lichtverzwickt – Vertonungen ohne Goethe

„Goethe und die Musik“ ist die siebte Goethe-Festwoche überschrieben. Bei der Eröffnung im Frankfurter Goethe-Museum tagte eine vergnügliche Gesprächsrunde aus vier promovierten Musikwissenschaftlern, moderiert von Julia Cloot. Die ungeheure Zahl allein an Faust-Vertonungen? „Vorsicht!“, mahnte Friederike Wißmann: Von Liedern abgesehen beschäftigten sich die meisten Komponisten darin weniger mit Goethe als ganz allgemein mit dem im 16. Jahrhundert aufgekeimten Faust-Stoff, sagte die an der Schnittstelle zwischen Literatur und Musik forschende Bonner Professorin. Peter Gülke regte an, sich Goethes Tonlehre einmal auf rein philosophischem Wege zu nähern, ohne sie gleich mit natur- oder musikwissenschaftlichen Mitteln von der Hand zu weisen.

Vierter der Runde war Gordon Kampe, dessen Auftrags-Komposition „lichtverzwickt“ an diesem Abend ihre Uraufführung erlebte. Wie er darangegangen sei? Textvertonung sei seine Sache nicht, antwortete der gelernte Hamburger trocken. Auf der Suche nach einer höheren Abstraktionsebene als Ansatz für seine Komposition habe er sich Goethes Farbenlehre vorgenommen, vor deren Umfang und Schreibstil unter dem Zeitdruck des Auftrags bald kapituliert und sich dann einem Physikbuch zugewandt, das Goethes Farbenlehre mit der von Newton in Beziehung setzte. Grundsätzlich liege es auch ihm näher, die Spektren des Lichts in einem dunklen Wald statt im Dunkelkammerversuch auf sich wirken zu lassen, sagte Kampe, dessen Musik mit unmittelbar körperlich wirksamen Mitteln arbeitet. Um sich gegen jeden Esoterik-Verdacht zu schützen, habe er dunkle Farben gewählt: Englischhorn, Bassklarinette, Fagott, Viola, Violoncello und Kontrabass flankieren Horn und Posaune. Der Beginn wirkte wie das Sich-Anbahnen eines Erdbebens: Klangplatten scheinen sich gegeneinander zu verschieben, ineinander zu verzahnen, aufzutürmen und dann in einen Rhythmus aufzubrechen, dessen Sog man sich unwillkürlich anvertraut und zugleich darüber lachen möchte: Wie die einzelnen Soli, die sich immer wieder aus dem Kollektiv herausschälen und klanglich bisweilen an das Gezeter menschlicher Stimmen erinnerten. Auf den Humor in seiner Musik angesprochen, hatte Kampe einmal an „das bittere Lachen von Franz Kafka“ erinnert. Das für ihn charakteristische Umschlagen von einer Ebene in eine andere, von Albernheit in Tiefsinn und zurück, spürte man in ruhigen Klangflächen, über denen es sich Fata-Morgana-ähnlich zu spiegeln begann und in Klangfarben, bei denen man sich irritiert fragte, welches Instrument sie hervorbrachte. Humor spürte man auch in wiederholten Schlusswirkungen, die sich jeweils als Neuansatz entpuppten, der beim dritten Mal tatsächlich zum Schluss führte. (Hatte Goethe eigentlich Humor?)

Im gleichberechtigten Miteinander in Beethovens Septett op. 20 haten sich die sieben starken Persönlichkeiten aus dem Ensemble Modern die Bravos redlich verdient.

DORIS KÖSTERKE

6.9.2018

Pianist Seong-Jin Cho

Vergnügt blickt er auf seine Hände, wie sie die Hochgeschwindigkeitsläufe im Finalsatz von Chopins Dritter Klaviersonate vollführen. Immer wieder lacht er unterm Spielen in sich hinein. Der 24-jährige Seong-Jin Cho wirkt keineswegs wie ein nach standardisierten Kriterien dressierter Hochleister: Es schienen seine eigenen existenziell bohrenden Fragen zu sein, mit denen er etwa Beethovens „Pathétique“ einleitete. Und seine Spielfreude überträgt sich so unwillkürlich auf die Zuhörer wie seine Konzentration.

