Humor als treibende Kraft bei HK Gruber

 

Wie fängt man an? Das Schreiben eines Musikstücks stellt vor das gleiche Problem, wie ein Versuch, die Welt zu verbessern. In einer solchen Lage erinnerte sich der 1977 geborene österreichische Komponist Bernd Richard Deutsch an einen Rat von Helmut Lachenmann: Hör auf deine Umwelt und setz sie in Musik!

HK Gruber dirigiert Bernd Richard Deutsch

Deutsch hörte vor allem auf seinen Hund: der Komposition ›Mad Dog‹ (2011) nach zu urteilen ein lebhaftes Exemplar mit ungebrochenem Selbstbewusstsein. Das musikalische Abbild seiner Sprünge und Glissandi und der sich beständig ändernden Rhythmen seiner Atemgeräusche ließ unwillkürlich schmunzeln.

HK Gruber dirigiert HK Gruber

Humor scheint auch eine treibende Kraft von H(einz) K(arl) Gruber, unter anderem Kontrabassist, Hornist, Komponist und Kabarettist. Er dirigierte das Ensemble Modern im Mozart Saal in dieser Deutschen Erstaufführung und danach in zwei eigenen Werken: Als jemand, der genau weiß, was die hervorragenden Musiker auch ohne ihn schaffen und wo eine gezielte Geste sinnvoll ist, mit minimalistischen, unorthodox wirkungsvollen Bewegungen.

Eva Böcker spielt das Yo-Yo Ma gewidmete Cellokonzert

Ensemble-Modern-Cellistin Eva Böcker war Solistin in dem Cellokonzert von HK Gruber, geschrieben 1989 für Yo-Yo Ma. Ihrem kraftvoll zielsicherem Spiel schenkte man auch da vollstes Vertrauen, als sie den von HK Gruber im Einführungsgespräch so genannten „Fall des Ikarus“ aus den Höhen jenseits des Griffbretts auf die obertonreich vibrierende leere C-Saite vollzog.

In „Zeitfluren“ (2001) trieb der erfrischend querköpfige Wiener, am 3. Januar dieses Jahres fünfundsiebzig geworden, seinen charmant-subtilen Schabernack mit Idiomen von feinen Klangflächen zu fettem Bigband-Sound.

HK Gruber als Chansonnier

In drei Zugaben von Kurt Weill, dem „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“, dem „Klopslied“ und schließlich, begleitet von Ueli Wiget am Flügel, in der Seifenwerbung „Langsamer Fox und Algi Song“ (1920/21), betätigte sich der ehemalige Wiener Sängerknabe als (auf sein Notenblatt fixierter) Chansonnier und brachte einen großen Teil des Saales zum Toben.

DORIS KÖSTERKE
09.03.2018

Wunderbare Momente mit Pietari Inkinen

„Wir haben viele wunderbare Momente vor uns“, verhieß Pietari Inkinen als frisch gekürter Chefdirigent der Deutschen Radio Philharmonie im Herbst 2016. Nach dem Konzert, den der vor zehn Jahren aus der Fusion von Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken und SWR Rundfunkorchester Kaiserlautern hervorgegangene Klangkörper mit seinem neuen Chefdirigenten in der Mainzer Rheingoldhalle gab, dachte man: Momente, ja.

Wie eine idyllische Ansichtskarte klang die Aotearoa-Ouvertüre des neuseeländischen Komponisten Douglas Lilburn (1915-2001), entsprechend ihrem Titel, einem eher von Einwanderern gebrauchten Wort für Neuseeland aus der Sprache der Māori.

Das magnetische Pianissimo zu Beginn von Sibelius‘ Violinkonzert verriet musikalischen Gestaltungswillen. Ansonsten stand der ungarische Geiger Barnabás Kelemen im Mittelpunkt: Er wagte viel und beeindruckte technisch wie emotional. Doch zwischen ihm und dem Dirigenten fand keine wirksame Kommunikation statt. So wussten die Musiker nicht, wem sie folgen sollten, ihren Ohren oder den unentschiedenen Gesten des Dirigenten. Dass bei einem so schwierigen und rasenden Stück wie dem dritten Satz eine einmal entgleiste Intonation ebenso schwer wieder einzufangen ist wie ein rhythmisches Missverständnis, gehörte eher zu den begrüßenswerten Momenten des Konzerts: wie sonst soll man ermessen, wie schwierig diese Leistung ist, die sich auf CDs so glatt verkauft?

