag tatsächlich zu den größten Oboisten aller Zeiten gehören: er wirkt, als ob er in Tönen spricht, ohne Pathos, von Mensch zu Mensch. Ein jahreszeitbedingter Infekt, der ihn zu wiederholten Taschentuchpausen nötigte und fast bewogen hatte, das Konzert abzusagen, konnte weder sein Charisma, noch sein Können erschüttern: Zirkularatmung schien bei ihm auch bei Schnupfen zu funktionieren. Seine Virtuosität sprudelte wie eine zur zweiten Natur eingeschliffene sprachliche Äußerung. Der Beeinträchtigung ungeachtet spielte er alle vorgesehenen drei originalen Oboenkonzerte: Alessandro Marcello Konzert für Oboe, Streicher und Basso continuo d-Moll, von Giuseppe Sammartini das op. 8 Nr. 5, von Vivaldi das RV 450 und dazu das selten gespielte Doppelkonzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo B-Dur RV 548, zusammen mit Antonio Anselmi. Die beiden Künstler schienen grundverschieden, doch ihre virtuosen Parts zwitscherten umeinander wie vergnügte Vögel. In seinen launigen Moderationen erzählte Mayer unter anderem, wie Johann Sebastian Bach Marcellos Oboenkonzert ohne urheberrechtliche Skrupel zum Cembalokonzert umfunktioniert hatte. Mit sehr dezent gewählten Worten zeichnete er auch ein Bild von Vivaldis Wirkungsstätte, dem Ospedale della Pietà in Venedig, einem Heim für verwaiste oder „gefallene“ Mädchen, in denen hoch anpassungsfähige und leistungsfähige Wesen um die Gunst ihres Lehrers buhlten und über die Anstrengung, Verlust oder „Schande“ mit Ehrgeiz zu kompensieren, zu enormen Leistungen fähig wurden und „diese unglaublich virtuosen Stücke spielen“ konnten.

Nach dem Schlusston der Zugabe, der Sinfonia aus Johann Sebastian Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21, hielt Mayer noch lange die Spannung, bevor er seinen Zuhörern den Applaus gestattete und sie besinnlich eingefärbt in die Adventszeit entließ.

DORIS KÖSTERKE

cresc… 2017 – Zweiter Tag

„Take Death“

 

“Das Stück ist super. Für mich war es neu, aber das Ensemble Modern kennt es in- und auswendig“, sagte Ilan Volkov über „Take Death für 20 Instrumente & DJ“ von Bernhard Gander, das sich kontrast- und spannungsreich aus einem erbarmungslos gehämmerten Rhythmus entwickelt. Gespielt vom Ensemble Modern unter Volkovs klarem und energischem Dirigat beschloss das Stück das zweite Konzert des „cresc.“ – Festivals im hr-Sendesaal. Die Geschwindigkeit war enorm und brachte gerade die tiefen Instrumente, Kontrabass, Kontrafagott, Kontrabass-Klarinette und -Saxophon an die Grenzen ihrer Klangentwicklung: Während die Spieler Enormes leisteten, war der Klang außerordentlich amüsant. Der DJ (Patrick Pulsinger) durfte, wie der Komponist im informellen Nachgespräch „Pinkes Sofa“ sagte, dazu auflegen was er wollte, nur nicht Strawinskys „Sacre“: es hatte dem Komponisten als Vorbild gedient.

Der mit frenetischem Beifall bedachten Aufführung vorangegangen waren ein Impulsvortrag von Christina Weiss und zwei Uraufführungen. Die ehemalige (2002-2005) Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien stellte heraus, dass moderne Kunst, indem sie immer wieder Grenzen hinterfragt und neue Visionen erprobt, den Weg weisen kann für das ungewohnte Miteinander verschiedener Kulturen.

In „Spinning Lines“ von Martin Matalon spielte das Orchester auf akustischen Instrumenten, während die Solisten Jaan Bossier (Klarinette), Saar Berger (Horn) und Jagdish Mistry (Violine) mit elektronischer Hilfe fesselnde neue Klangmöglichkeiten entfalteten. Rhythmisch schien sich das Stück jedoch allzu lange vor Schluss festzureiten.