Zwischen einem Konzert mit dem European Union Youth Orchestra am Vorabend in Amsterdam und einem weiteren, zwei Tage später in London, gab der Gewinner des Internationalen Chopin-Wettbewerbs 2015 im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg sein Debut beim Rheingau Musik Festival.

Im ersten der Fantasiestücke op. 12 von Robert Schumann, Des Abends, mit dem er sein Konzert begann, schien er noch nach einem eigenen Klang zu suchen, der sich von dem überlieferten zarten der Widmungsträgerin unterschied. Der „Aufschwung“ schien seiner Lust am Spielen mit Farben und Mustern, am Schaffen von Atmosphären und Phantasiebildern am ehesten zu entsprechen, die er in Debussys Zweitem Buch der Images aufs Überzeugendste auslebte: im dritten und letzten „Bild“, Poissons d’or war es, als fühlte man die Goldfische durch die eigenen Finger glitschen.

Die erste Konzerthälfte mit Schumanns Fantasiestücken und Beethovens „Pathétique“, hatte eine geschlagene Stunde gefüllt, ohne dass einem die Zeit so lang vorgekommen wäre. In der zweiten, mit Debussys Images und der erwähnten Chopin-Sonate, spürte man die Längen der letzteren und fragte sich, ob es möglich wäre, sie mit einem einheitlichen dramaturgischen Bogen zu überwölben.

An seiner Technik ist nichts auszusetzen: sie fasziniert mit trockener Durchsichtigkeit. Altersgemäß gelingen ihm die virtuosen Sätze überzeugender als die langsamen.

Seine beiden Zugaben waren „der“ Liebestraum von Franz Liszt und Chopins Revolutionsetüde d-Moll op. 10 Nr. 12. Als Chopin sie schrieb, angeblich in einem Wutanfall über den Einmarsch russischer Truppen in Warschau, die den Kampf um die Unabhängigkeit Polens 1930/31 blutig niederschlugen, war auch er erst Anfang Zwanzig. – Man wüsste gern, wonach Seong-Jin Cho so leidenschaftlich fragt, wenn er sie spielt. Nur nach Fingersätzen?

DORIS KÖSTERKE

17.8.2018

Gambistin Hille Perl

Das lebende Gesamtkunstwerk Hille Perl verströmte sein Charisma: im leidenschaftlich drängenden, packenden Ausdruck, in sanft fließend untermalendem Schönklang, in technisch sicher fundierter Virtuosität. Ihre Beiträge zu Händels frühen Kantaten fesselten die Aufmerksamkeit oft weit mehr als die Singstimme von Dorothee Mields. Die oft zu tiefe Intonation der Sängerin machte die Schwierigkeiten bewusst, mit denen sie in diesem Konzert „Händel in Rom“ beim Mainzer Musiksommer zu kämpfen hatte: zur klanglichen Orientierung hatte sie nur die rasch verklingenden Lautentöne von Lee Santana. Hille Perls Gambe war eher Gesprächspartnerin, die schwieg, wenn die Sängerin etwas zu sagen hatte. Die ohnehin schwierige Akustik der Mainzer Seminarkirche machte es ihr nicht leichter.