Als Hauptwerk des Abends hatte schon die launige Konzerteinführung durch Wolfgang Heitz alias Peter Tschaikowski dessen 4. Sinfonie angekündigt.

Fruchtbare Detailarbeit spürte man etwa gegen Ende des Ersten Satzes, im gefräßigen Grollen des schweren Blechs unter der zitternden Melancholie der Geigen, oder im zweiten Satz, in dem Inkinen mit der bloßen Hand die Klänge der Geiger malte. Als er dies für die Celli tat, nahm er den Dirigierstab in die Linke. Zu Beginn des dritten Satzes schwollen die ausgedehnten Pizzicato-Partien an und ab, als wären sie ein riesiger Insektenschwarm.

Doch diese aufwändige Feinarbeit schien längst nicht durchgängig geleistet. (Wann auch? Schließlich ist Inkinen international viel gefragt, nicht nur als Chefdirigent auch der Prager Symphoniker, beim Japan Philharmonic Orchestra und bei den Ludwigsburger Schlosskonzerten.) Als etwa, im zweiten Satz, die Bläser die höchste Erregung der Geigen mit einem gleichmütigen bla-bla-bla untermalten, fragte man sich: War das Ironie? Oder einfach nur unüberlegt? Allzu oft schienen etwa gesteigerte Lautstärken einfach nur vom Blatt gespielt, ohne eine gesteigerte innere Intensität zu spiegeln. Insgesamt schien Inkinen eher ein Gestalter für Momente von Schönklang, aber kein Stratege für tragfähige Spannungsbögen zu sein. Doch viel Teamgeist unter den Streichern, erfüllte Soli von Oboe, Fagott und Klarinette, sowie ein offensichtlich kollegiales Verhältnis zwischen Musikern und ihrem Chef geben Hoffnung auf „viele wunderbare Momente“.

DORIS KÖSTERKE

Prüfungskonzert IEMA 2017/18

 

Sie wirkten ein wenig bleich, als sie im Kleinen Saal der Musikhochschule auf die Bühne kamen: die Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) spielten ihr erstes von drei Prüfungskonzerten zum Semesterabschluss. Es begann mit dem Doppelkonzert „Doppler Wobbler“ (2011/12) von Ivo Nilsson, das nach einer Methode zum Aufspüren von Planeten in anderen Sonnensystemen benannt ist. An exponierter vorderster Front vor dem Ensemble standen Bratschistin Laura Hovestadt und Fagottistin Peng-Hui Wang in den Rollen zweier Planeten, die das Gestirn, das sie umkreisen, je nach Entfernung und eigener Masse unterschiedlich stark zum „Wackeln“ bringen. Ihr Kreisen um ein Zentralgestirn (hier: das Ensemble) ließ sich in Form künstlerisch simulierter Doppler-Effekten nachverfolgen. Die Vibration, die ein „Himmelskörper“ im anderen auslöste, übertrug sich in Form von Gänsehaut, auch angesichts der hohen Konzentration der Musiker.

Küsschen vom Komponisten Ivo Nilsson

Der aus Stockholm angereiste Komponist saß mit kritischem Blick im Publikum. Im Schlussapplaus belohnte er beide Solistinnen mit einem Küsschen, wie man es sich von Hindemith, Vivaldi oder Mozart vergeblich wünscht.