Mit einer geballten Ladung an Energie begann „Allheilmittel“ für Orchester mit Klavier und Hyperklavier von Martin Grütter. Der Prozess, in dem die Energie sich zerstreute und neu zusammenballte, schien schlüssig. Beim Hyperklavier, an dem Grütter seit einigen Jahren arbeitet, sind die Tasten eines Keyboard-Systems mit den Klängen verstimmter Klaviere belegt, so dass etwa beim Drücken einer Taste drei verschiedene Töne erklingen, die sich mikrotonal aneinander reiben. Meistens erinnerte der Klang an eine Steeldrum. Allerdings ließen sich die Glissandi, die sich von den Tasteninstrumenten aus ins orchestrale Geschehen ausweiteten, auf den 888 Tasten sehr viel lückenloser und geschmeidiger spielen als auf den 88 Tasten des Flügels.

DORIS KÖSTERKE

Fremd sein – Musik und Politik

Biennale cresc… 2017 – Erster Tag

Nach dem Prolog am Vorabend startete das cresc. Festival mit einem Sechs-Stunden-Programm in der Alten Oper.

Vor dem Eröffnungskonzert im Großen Saal betonte Christian Fausch als Geschäftsführer des Ensemble Modern, man wolle „politisch Position beziehen“. Dies will auch die 1977 in Izmir geborene Komponistin Zeynep Gedizlioğlu. In „Verbinden und Abwenden“ (2016), das hier seine Deutsche Erstaufführung erlebte, war eine Gruppe von 14 Individuen (Mitglieder des Ensemble Modern) ins hr-Sinfonieorchester gestreut. Das Stück schlich sich sehr behutsam ein über den feinen Klang gestrichener Zimbeln, der von Geigen weitergetragen wurde. Was lange brauchte, um Gestalt zu gewinnen, wurde vom Blechbläserquaken niedergemacht. Über Phasen auskomponierter Sprachlosigkeit und akustisch „dicker Luft“ wuchs eine hohe Dramatik, in der es, den einkomponierten Schreien nach zu urteilen, offensichtlich Verlierer gab.

Dass man als Fremder in einem anderen Land sehr schnell in der Rolle des Unterlegenen gerät, musste Peter Kujath in seiner Zeit als ARD-Hörfunkkorrespondent in Ostasien wiederholt erfahren. In seinem Impulsvortrag schilderte er, wie man oft nur zufällig erfährt, dass man aneckt. Etwa, indem man sich in ein Taschentuch schnäuzt: Japaner finden das hochgradig eklig und propagieren stattdessen das Hochziehen.

„In Situ“ für eine Gruppe von Solisten, Streichorchester und acht im Raum verteilte Orchestergruppen (2013) von Philippe Manoury, ließ fünf Orchestergruppen vom Balkon aus auf die Zuhörer hinabschallten. In den Proben im Sendesaal waren sie auf gleicher Ebene um das Publikum herum platziert gewesen, so dass die Herkunft der Klänge zuzuordnen war. Nun war man, wie mitunter im Leben, orientierungslos mittendrin: Impulse kamen von überall, nicht alle fanden so viel Raum, wie das Cellosolo von Eva Böcker. Unter dem präzisen Dirigat von Ilan Volkov wechselten hitzige Prozesse mit Nachdenken und Innehalten bis zum nächsten Hochlodern einzelner „Brandnester“, bis die Klangschatten aus der Peripherie allmählich länger wurden und das Stück wie eine offene Frage stehenblieb.

Dem Eröffnungskonzert vorausgegangen waren zwei Veranstaltungen des Projektes »Bridges – Musik verbindet«, das vom Verein „Kirche in Aktion“ getragen wird. Im Mozart Saal präsentierten Jugendliche aus zwei siebten Klassen des Schwerpunkts Musik an der Frankfurter Bettinaschule die Früchte ihrer Zusammenarbeit mit nach Frankfurt geflüchteten professionellen Musikern aus Syrien, dem Iran und Sudan. Eine gelungene Dramaturgie füllte eine Stunde ohne Beifallslöcher mit Beiträgen, die den verschiedenen Kulturen in ihrer Buntheit Raum gab, herausragende Leistungen als solche hervortreten und die Gemeinschaftsgaudi nicht zu kurz kommen ließ. Der Fokus auch der zweiten Hälfte dieses „CROSSING ROADS” überschriebenen Projektes lag auf der Frage, wie man es sich zusammen im Raumschiff Erde schön macht. Im Mangelsdorff-Foyer fand eine einstündige Gruppenimprovisation von weit über zwanzig professionellen Musikern statt. In den eingebetteten Soli waren unter anderem Enkhtuya Jambaldorj mit mongolischer Pferdekopfgeige, Oberton- und Untertongesang, Pejman Jamilpanah mit der orientalischen Laute Tar und höchst angenehmem Bariton zu erleben. Eingebettet von Darbietungen des Ensemble Modern und der Internationalen Ensemble Modern Akademie zeigten auch andere Musiker aus aller Welt, darunter Eleanna Pitsikaki (Kanun), Mustafa Kakour (Oud), Afewerki Mengesha (mit der an elektronische Klänge erinnernden Leier Krar und Gesang) ihr jeweils eigenes Charisma. Die feste zeitliche Struktur war der Garant, dass jeder zu Wort kam, ohne einen anderen zu dominieren.

