Robert Schumanns Genie und Wahnsinn

Über dreißig Jahre hütete der Komponist Aribert Reimann (geboren 1936) ein Geheimnis: im Nachlass seines Onkels, eines Psychiaters, hatte er die Krankenakte von Robert Schumann (gestorben 1856) gefunden. Die heimliche Lektüre vertiefte seine ohnehin „starke Neigung“ zu Schumanns Werken, insbesondere zu dessen letztem Werk, dem Thema mit Variationen in Es-Dur, WoO 24. Unter diesem Eindruck schrieb er seine Sieben Fragmente für Orchester (in memoriam Robert Schumann). Das 1988 entstandene Werk eröffnete das Zweite Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz. „Wir haben lange überlegt, ob wir sie tatsächlich an den Anfang stellen sollen und haben es dann so entschieden, weil es einen anderen Zugang zu den folgenden Werken eröffnet“, erzählte Dirigent Hermann Bäumer im Einführungsgespräch. Im Erleben des Konzerts empfand man dies genauso: Schonungslos setzt Reimann die Schmerzen in Musik, die Schumann empfunden haben muss. Diese Schmerzen erscheinen jedoch nicht destruktiv. Eher erinnern sie an die vorübergehend schmerzenden Augen derer, die in Platons Höhlengleichnis zu einer höheren Stufe der Erkenntnis vordringen. Die musikalische Gestaltung ließ „diesseitige“ Melodien und „jenseitige“ Geräuschen in gleichem Maße ernst nehmen.

Vorbereitet durch das Hören von Reimanns Komposition, durch Bäumers Worte in der Einführung und die exzellent ausgehörte Realisation durch das Orchester erkannte man Schumanns beständigen Versuch, Momente einer „höheren“ Wahrnehmung in Musik zu setzen. Etwa in der genialen, von den Orchestersolisten kongenial umgesetzten Instrumentierung zu Beginn des Konzertstücks G-Dur op. 92, oder den märchenhaften Momenten im Konzertstück d-Moll op. 134 – über weite Strecken in beiden Stücken jedoch auch das Geklingel virtuoser solistischer Spielfiguren und die Degradierung des Orchesters zum stumpfen Jasager. Schumann hatte die Konzertstücke für seine Frau Clara als Solistin geschrieben. Hier spielte sie Tzimon Barto mitunter so zart, mit einem unendlichem Reichtum an klanglichen Nuancen im Pianissimo, dass man meinte, dort sitze kein ausgewachsener Mann im Pullover, sondern ein elfengleiches Wesen im weißen Spitzenkleidchen. Höhepunkt des Konzerts war Bartos Interpretation der so genannten „Geistervariationen“, oben genanntem letzten Werk von Robert Schumann, das er parallel zu einem Krankheitsschub geschrieben hat, wie Clara Schumann in ihrem Tagebuch eindrucksvoll schilderte.

Zu seiner sich anschließenden Zugabe, einer duftigen, vom Kontrapunkt sanft umspülten Melodie, wollte der Pianist sich nicht äußern.

Vorbereitet durch das Vorangegangene hörte man viel Schumann in Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie. Angesichts der restlos überzeugenden Programmgestaltung nahm man eine nicht immer genaue Koordination und automatisiert überspielte Kontraste nicht übel und gab sich dem Fluss der ins Jenseits zielenden Musik hin.

DORIS KÖSTERKE
12.10.18