Das Kaleidoskop der Klänge in Treize couleurs du soleil couchant (1978) von Tristan Murail machte es der Phantasie leicht, sich das Farbenspiel eines Sonnenuntergangs mit seinem Wechsel aus gleißenden Strahlen (Flöte – Katrin Szamatulski, Klarinette – Moritz Schneidewendt); Violine – William Overcash; Cello – Kyubin Hwang), geräuschhaften Wolken und Reflexen (Vitaliy Kyiantsia, Klavier) vorzustellen. Die jungen Musiker hörten so genau aufeinander, dass die Klänge unbemerkt von einem zum anderen Instrument wanderten. Sie blieben direkt aufeinander bezogen, während sie den koordinierenden und klangmalenden Bewegungen des Dirigenten Lautaro Mura Fuentealba folgten und hielten die Spannung, wenn er nach Verklingen des Schlusstons das Stück noch lange in der Stille nachklingen ließ und vor einer vorschnellen Zertrümmerung durch Beifall bewahrte. Die wunderbare Aufmerksamkeit der Musiker füreinander (neben den bereits erwähnten auch Niamh Dell – Oboe; Gabriel Trottier, Horn; Per Håkon Oftedal, Trompete; Yu-Ling Chiu, Schlagzeug und Lola Rubio, Violine) blieb den gesamten Abend über ein beglückendes Erlebnis, auch in Jörg Widmanns Liebeslied für acht Instrumente (2010), im klanglich fragilen ASPRA (2012) von Carlo Ciceri (unaufdringliche Klangregie: Maximiliano Estudies), im mitunter folkloristisch-herzhaften Octet (1931) von Nikos Skalkottas und in den wie selbständige Schichten aus schnellen Tonrepetitionen einander überkreuzenden Handlungssträngen im Piece No. 2 for Small Orchestra (1986) von Conlon Nancarrow.

 

Zwei weitere Frühjahrskonzerte der IEMA finden statt am 2. und 3.3.2018, jeweils 19:30 im Kleinen Saal der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt am Main.

DORIS KÖSTERKE

Daniel Müller-Schott seziert Bachs Cello-Suiten

 

Einen guten Wein lässt man nicht einfach durch die Kehle rinnen. War das die Botschaft, die Daniel Müller-Schott im jüngsten der Frankfurter Bachkonzerte im Mozart Saal vermitteln wollte? Bachs oft so süffig und tanzfreudig gespielten Cello-Suiten wirkten bei ihm wie auf der Suche nach Unerhörtem gegen den Strich gebürstet. Eine herzhaft süffige Musikantik erlaubte sich Müller-Schott erst in den derben Folklorismen der Gigue der dritten Suite, die das Konzert beschloss.

Bachs Cello-Suiten gegen den Strich gebürstet

Das Präludium der Ersten (BWV 1007) begann er wie beiläufig referierend, um darauf, einem Haydnschen Paukenschlag nicht unähnlich, eine einzelne Note extrem zu dehnen. Statt diesen Hinweis wie eine Erleuchtung aufzunehmen fragte man sich, ob diese Note dieser Hervorhebung denn bedurft hätte. Starke Temposchwankungen und Lautstärke-Unterschiede wiesen darauf hin, dass Müller-Schott den Notentext auch noch im Augenblick des Zum-Klingen-Bringens hinterfragte. Dass er Verzierungen teilweise anders platzierte als der Notentext war ebenfalls ein Zeichen individueller Deutung und insofern kein Vergehen, als von den Cellosuiten kein Autograph existiert, an dem man ein „richtig“ oder „falsch“ festmachen könnte. Seine unmaskierte Spitzfindigkeit färbte allerdings dahingehend ab, dass man sich als Zuhörer etwa fragte: warum klebt er, wenn zwei Noten durch einen Bindebogen verbunden sind, noch so lange auf der zweiten, statt sie kurz abzuziehen? Zumindest in diesem Moment des Hörens hätte man die barocke Seufzer-Phrasierung als passender empfunden.

Hochintelligente Technik

Doch seine Technik ist überragend: Auch in der Richtung Unspielbarkeit tendierenden Fünften Suite (BWV 1011) blieb die Intonation weitestgehend sauber. Müller-Schott gönnte sich hier immerhin das Zugeständnis eines Notenständers, den er klug neben sich stellte und nicht, wie viele andere, wie ein Schutzschild zwischen sich und die Zuhörer. Seine Virtuosität, die er oft wie beiläufig einsetzt, schien nicht das Produkt erbarmungslosen Übens, sondern einer sehr eigenen und hoch intelligenten Art, die Schwierigkeiten zu analysieren und auf organische, wie zwangsläufig erscheinende Art souverän zu meistern.