Den informellen Ausklang „Pinkes Sofa“ im Hindemith Foyer eröffneten Nikolai Amann (Violine) und Changdae Kang (Kontrabass) in Together (1989) von Isang Yun. Die existenzielle Intensität ihres Spiels wirkte noch nach, als Julia Cloot vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain mit Ilan Volkov und Peter Kujath über Reisen und Fremdsein plauderte. „Ich bin jetzt sehr sicher in dem, was mich ausmacht“, sagte Kujath über seine Erfahrungen als Fremder, der seine eigenen Positionen beständig hinterfragt. Für Ilan Volkov bedeutet Reisen, vieles kennenlernen: Anregende Menschen, Kulturen, Traditionen. „Fremd sein“ könne man auch im eigenen Land, findet Volkov. Sogar sich selbst, betonte Peter Kujath.

DORIS KÖSTERKE

cresc…2017 Zwischen Kunst und Politik

Kann man mit Kunst die Welt verbessern? Ilan Volkov, der die meisten Orchesterwerke dirigiert, die bei der „Zwischen Kunst und Politik“ überschriebenen „cresc.“-Biennale für Moderne Musik erklingen, ist vorsichtig optimistisch: „Ich hoffe, dass jeder seine eigene Utopie in sich trägt. Probleme gibt es, sobald irgendjemand behauptet zu wissen, was für einen anderen gut ist“, sagt er. …weiterlesen

„In Broken Images“ von Harrison Birtwistle

Großer, herzlicher und verdienter Beifall für das Ensemble Modern Orchestra, für den englischen Dirigenten Paul Daniel und für „In Broken Images“ von Harrison Birtwistle. Für diesen „Secret Theatre“ überschriebenen Abend im Mozart Saal hatte sich der „harte Kern“ des Ensemble Modern mit befreundeten Musikerinnen und Musikern erweitert. Viele von ihnen stammten aus früheren Jahrgängen der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA). Fast alle hatten auch solistische Aufgaben zu erfüllen, so dass man weniger von einem „Orchester“, als von einem mehr als mehr als dreißigköpfigen Solisten-Ensemble sprechen mochte. An ihren hellwachen und hochmotivierten Gesichtern war abzulesen, dass sie um ihre tragende Rolle im Ganzen wussten. Musikalische Wendungen waren nicht einfach abgespielt, sondern so plastisch ausgeformt, dass sie an körperliche Gesten oder sprachliche oder vorsprachliche Äußerungen erinnerten.

„In Broken Images“ von Harrison Birtwistle

Auch die große Palette der Klangfarben, von extrem leuchtkräftigen zu geheimnisvoll nebulösen, verriet gründliche Detailarbeit. Sie war zweifellos ein Verdienst des Dirigenten, der die Aufführung mit runden und freien Bewegungen leitete. Es war auch ein Verdienst des Komponisten, der sich zu dieser an Dialogen reichen Musik von den raumklanglichen Experimenten der Renaissance und frühen Barockzeit hatte inspirieren lassen.

Zu Beginn des Konzerts hatte „Kassiopeia“ (2008) des 1971 in Basel geborene, unter anderem bei Wolfgang Rihm ausgebildeten Andrea Lorenzo Scartazzini allen einleuchtenden formalen Parallelen zum auch als „Himmels-W“ bekannten Sternbild und allen an die Dramatik des Mythos‘ erinnernden Farbkontrasten zum Trotze vergleichsweise buchstabiert gewirkt.

Bratschistin Andra Darzins in „Secret Theatre“

Auch in Birtwistles älterer Komposition, Secret Theatre (1984), die dem Konzert seinen suggestiven Namen verliehen hatte, hatten Daniels detaillierte Dirigierbewegungen noch eckig gewirkt. In diesem von szenischen Momenten durchwirkten Stück, in dem immer wieder andere Musiker auch räumlich aus dem Tutti in eine andere Ebene heraustreten, faszinierte ganz besonders die lettische Bratschistin Andra Darzins: Ihre enorme energetische Bühnenpräsenz bewirkte, dass man ihren Part auch dann gebannt verfolgte, wenn er akustisch vom Dschungel anderer Stimmen verdeckt war.

DORIS KÖSTERKE