Lera Auerbach – Klänge mit Eigenleben

„Ich war sehr, sehr jung und das erste Mal von meinen Eltern getrennt“, schrieb Lera Auerbach über ihren spontanen Entschluss als siebzehnjährige Pianistin, ihre Konzertreise in New York zu unterbrechen, „ohne Englischkenntnisse, ohne Geld, ohne meine Familie, ohne alles“, um bis heute dort zu bleiben. …weiterlesen

ARGO von José M. Sánchez-Verdú

Dramma in musica von José M. Sánchez-Verdú (2018)

Premiere am Staatstheater Mainz

Für anderthalb Stunden wird das Kleine Haus des Staatstheaters Mainz zum Bauch der Argo. Das Licht ist dämmerig. Die Klänge sind überwiegend diffus. Elektronisch weiterverarbeitet kommen sie nicht nur aus dem Orchestergraben, sondern wie von überall. In unregelmäßigen Abständen durchziehen rätselhaft tiefe Klänge den Raum und das Zwerchfell. Aus zwei gegenüberliegenden Logen tönen Oboe und Englischhorn. Ihr zusätzlich live-elektronisch verschmolzener Zusammenklang, hatte Dramaturgin Ina Karr verraten, sei dem antiken Aulos nachempfunden. Von hinten tönt eine Sopranistin. Ihre Worte sind unverständlich und sollen es auch sein, um Musik zu bleiben. Reisegenossen auf der an einen Lattenkäfig erinnernden Bühne sind (neben dem choreographisch anspruchsvoll geführten Chor) Anführer Jason (Martin Busen), Orpheus (klangschön: Altus Alin Deleanu), der den Gesang der Sirenen mit eigenem überdröhnt. Dann, dank einer Mythenverschränkung in der literarischen Vorlage, auch Odysseus (Brett Carter), der der Besatzung die Ohren verstopft und sich fesseln lässt, um den Gesang der Sirenen zwar zu hören, ihm aber nicht zu folgen. Und Butes, der beim Gesang der Sirenen ins Meer sprang. (Dass Göttin Kypris ihn vor seinem sicher scheinenden Tod retten wird, weiß am Ende dieses Stückes nur der Zuschauer). Pascal Quignard hat Butes ein Buch gewidmet, das den Komponisten José M. Sánchez-Verdú zu seinem „Dramma in musica“ ARGO inspiriert hat. Als Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz wurde „ARGO“ bei den diesjährigen Schwetzinger SWR Festspielen uraufgeführt und hatte nun in Mainz Premiere.

„Dramma in musica“ heißt, dass Sánchez-Verdú das Drama sich auch in den Klängen selbst abspielen lassen will. Szenisch ist das Stück stark ausgedünnt, vieles auf Schattenriss angelegt. Genial die pendelnde Hängeleuchte, die den Bühnen-Käfig horizontal zum Schwanken bringt (Inszenierung: Mirella Weingarten, Licht: Ulrich Schneider, Ausstattung: Etienne Pluss). Im Nixenkostüm mit gut zweimeterlanger Mähne ist Sopranistin Maren Schwier mal Aphrodite, mal Sirene, mal Medea. Am profiliertesten war Jonathan de la Paz Zaens als sich mehr und mehr dem Wasserspiegel im Zentrum der Bühne nähernder Butes.

Alle Mitwirkenden unter der Leitung von Hermann Bäumer leisten Außerordentliches beim Vermitteln ihrer Rollen in der ungewohnten Klangsprache. Die nahtlosen Übergänge der Klänge, etwa von Flöte und Windmaschine oder Frauenchor und Blechbläsern, verraten viel Kleinarbeit des SWR Experimentalstudios mit dem Komponisten und den Mainzer Musikern. Als Zuhörer spürt man vor allem, wie die meist flächigen, Klänge den Adrenalinspiegel steigen und sinken lassen.

Der in Algeciras geborene Komponist, hatte die Dramaturgin in der Einführung erzählt, fühle sich eher einer arabischen Erzähltradition nahe, die die Bezüge zur Gegenwart nicht explizit herausarbeitet, sondern in poetischer Schwebe lässt. So lässt das Stück wahrscheinlich noch andere Deutungen offen als diese: Butes wollte um jeden Preis da raus.

DORIS KÖSTERKE

20.05.2018

Zwanzig Harfen

Uraufführung „Spione“ von Gordon Kampe

 

Voller Harfenklang-Sternschnuppen war der hr-Sendesaal, als 17 Harfenisten die je 47 Saiten ihrer Instrumente stimmten: Das jüngste Forum N stand ganz im Zeichen dieses archaischen Instruments. Wer für Harfe komponiert, plauderte Harfenist Xavier de Maistre im Einführungsgespräch, müsse sich sehr genau damit auskennen.

Auch Gordon Kampe, den der hr beauftragt hatte, ein Orchesterstück mit Harfen zu schreiben, bezeichnete es echt norddeutsch als „Knüttelarbeit“, zu überlegen, was geht und was nicht geht, wenn sieben zweifach verstellbare Pedale entsprechende Saiten um jeweils einen Halb- oder Ganzton heraufstimmen. Sein Stück „Spione“, das hier seine Uraufführung erlebte, begann mit sehr leisen Statements der teils quer über das Publikum hinweg kommunizierenden Harfengruppen, aus dem sich ein primär mit dem Zwerchfell zu hörendes Orchestergetöse entwickelte. Wer die vergleichsweise flüsternden Harfen als Zellen des Widerstands dagegen ansah, fand sich im weiteren Verlauf des Stückes einer falschen Fährte aufgesessen, wie Kampe sie in seinen von Krimis inspirierten Stücken gerne legt. Mit sprühender Fantasie hatte Kampe verschiedenste Elemente aneinandergefügt: suggestive Geräusche, verfremdete Anleihen aus der Popularmusik, ein wunderschönes Bratschensolo von Gerd Grötzschel, eine schwüle Klangatmosphäre mit singenden Sägen. Das war vergnüglich, aber auch sehr bunt. Wer am künstlerischen Kriterium einer Ökonomie der Mittel festhielt, dem schienen die insgesamt 17 Harfen auch keine ihrer Anzahl angemessene Rolle zu spielen.