Die erste Zugabe stammte von Ravel, die zweite, eigentlich ein Gitarrenstück und von Müller-Schott auf seinem Cello mit viel Humor auch so gespielt, von dem georgischen Komponisten Sulkhan Tsintsadze (1925-1991).

DORIS KÖSTERKE

Man kann mit Musik auch lachen

 

„Das Herz, das Gefühl hinter der Musik – das ist das Wichtigste. Man muss das suchen. Das ist das Schwierigste!“ – Im Gespräch mit Michael Rebhahn baute Bratschist Antoine Tamestit berührend gefärbte Brücken zum gut besuchten jüngsten Konzert im Forum N, das Luciano Berio (1925-2003) in den Fokus rückte.

Antoine Tamestit in Aktion und Gespräch

Tamestit, derzeitiger „Artist in Residence“ des hr-Sinfonieorchesters, war Solist in „Voci“ (1984) für Viola und zwei Instrumentengruppen, in dem Berio seine avantgardistische Tonsprache mit sizilianischen Volksmelodien verschmolzen hat, wobei nicht nur die Solo-Bratsche diese Liebes-, Arbeits- und Wiegenlieder und Balladen mit den emotionalen „Unsauberkeiten“ einer folkloristischen Frauenstimme anreichern soll. Die beiden Orchestergruppen waren im hr-Sendesaal als zwei verschieden große, mit deutlicher Lücke ineinander geschachtelte Schalen aufgestellt. Nach Tamestits Beschreibungen verstand man sie wie das Ineinander von Gegenwart und Geschichte, wie man es in sizilianischen Städten wie Palermo oder Agrigento erlebt.

Die experimentierfreudige Klangsprache war durchsetzt von herzhaften Dudelsack-Imitaten, Bänkelsänger- und Volkstanz-Idiomen. Nebenher staunte man über Tamestits virtuosen Wechsel zwischen erweiterten Spieltechniken, etwa ein an das Rasgueado von Flamenco-Gitarristen erinnernde Schrammeln der Saiten bis zur zart entrückten Flageolett-Melodie und zuckte zusammen, wenn unerwartete Resonanzen, Verstärkungen und Kommentare über den raumzeitlichen „Graben“ zwischen den Orchestergruppen sprangen.

Matthias Pintscher als Dirigent

Matthias Pintscher dirigierte spürbar als Komponist, als Nachschaffender von Werken, die er gründlich durchdrungen hat: voll und ganz bei Sache, mit vorbehaltlosem Ganzkörpereinsatz, in klaren, suggestiven Bewegungen, als vorausschauender Stratege und wirksamer Koordinator, auch in „San Francisco Polyphony“ (1973-74) von György Ligeti, einem akustischen Wimmelbild aus vielen gleichzeitigen und gleichwichtigen Vorgängen im Wechsel mit gläsernen Klangflächen und glitzerndem Farbenspiel, sowie in Berios 1968 vollendetem Hauptwerk „Sinfonia“ für acht (elektronisch verstärkte) Singstimmen und Orchester.

Sinfonia von Luciano Berio

Die groß angelegte, auf vielen Ebenen durchgestaltete, Musik-, Literatur- und Kulturgeschichte durchmessende Collage birgt Zitate und Stilkopien von Bach bis Boulez und ganz viel Mahler. Texte, die, von den acht Sängerinnen und Sängern der „Synergy Vocals“ souverän überzeugend gesungen, gesprochen, geflüstert und skandiert, mischten sich gleichberechtigt mit den Instrumentalklängen in ein klanglich-perkussives Konglomerat. Mitunter dachte man an Tamestits Worte aus dem Einführungsgespräch: „Man kann mit Musik auch lachen“.