Ergänzend zu Kantaten des noch blutjungen Händel erklangen barocke Sonaten für Gambe und basso continuo. Allein von der Laute gespielt, ohne Unterstützung von Fagott oder Violoncello, bildete der Generalbass hier keinen echten Widerpart zur Gambenstimme. Hinzu kam, dass Hille Perl auf ihrem Instrument singt, ohne zu atmen. Phrasenanfang und Phrasenende verschwimmen ebenso, wie notiertes Gerüst und improvisiertes Verzierungswerk. Das macht es jedem Begleiter schwer. Auch einem wacheren und engagierteren als Lee Santana, der an diesem Abend über seinen Noten brütete, als wolle er am liebsten seine Ruhe haben. Von zwei sich auf Augenhöhe herausfordernden Musizierpartnern gespielt hätten die frenetisch beklatschten Folies d’Espagne von Marin Marais noch berauschender geklungen.

In Händels „La Lucrezia“ gelang es Dorothee Mields, ihre schönen Töne mit Text und Gehalt zu verschmelzen. Die Kantate handelt von der stolzen Römerin, die von einem Sohn des Tyrannen vergewaltigt wurde. Sie sinnt auf Rache. Dich diese Welt bietet ihr keine geeignete Möglichkeit dafür. So bringt sie sich selbst um. Als Furie in der Hölle, hofft sie, wird sie sich an ihrem Schänder rächen können.

Gelungenster Teil des Abends war die Zugabe: In der Arie „Col partir la bella Clori“ aus Händels Kantate „Ah! che pur troppo è vero“ gaben langsames Tempo samt Nachhall allen Beteiligten Gelegenheit, ihre Töne im gemeinsamen Klangbild einzuordnen und zu formen.

DORIS KÖSTERKE

16.8.2018

Pianistin Julianna Awdejewa

Der Freund ist tot. Scheu nähert sich der Hinterbliebene dessen Zeichnungen und Gemälden. Aufgeregt, verunsichert, voll Schmerz, auch Angst, mit deutlicher Überwindung. In ihrer Interpretation der „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgski spürt die Pianistin Julianna Awdejewa all diesen Facetten nach: gründlich, unsentimental, mit enormer dynamischer Bandbreite und einem einzigen, den gesamten Zyklus überformenden Spannungsbogen.

Ihr Konzert bei den Burghofspielen im Wiesbadener Christian-Zais-Saal hatte sie mit neun Werken von Chopin begonnen. Ihre Eröffnung mit dem posthum veröffentlichten Nocturne cis-Moll, aus einer konzentrierten Stille und Verhaltenheit zu einem bedrängenden Fortissimo und einem wohldosierten Rückzug ins kaum noch Hörbare zeigte, dass es ihr nicht um die Gestaltung leicht konsumierbarer Oberflächen für schmachtende Damen jeglichen Geschlechts ging, sondern um den sperrigen Gehalt darunter, etwa um die tonalitätsfernen Mixtur-Klänge im Prélude cis-Moll op. 45, das sie dem Scherzo cis-Moll Nr. 3 op. 39 voranstellte, über dessen gespenstische technische Schwierigkeiten sie souverän erhaben war. Bitter lächelte sie über die inneren Dialoge in der Mazurka fis-Moll Nr. 3 op. 59, die Polonaise fis-Moll op. 44 entwickelte sich zum Teufelsritt, dem man im vorletzten Satz der „Bilder einer Ausstellung“ wieder begegnete.