„Trans“ hatte Kaija Saariaho für den durchtrainierten, lustvoll virtuos mit traditionellen und erweiterten Spieltechniken jonglierenden Ausnahme-Harfenisten Xavier de Maistre geschrieben. Nachdem er im Einführungsgespräch den entsprechenden Hörschlüssel geliefert hatte, staunte man, wie eng die Orchesterklänge an die Klangfarben der Harfe anknüpften. Xavier de Maistres humorige Zugabe war „Karneval in Venedig“ des Belgischen Harfenisten Felix Godefroid.

John Cages „Postcard from Heaven“ (1982) für „1 bis 20 Harfen“ wird man von Aufführung zu Aufführung kaum wiedererkennen, denn Cage hat seine Interpreten innerhalb fester Regeln zu Mitschaffenden gemacht. In dieser von Anne-Sophie Bertrand einstudierten Fassung wurde es von zwanzig in Hufeisenform um das Publikum verteilten Harfen aufgeführt. Ein affirmatives Werk, das das gesamte Klangspektrum der Harfe, von der leisen präzisen Klangmassage zur mächtigen Gewitterwolke, zu den Raum durchpeitschenden synchronen Impulsen und zu sphärischen Liegetönen, geschaffen mit E-Bows oder Kontrabassbögen.

Den Abschluss bildete Sibelius‘ Sechste Symphonie: keine „Neue Musik“, aber ebenso verkannt. Im Einführungsgespräch hatte Hermann Bäumer, Dirigent des Abends, von einer mehrtägigen Wanderung durch das isländische Hochland erzählt, auf der sich der Blick für Details der verschiedenen Arten von Flechten geschärft hatte. So vorbereitet konnte man sich auf die motivische Feinarbeit einlassen, durch die hier und da ein Thema blinzelt, das sich, wie ein Wolkenspiel, auch wieder verliert.

DORIS KÖSTERKE

Brett Dean – Komponistenportrait in Mainz

Brett Dean – Drittes Mainzer Komponistenportrait

Kritik: Neuntes Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz

 

 

„Dann komponier doch selber!“, habe seine Frau gesagt, als er, noch Bratscher bei den Berliner Philharmonikern und deren Scharoun Ensemble, zu Hause „einmal zu oft“ über die zu spielenden Stücke geschimpft hatte. Brett Dean hörte auf seine Frau. Er hatte nie Komposition studiert, aber genug Erfahrung als Interpret, Improvisator und Arrangeur, um seine eigenen Vorstellungen von Klangsprache und „Großem Bogen“ zu verwirklichen. Seine Kompositionen verbreiteten sich zunächst über Flüsterpropaganda. Dann kamen Preise, Aufträge, Ruhm, aber kein Bruch in der Freundschaft zu seinem ehemaligen Orchesterkollegen Hermann Bäumer.

Im Dritten Mainzer Komponistenportrait, das in das von Bäumer dirigierte Neunte Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz im Großen Haus des Staatstheaters eingebettet war, standen beide zusammen auf der Bühne, zunächst in der überaus launigen Einführung, der obige Zitate entnommen sind. In Brett Deans Konzert für Viola und Orchester wirkte der Komponist als Solist. Den Beginn ließen die Violoncelli ganz allmählich über die Hörschwelle kriechen, bis die Solobratsche in den höchsten Tönen einstimmte: Laut Dean ein Klang, den andere Komponisten kaum zu schätzen wissen. Im Ausklang kommentierte die Solo-Bratsche sehr leise ein Solo der Oboe. Dazwischen war es so packend, dass es schwer fällt, etwas über die Tonsprache zu sagen, außer, dass sie an keinen anderen Komponisten erinnert.

Als eins von Bretts Deans bekanntesten Stücken folgte „Carlo” für Streicher, Sampler und Tonband. Letztere lassen die Quelle der Inspiration, das harmonisch kühne Madrigal „Moro, lasso, al mio duolo“ von Carlo Gesualdo durchschimmern. Aus den zugespielten und gesampelten vokalen Renaissanceklängen greifen die meist als Solisten agierenden Streicher einzelne Klänge und Motive auf und entwickeln sie weiter zu einer dramatischen Raserei, die an den Mord Gesualdos an seiner Frau und deren Liebhaber erinnert und schließlich eine humoristische Vollbremsung erfährt.

Umrahmt wurde das Portrait von zwei Werken des Lieblingskomponisten von Brett Deans Vater, Felix Mendelssohn Bartholdy. Krönender Abschluss war eine detailliert phrasierte und schattierte, spritzige und groovende, leidenschaftlich lustvolle Aufführung von Mendelssohns „Italienischer“ Sinfonie.

DORIS KÖSTERKE

 

Das Konzert wurde mitgeschnitten. Am 6.7. wird es im Deutschlandfunk Kultur, am 23.09.17 und 30.09. auf SWR2 gesendet, jeweils um 20:03 Uhr.