DORIS KÖSTERKE

 

Vgl. auch die Rezension des Konzerts von Antoine Tamestit und Masato Suzuki

Musikalische Erkenntnistheorie

IEMA-Stipendiaten 2017/18 im Senckenberg Museum

 

Ryoanji (1984) von John Cage ist so angelegt, dass es von Aufführung zu Aufführung immer wieder anders klingt. Es wurde von einem Meditationsgarten im gleichnamigen Tempel in Kyoto inspiriert, in dem 15 Steine scheinbar zufällig verstreut in weißem, gerechten Kies liegen. Die erkenntnistheoretische Delikatesse: es gibt es keinen Platz, von dem aus man alle Steine zugleich sehen könnte.

Im jüngsten Konzert im Senckenberg Naturmuseum mit Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) des Jahrgangs 2017/18 wurde eine Besetzung für Schlagzeug und drei Bläsern weit über den Raum verteilt – eine wunderbare Parallele zu dem Garten, dessen Steine aus jedem Blickwinkel andere Muster ergeben. Unvorhersehbar waren die Schläge auf Holzblock und Pauke, mit denen Schlagzeugerin Yu-Ling Chiu zwischen den Skeletten von Grind- und Narwal ein reduziertes Abbild der Spuren des Rechens im Kies symbolisierte. Rund um das elefantenflankierte Publikum gaben Oboistin Niamh Dell, Klarinettist Moritz Schneidewendt und Flötistin Katrin Szamatulski die Steine.

„Erde“ war dieses zweite von vier Konzerten überschrieben, mit denen das Senckenberg Museum auf seinen entstehenden Erweiterungsbau hinweist, in dem unter den Rubriken „Mensch, Erde, Kosmos und Zukunft“ Biodiversität und Klima-Erwärmung anschaulich werden sollen.

Um „Erde“ ging es auch in „Landscape of Diffracted Colours“ (2005) von Peter McNamara, der das Farbenspiel Australiens in instrumentale Klangfarben übersetzte. Toll, wie die jungen Stipendiaten diese Aufgabe gerade einmal dreieinhalb Monate nach Beginn ihres Masterstudiums am Institut für zeitgenössische Musik IzM der Frankfurter Musikhochschule angingen: gekonnt, sensibel, engagiert und beherzt.

Unterdessen schien der entfleischte Iguanodon im vorderen Lichthof schon lange sehr interessiert die drei Batterien aus unterschiedlich weit gefüllten Trinkgläsern zu inspizieren. Auch Tamtams, Maracas gehörten zum erweiterten Instrumentarium im „für elektrisches Streichquartett“ geschriebenen „Black Angels“ von George Crumb (*1929), einem Meister der Klangfarben. Für Rückblenden in vergangene Tonsprachen wurden auch Violinen (William Overcash, Lola Rubio) und Bratsche (Laura Hovestadt) senkrecht gehalten. In hohen Lagen des Griffbretts gegriffen und quasi auf der „falschen“ Seite gestrichen erinnerte der Klang an ein Violenkonsort der Renaissancezeit. Die Zitate wirkten so in doppelter Weise entrückt. Dazwischen schillerten poetische Kantilenen der Cellistin Kyubin Hwang. Die elektronische Weiterverarbeitung (Klangregie: Maximiliano Estudies) half den Streichern nicht nur, sich besser gegen den Bordun der Lüftungsanlage behaupten können. Sie sorgte auch für jene unwirkliche, gläserne Klanglichkeit, die man mit dem Jenseits verbindet.

DORIS KÖSTERKE

Vollautomatisierte Hochgeschwindigkeitspräzision

 

Ensemble Resonanz und Pianist Kit Armstrong in Frankfurt

 

 

Ein intelligentes Programmkonzept prägte das jüngste der Frankfurter Bachkonzerte im Großen Saal der Alten Oper, bestritten vom Hamburger Ensemble Resonanz und dem Pianisten Kit Amstrong. Angel- und Höhepunkt war die Aufführung des 1985-88 geschriebenen Klavierkonzerts von György Ligeti.