Im ersten Bild, Gnomus, stand weniger das Komische im Vordergrund als die bange Frage des Freundes an den Verstorbenen, ob er sich vielleicht aus irgendwelchen Gründen genauso gefühlt habe. „Il vecchio castello“ war in der Interpretation von Julianna Awdejewa (oder Yulianna Avdeeva, wie die Umschrift von Юлианна Андреевна Авдеева im angelsächsischen Sprachraum lautet) keine harmlose Romanze, sondern tiefer Schmerz, aus der eine besonders energische „Promenade“ zu den frech im Garten der Tuilerien spielenden Kinder, als zeigten sie der Künstler selbst im Kampf mit seinen Erziehern, über die er sich schließlich hinwegsetzt, um, im Bild „Der Ochsenkarren“, mit mächtiger Entschiedenheit seinen beschwerlichen Weg zu gehen, der über das Ballett der Küken in ihren Eierschalen, über das bedrohliche Gespräch des reichen „Samuel“ mit dem armen zittrigen „Schmuÿle“ und den bunten Markplatz von Limoges schließlich, in den römischen Katakomben, die Fragen nach den Letzten Dinge stellt. Die Todesangst angesichts der in Tritonus-Rufen über ihr sicheres Opfer triumphierenden Hexe Baba-Jaga geht fast unmerklich in die Erlösung über, die Mussorgski mit der Skizze des Verstorbenen für ein noch zu bauendes Tor von Kiew verband: als Kulmination alles Gewesenen in fatalistischer Gelassenheit und der Ruhe in einem großen Glaubensbekenntnis. Die beiden Zugaben waren die Mazurka op. 7 Nr. 3 und die As-Dur-Polonaise von Chopin.

DORIS KÖSTERKE

15.8.2018

Erwin Stache macht hören

Ein alter Stromzähler – oder? – Man tritt näher und schon beginnt es darin zu blinken und zu klicken. Verunsichert weicht man zurück und „Die Wundermaschine“ von Erwin Stache schweigt wieder, als wollte sie sagen: wenn du auf mich zugehst, dann spiele ich mit dir. Sonst nicht. – …weiterlesen

Albrecht Mayer und Sinfonietta Cracovia

Er analysiert aufs Genaueste, plant mit strategischer Akribie, übt unmäßig viel, um alle technischen Schwierigkeiten souverän meistern zu können und verbirgt dann alles unter der benutzerfreundlichen Oberfläche des Musikantischen: Das Bild, das man von Albrecht Mayer als Oboist gewonnen hatte, rundete sich an diesem, „Mozarts große Nachtmusiken“ überschriebenen Abend im Kreuzgang vom Kloster Eberbach, an dem er in zwei Stücken rein als Dirigent zu erleben war. Sein drittes Instrument, neben Oboe und Englischhorn, war die hellwach reagierende Sinfonietta Cracovia mit ihrer besonders im fein ziselierten Pianissimo-Bereich magnetisierenden Klangkultur.

Mit minutiös abgestuften Kontrasten wurde Mozarts Kleine Nachtmusik architektonisch aufgefächert, allerdings auf Kosten des energetischen Flusses.

Über seinen guten Freund Joseph Fiala (1748-1816) schrieb Mozart, dass er „recht hübsch“ komponiere und „sehr gute gedancken“ habe. Von dem gebürtigen Böhmen, der auch selbst Oboist war, erklang das Konzert für Englischhorn und Orchester C-Dur. Umsichtig stellte Mayer seinen Notenständer niedrig genug ein, um den Kontakt zum Publikum nicht zu behindern. Fialas hübsche, schwebend leichte Musiksprache war der Mozarts nicht unähnlich. Die Entwicklung seiner „gedancken“ schien jedoch vorhersehbarer. Um die weit ausschwingenden Melodiebögen im langsamen Mittelsatz so bezaubernd wie nur irgend möglich zu gestalten, wandte Mayer die Zirkularatmung so exzessiv an, dass er blau anlief.

Über den Klangcharakter der Oboe lernte man in Mayers eigener Bearbeitung von Mozart Andante für Flöte und Orchester C-Dur KV 315 für sein Instrument die introvertierte melancholische Seite des hyperaktiven Gute-Laune-Komponisten lieben. Um den butterweichen Klang seines Instruments gleich noch einmal auskosten zu lassen, schob er an dieser Stelle die Zugabe ein, die Sinfonia aus Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“, bevor, mit Pauken und voll besetzter Bläserriege, Mozarts „Haffner-Sinfonie“ den Abend beschloss – zusammen mit der Eberbacher Farbensymphonie für weiße Mauern mit rotem Fachwerk, aus dem die Trauerweide sich wie eine Solistin erhebt, um vor dunkelblauem Samt-Himmel mit den Schieferdächern und den Silhouetten der Türmchen zu kommunizieren.

