Lera Auerbach – Klänge mit Eigenleben

„Ich war sehr, sehr jung und das erste Mal von meinen Eltern getrennt“, schrieb Lera Auerbach über ihren spontanen Entschluss als siebzehnjährige Pianistin, ihre Konzertreise in New York zu unterbrechen, „ohne Englischkenntnisse, ohne Geld, ohne meine Familie, ohne alles“, um bis heute dort zu bleiben. Nach einem Studium an der Juilliard School half Gidon Kremer ihr bei ihrer steilen Karriere, vor allem in den USA.

Hermann Bäumer widmete der 1973 im Ural Geborenen Pianistin und Komponistin (auch Schriftstellerin und bildende Künstlerin) sein 5. Komponistenportrait. Er lockte sein Publikum mit Mozarts Sinfonie Nr. 40 g-Moll KV 550 ins Achte Sinfoniekonzert im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters. Aber diesen detailfreudig aufbereiteten Leckerbissen gab es erst als Nachtisch. Originelle Vorspeise war die Dur-Moll-kontrastfreudige Sinfonie in D, KV 19 des Neunjährigen. Dann folgten zwei Stücke von Lera Auerbach und dazwischen eins von Sofia Gubaidulina, die sich einst über Werke von Lera Auerbach geäußert hatte, sie sei „über die Reife und Tiefe“ darin „schlicht schockiert“ gewesen. Für derart Durchzwirntes und Raffiniertes hat der Deutsche Musikverleger-Verband (DMV) ihm und dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz den Preis für das „beste Konzertprogramm“ der Saison zuerkannt. Dieser Preis wurde im Rahmen des Konzerts durch den Präsidenten des DMV, Dr. Axel Sikorski verliehen, der zugleich der Verleger der Werke von Lera Auerbach ist.

Eigentlich wollte Lera Auerbach ihr fünfzigminütiges Erstes Klavierkonzert (2015) spielen, musste aus gesundheitlichen Gründen jedoch ihren Besuch in Mainz ganz absagen. So fand das auf drei Tage hin angelegte Komponistinnen-Portrait mit Sinfonie-, Werkstatt- und Gesprächskonzert ohne die Komponistin statt. Wie geplant erklang jedoch ihr Dialogue with time für großes Orchester (1997). Es begann mit einem mächtigen Pochen, aus dem die Stimmen einzelner Instrumente herausloderten, wie Flammen aus einem pulsierenden Lavastrom: Opulente, hoch dramatische Symphonik mit mikrotonalen Glissandi, mehr Farbenspiel als motivische Entwicklung. Letzteres galt auch für „Fachwerk“ für Bajan, Schlagzeug und Streicher von Sofia Gubaidulina. In erster Linie schienen die Klangmöglichkeiten des Bajan, des spezifisch russischen Knopfakkordeons ausgelotet. So weit, dass man die gehörten Klänge und Effekte einem Akkordeon nie zugetraut hätte. Darauf rührte Solist Maciej Frackiewicz alle Herzen mit seiner Zugabe: „l‘Entretien des Muses“ von Rameau spielte er mit extrem langem Atem, als intim verhaltene Klangrede von jugendlicher Liebe, Sehnsucht, und religiöser Hingabe.

Wie Dialogue with time wirkte auch Post Silentium (2012) von Lera Auerbach wie ein Parodieren durch Kirche, Kino, Folklore und russische Symphonik. Das Werkstattkonzert am folgenden Tag half sehr, den Höreindruck zu differenzieren: Hermann Bäumer zeigte die raffinierten Instrumentationen auf, mit denen Lera Auerbach den Klangflächen ein Eigenleben verlieh, etwa das Kräuseln der Klänge im Zusammenspiel mit der Singenden Säge (gespielt von der Vize-Weltmeisterin auf diesem Instrument, Katharina Micada). Vor allem aber, wie sehr das vordergründig Kollektive von unterschwelligen Widerständen durchsetzt und belebt war.

DORIS KÖSTERKE
28.04.19