Die Brücke von Bach zu Ligeti trägt: Auch Bach war ein experimenteller Komponist, dessen Wagnisse so manchem seiner Zeitgenossen die Fußnägel nach oben rollten. Beide liebten die Polyphonie, in der das Ganze von mehreren eigenständigen, in sich tragfähigen Stimmen gestaltet wird. Und beide rufen mit konstruktivistischen Mitteln enorme emotionale Wirkungen hervor.

In Ligetis Klavierkonzert überlagern sich verschiedene Rhythmen in verschiedenen Geschwindigkeiten. Von Johannes Fischer unbeirrbar klar dirigiert ließ das durchkalkulierte Mit- und Nebeneinander von Klavier und Orchester bisweilen an afrikanische Trommelrhythmen denken, die wie verschieden große Zahnräder ineinandergreifen und sich zu immer wieder neuen Mustern überlagern, von Passagen klar herausgearbeiteter Trennschärfe zu spannungsreichen Mixtur-Klängen. Der zweite Satz bezauberte mit seine Reichtum an pianistischen Farben, die Kit Amstrong trefflich herausgearbeitet hatte, bisweilen im magnetischen pianissimo.

Es war Ligeti, der auf die Studies for Player Piano des amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow aufmerksam wurde. Sie ähneln klangforscherischen Experimenten, die nicht für die Aufführung durch Menschen gedacht sind. Zwei von ihnen erklangen auf einem eigens dafür hergerichteten Bösendorfer-Flügel, darunter die Nr. 8, ein Kanon in variablen Geschwindigkeiten. Einen weiteren Schwerpunkt in diesem überlangen Konzert bildeten Stücke von William Byrd (1543-1623). Für das zarte Viginal geschrieben, von Kit Amstrong auf dem Flügel gespielt, klang „O Mistress Mine“ (MB 83) zwar wunderbar durchsichtig, der Verzierungsreichtum jedoch wie ein zu dick beschmiertes Butterbrot. Als Klammer hatten zwei Werke von Johann Sebastian Bach gedient, zum Einspielen das Fünfte Brandenburgische, in dem Kit Armstrong am Cembalo erleben war, zum Ausklang das  Klavierkonzert d-Moll – BWV 1052, in dem er wieder am Flügel saß. Beide Interpretationen befriedigten alle Ansprüche an rasende Geschwindigkeiten. Aber in ihrer Überraschungsarmut wirkten sie so, als seien sie schon gar zu oft gespielt worden.

Die Zugabe war Kit Amstrongs eigene Übertragung des Choralvorspiels „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ BWV 721. Die unerschrocken über mulmigem Stimmgewusel schwebende Melodie schloss den Bogen zur mehrschichtigen Anlage der vorangegangenen Kompositionen.

DORIS KÖSTERKE

In Vain von Georg Friedrich Haas

 

In vain von Georg Friedrich Haas gilt als musikalisches Meisterwerk des einundzwanzigsten Jahrhunderts. In diesem 2000/02 geschriebenen Orchesterstück 1953 geborene österreichische Komponist Österreicher hat darin sein Ziel erreicht, „Emotionen und seelische Zustän­de von Menschen so zu formulieren, daß sie auch von anderen Menschen als die ihren angenommen werden können“. Durchkomponiert sind darin nicht nur die Stimmen von 24 Instrumenten, sondern auch die Beleuch­tung: zwei Zeitstrecken innerhalb des rund siebzig Minuten füllenden Werks werden in völliger Dunkelheit aufgeführt, in der man auch nach Eingewöhnung die sprichwörtliche Hand vor Augen nicht sieht. Um diese besondere Situation schaffen zu können, zog das Ensemble Modern zur Aufführung dieses Werkes von der Alten Oper in die Union Halle um. „Im Mozart Saal hätten wir in einer grünen Soße aus Notausgangbeleuchtungen geschwom­men“, sagte Ensemble-Modern-Geschäftsfüh­rer Christian Fausch dazu.