DORIS KÖSTERKE

10.8.2018

Aus Bach mach neu – Approach von Brett Dean

 

„Expedition Sound“ beim Rheingau Musik Festival –

 

Neue Kompositionen im Dialog mit vier Brandenburgischen Konzerten

 

 

Die Bravos, die durch den Wiesbadener Friedrich-von-Thiersch-Saal hallten, nachdem das Sechste von Bachs Brandenburgischen Konzerten verklungen war, klangen ehrlicher, tiefer empfunden, als wenn sie sich nur an den virtuosen Leistungen der beiden Solisten, Tabea Zimmermann und Brett Dean samt ihren Begleitern entzündet hätten: Spürbar hatte diese Aufführung ihren Zuhörern etwas „gesagt“. Nicht zuletzt, weil Brett Deans Komposition „Approach“ die Ohren für eine Besonderheit dieses Werkes gespitzt hatte. Im Rahmen des „Brandenburg Project“ des Swedish Chamber Orchestra, das jeweils eines von Bachs Konzerten BWV 1046-1051 einer darauf bezogenen zeitgenössischen Komposition gegenüberstellt, rieb Dean sich an dem Kanon der beiden Solisten, mit denen das dunkel timbrierte Werk beginnt. Das Besondere an diesem Kanon ist, das die beiden Stimmen einander in minimalem Abstand (von einer Achtel in einem Alla-breve-Takt) folgen. Sie erinnern dabei an zwei Parkourläufer, die fast nebeneinander Parkbänke, Autos und Mauern überwinden, der eine mit dem (schweren) linken, der andere mit dem (leichten) rechten Bein zuerst. Brett Dean reizte es, in seiner Komposition die Unterschiedlichkeit der beiden Solo-Partner herauszustellen. Dadurch wurde die Leistung in Bachs Komposition, in der beide Stimmen mit unterschiedlicher Gewichtung (leichtes Bein, schweres Bein) exakt Gleiches leisten, umso eindrucksvoller. Als Fokus-Künstler des Rheingau Musik Festivals hatte er in seiner Doppel-Rolle als Komponist und Interpret nach dem Wesen von Polyphonie gefragt und eine sinnlich einleuchtende Antwort präsentiert.

Die atmosphärisch dichte Aufführung entschädigte für die beiden vorangegangenen: Für die nebeneinander, aber nicht miteinander agierenden Solisten in Bachs Fünftem Brandenburgischen und für „Hamsa“ (arabisch: Fünf) von Uri Caine. Die Anspielung auf Bachs Zahlensymbolik mochte als von der Energetik des Jazz getragener surrealistischer Fantasie-Regen gemeint gewesen sein. Doch das bloße Abspielen einer mit Jazz-Idiomen gespickten Partitur unterscheidet sich vom Vorbild wie ein Tiger in freier Wildbahn von einem als Bettvorleger.

Am Abend drauf in der Basilika von Kloster Eberbach überraschte das Swedish Chamber Orchestra mit einer beispielhaft geschmeidigen Interpretation von Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 3: Angeführt von dem lockeren Pekka Kuusisto agierten Geiger und Bratscher im Stehen und ließen die energetischen Wellen der Musik mächtig aufbranden, wobei Dirigent Thomas Dausgaard allenfalls moderierend eingriff und die Musiker ihrer eigenen Musikalität überließ. In „Bach Materia“ von Anders Hillborg hatte Kuusisto als Solist viele Gelegenheiten zur Improvisation. Aufs Lebendigste kommunizierte er nicht nur mit Orchesterkollegen, sondern auch mit den in der Basilika beheimateten Schwalben. Über das Charisma des Geigers hinaus erinnerte Hillborgs Werk jedoch an jemanden, der ohne inneren Zusammenhang einen Witz nach dem anderen erzählt.

In der Aufführung von Bachs Viertem Brandenburgischen gefiel das Miteinander der beiden Blockflötisten Per Gros und Katarina Widell. Olga Neuwirth, die zu den gefragtesten Komponisten der Gegenwart zählt, ließ in „Aello – ballet mécanomorphe“ das Thema des zuvor gehörten Bach-Konzerts durch Wolken aus akustischen und elektronischen Klängen hindurchblinzeln. Die maschinenhafte Motorik Bachs hatte Neuwirth auf den Klang einer mechanischen Schreibmaschine übertragen, deren Klappern leicht verschoben gegen das übrige rhythmische Geschehen aus dem Hintergrund drang. Von allen aufgeführten Stücken provozierte dieses die größten Publikumsaktivitäten: manche drängten aus ihrer Sitzreihe und strebten mit missionarischem Gesichtsausdruck den Ausgängen zu, andere blieben zum „BUH!“-Rufen. Die meisten schienen jedoch gekommen, um ihren Horizont zu erweitern.

Zusammengenommen mit dem Konzert im vergangenen Jahr, das die ersten beiden Werke des Zyklus‘ (BWV 1046 und 1047) in den Mittelpunkt gestellt hatte, hinterließen die zeitgenössischen Kompositionen einen fast durchweg unbefriedigenden Eindruck: Nur Brett Dean hatte sich eng an der Vorlage orientiert. Die anderen schienen ihre Arbeit lediglich mit Bachschen Anleihen dekoriert zu haben. Das vielversprechende Anliegen, die sechs Meisterwerke als Quelle handwerklicher Inspiration erfahrbar zu machen, schien von den beauftragten Komponisten kaum erfüllt. – Oder hatte bereits der Kompositionsauftrag mehr auf Effekthascherei denn auf Substanz gezielt?

DORIS KÖSTERKE

8. und 9. 8. 2018

Pianistin Elisabeth Brauß

Klavier Soirée bei den Burghofspielen

 

Das Programm erinnerte an einen seit fünfzig Jahren unberührten Schallplattenschrank. Doch in der ersten Klavier Soirée bei den Burghofspielen gelang es der erst 23-jährigen Pianistin Elisabeth Brauß, seine Geister mit neuem Leben zu erfüllen.

Mozarts Zweite Klaviersonate KV 280 ging sie wunderbar trocken an, mit spürbar gut durchdachten artikulatorischen Feinheiten und unerschütterlichem Blick für das Wesentliche, während sie das Thema des ersten Satzes im Rankenwerk der Spielfiguren Verstecken spielen ließ.

Beethovens „Appassionata“ begann sie wie beiläufig, um die darin verschlüsselten inneren Welten mit allen souverän beherrschten Mitteln der Virtuosen-Trickkiste, vom zartesten Seidenklangfaden zum mächtigen Tastendonner, umso wirkungsvoller auferstehen zu lassen, ohne sich jemals darin zu verlieren. Überzeugend ließ sie den in tiefsten Bassregionen lauernden Konfliktstoff auch dann noch weiterbrodeln, wenn sie ihn, wie am Ende des ersten Satzes, unter flimmernden Terzen verbarg.

Im Choral des zweiten Satz blätterte sie sehr behutsam und allmählich die einzelnen in ihm verborgenen Seiten auf. Dass die normalerweise im Diskant aufblitzenden Spitzen merkwürdig verwaschen klangen, schien an der Raumakustik oder an der Intonation des Flügels zu liegen. Als der Choral am Ende des zweiten Satzes wieder erschien, schienen die zuvor erweckten Gespenster unter seiner Decke noch weiter zu zappeln, um im dritten Satz entfesselt ihren wilden Hexensabbat zu feiern.