Haas ist überzeugt, dass die Grausamkeit der NS-Zeit „nur möglich war, weil die Nazis ihr Mitgefühl so massiv unterdrückt haben“. Eigene Gefühle zuzulassen, zu kultivieren und im Gegenüber zu erwecken ist für ihn eine politische Aussage. Daher kann man sich von seinem Werk emotional packen lassen, ohne etwas über seine Machart zu wissen. Doch das Einfüh­rungsge­spräch zwischen Christoph Dennerlein und dem Dirigenten Jonathan Stockhammer führte tiefer in das unkonventionelle Stück ein. Etwa auf das Paradoxon, dass hohe Geschwindigkeiten den Eindruck erwecken, dass die Zeit still steht, während man bei langsamen Bewegungen wie mit dem Vergrößerungsglas in die Klangwelt eintaucht und empfinden kann, wie bei Überlagerung verschiedener Frequenzen auch Töne entstehen, die gar nicht gespielt werden und Klangfarben entstehen, die man mit keinem der spielenden Instrumente in Verbindung bringt. Oder darauf, wie neonazistische Strömungen es als vergeblich – in vain – erscheinen lassen, wenn man sich selbst vom Gedankengut seiner Vorfahren befreit zu haben meint. Man erfuhr auch vom beabsichtigt-reibungsreichen Nebenein­ander zweier Tonsysteme, dem gleich­schwe­bend temperierten, nach dem etwa Klavier, Akkordeon oder Marimba gestimmt sind (Stockhammer bezeichnete diese Stimmung als „H-Milch-Entscheidung“) und dem „natürlichen“ Tonsystem, das aus dem Obertonspektrum von Klängen abgeleitet ist und das man etwa in der rein durch Überblasen hervorge­brachten Obertonskala von Blasinstrumenten findet. Die Streicher standen vor der Herausforderung, zwischen beiden Tonsystemen zu wechseln. Ein kompositorisches Verdienst von Haas ist es, unter den vielen möglichen Schwebungen meistens die angenehmen herauszufiltern und nur zu besonderen Ausdruckszwecken auf die schmerzhaften zurückzugreifen: Weil es um Nazis geht, hat auch die Gewalt einen Platz in diesem Stück. Ausgelöst durch die Musik sah man vor dem inneren Auge die Mistgabeln autochthoner Fremdenfeinde auf sich gerichtet. Doch insbesondere in den Dunkelphasen – die erste dauerte rund sechs Minuten, die zweite rund zwanzig – empfand man eine tiefe innere Zentrierung und sogar ein Gefühl von Schwerelosigkeit.

Die musikalische Sprache führte einen Zustand organisch in den nächsten über: Irritation, Suche nach Halt, Gewalt, Distanzierung, innerer Friede, neue Unsicherheit, neues Aufkeimen von Hass und sein abrupter Abbruch, als seien die Neonazis einem plötzlichen Herztod erlegen.

Nicht enden wollender Beifall zeigte eine tiefe Dankbarkeit für das Erlebnis. Ein besonders dickes Lob den Musikern, die in ständig wechselnden Tempi mit vollem Einsatz bei der Sache waren und ihre Parts in der Dunkelheit nicht nur auswendig gelernt, sondern auch in hohem Maße eigenverantwortlich durchgezogen haben.

Eine Frage noch: Können die Abonnementskonzerte nicht auch künftig in der sehr viel passenderen Atmosphäre der Union Halle stattfinden?

DORIS KÖSTERKE

Raus bist du, wenn du dir die Preise nicht leisten kannst

 

(Stadt) Land Fluss von Daniel Kötter und Hannes Seidl

Musiktheater-Premiere beim Festival „Displacements. Andere Erzählungen von Flucht, Migration und Stadt“

 

Was ist eine Mauer gegen die Möglichkeiten von Internet und Hacking? Die eigentlichen Grenzen, betont der an der Denver University lehrende Philosoph Thomas Nail, sind sozialer Natur: Ohne Papiere keine Wohnung, keine Arbeit. Ohne Smartphone kein Anschluss an die Welt. Ohne Segelyacht – und so weiter. In jedem Bereich der Gesellschaft gibt es Vertriebene und Migranten. Seine Rede, „The Figure of the Migrant“, eröffnete das Festival „Displacements. Andere Erzählungen von Flucht, Migration und Stadt“: Im Mousonturm und rund um ihn herum wird bis zum vierten Februar 2018 mit vielfältigen Mitteln der Kunst operiert.

Den Anfang machte „(Stadt) Land Fluss“, die jüngste Musiktheaterproduktion von Daniel Kötter und Hannes Seidl. Sie macht jeden Besucher zum medial gesteuerten Migranten: mit einem Kopfhörer ausgestattet, aber ohne Sitzplatz und ohne Sicherheit vermittelndes Gepäck („Taschen bitte an der Garderobe abgeben!“) läuft man beim Betreten des Saales zunächst gegen Wände. Doch wie im Rest der medial vermittelten Welt erscheint das mit eigenen Sinnen direkt erfahrbare Labyrinth aus auf Metallrahmen verschraubten Gipsplatten als längst nicht so wichtig, wie die in unregelmäßigen Abständen darauf montierten Smartphones und die Videofilme, die darauf laufen.

Sie zeigen aus vielen verschiedenen Perspektiven eine umzäunte Containerstadt. Den im Hintergrund erkennbaren Elbbrücken nach zu urteilen liegt sie im flussaufwärts erweiterten Hamburger Hafengebiet. Ein unwirtlicher Ort: Das regionaltypische Schmuddelwetter hat den Boden aufgeweicht. Von See her weht eine dermaßen steife Brise, dass mehrere vereinte Manneskräfte es kaum schaffen, eine Plane als Unterstand neben einer hell erleuchteten Bude zu befestigen.

Christina Kubisch hat die Geräusche dieser Containerstadt eingefangen, vor allem die fröhlichen der vielen Kinder. Neben diesen eingespielten Geräuschen hört man mit den elektromagnetischen Kopfhörern auch fließenden Strom, die Lebensader des Digitalen. Und an einigen Stellen auch Reden: Mutmaßlich ein Stadtentwickler träumt von einer Stadt, die an dieser Stelle wachsen soll, rundum lebenswert, multikulturell, lebendig, tolerant. Unausgesprochen bleibt: Raus bist du, wenn du dir ihre Preise nicht leisten kannst. Und die müssen so hoch sein, um den Aufbau eines neuen Containerhafens zu finanzieren.

Die Musik (wir nennen sie so, weil sie in geplanter Weise mit geplanter Wirkung vielgestaltige Klänge in vielgestaltigen Rhythmen bewegt) von Niklas Seidl lässt dabei nur selten an Spannungen denken. Das Hantieren der Musiker Sebastian Berweck, Martin Lorenz, und Andrea Neumann an Plattenspielern, Lautstärkereglern und auf präparierten Klaviersaiten bildet spürbare sinnliche Anziehungspunkte. Auch ihre Aktionen sind elektronisch verstärkt, geformt und vermittelt.

So wandelt man von einer Station zur anderen, von einem akustischen Feld und von einem Video zum nächsten. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, die einem mit auf den Weg gegeben wurde: Wem gehört diese Stadt? Im Bewusstsein, dass man das Ganze, sollte es überhaupt als fassliches Ganzes beabsichtigt sein, allenfalls bruchstückhaft erfassen kann. Doch eine Frage trägt man aus dem Kunstwerk in den Abend und den Rest der Welt: Was ist bei Stromausfall?

DORIS KÖSTERKE

 

„Weihnachtsimpressionen“ von Alfred Stenger

Uraufführung im Weihnachtskonzert der Frankfurter Musikhochschule

In der Uraufführung der „Weihnachtsimpressionen“ von Alfred Stenger gelangen dem Frauenchor gut ausgehörte Spannungsharmonien in melodischen Parallelführungen. Die rund ums Publikum platzierten Flöten, sowie die von der Empore herab Tönenden, Sopran und Trompeten, waren vom Dirigenten Günther Albers wirkungsvoll mit den Musikern auf der Bühne koordiniert. Interessant an diesem Werk waren die in verschieden rhythmisierten Akkordbrechungen glitzernden Klangflächen. Der üppige Beifall galt sicher nicht zuletzt der Person des auch als Dirigent und Pianist beliebten Hochschullehrers.