In Robert Schumann Kinderszenen gefielen der Überschwang in „Glückes genug“, die Distanz zur „Träumerei“ und das trefflich vermittelte Wenn-ich-erst-groß-bin-Allmachtsgefühl im „Ritter vom Steckenpferd“. Im abschließenden „Faschingsschwank aus Wien“ op. 26 von Robert Schumann schmunzelte man über die verkleidete Zitate und freute sich auf das, was die junge Pianistin in ihrem späteren Leben aus dem vergleichsweise amorphen Werk noch herausholen würde. In ihrer Zugabe, einer Romanze von Clara Schumann, ließ Elisabeth Brauß die unerträgliche Sehnsucht und die massive Bedrängnis einer Frau empfinden, die den falschen Mann geheiratet hatte, bevor sie „den Richtigen“ traf.

DORIS KÖSTERKE

01.08.2018

Pianist Víkingur Ólafsson

Debüt beim Rheingau Musik Festival

 

 

Ein Pianist, der auf seinem Instrument zu singen weiß, war der allererste Eindruck im Debüt-Konzert des Isländers Víkingur Ólafsson beim Rheingau Musik Festival.

Zu Beginn seines Konzertes bat er sein Publikum im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg darum, den Bogen der ersten Konzerthälfte nicht mit Applaus zu durchbrechen: „Es wird sehr intensiv – für mich und für euch alle!“.

Er hatte viele kleinere Werke von Bach auf einem Bogen angeordnet, den er über nicht gerade „klassische“ Tonartbezüge wie ein Musikstück durchkomponiert hatte. Darunter auch Bearbeitungen von Rachmaninow und Siloti, in denen die barocke Tonsprache in eine spätromantische umschlug. Sein philosophischer Ansatz, der einzelne Wendungen so lange gegen den Strich bürstet, bis ihr Tiefgang erkennbar ist, führte ihn auch durch polternde Schroffheiten, gespenstische Begegnungen mit Trollen und virtuose Farbschlachten. Man vertraute ihm. Auch dann, wenn sich der Grund für unvermittelt Änderungen der Artikulation nicht immer erschloss.

Die zweite Konzerthälfte widmete er dem Motto des diesjährigen Festivals, „Freundschaft“, indem er zwei im Jahre 1853, im Keimungsprozess einer Freundschaft entstandene Kompositionen gegenüberstellte: Die „Gesänge der Frühe“ op. 133 des 43-jährigen, bereits von körperlichem und geistigem Verfall gezeichneten Schumann und die Sonate für Klavier Nr. 3 f-Moll op. 5 von Brahms. Das Werk des derzeit Zwanzigjährigen bezeichnete Víkingur Ólafsson als dessen „erstes Werk absoluter Meisterschaft“. Während Schumanns Werk klangmalerisch in sich selbst zu kreisen schien, spiegelte Brahms‘ op. 5 den Konflikt, der ihn zeitlebens nicht mehr loslassen sollte: zwischen der Bewunderung, Dankbarkeit und Loyalität gegenüber dem väterlichen Freund und der übermächtigen hormonellen Bindung an Clara, voll inniger Leidenschaft im Schatten des Ungestümen. Das zentrale Scherzo, bisweilen mit dem Schluss in Mendelssohns Klavier-Trio in c-Moll in Verbindung gebracht, erinnerte in Víkingur Ólafssons Interpretation an die Klangsprache Chopins, die letzten beiden Sätze schienen eine Referenz an Schumann.

In den beiden Zugaben, der Etude Nr. 9 von Philip Glass und einem unorthodoxen „Rappel des Oiseaux“ von Jean-Philippe Rameau umriss der Pianist seine stilistische Bandbreite. Nach dem Konzert sprudelte er vor Begeisterung: „So ein tolles Publikum! So konzentriert über die ganze Zeit!“ – Dieses Kompliment geben wir gern weiter. Und an den Pianisten als Auslöser zurück

DORIS KÖSTERKE

27.07.2018 – Das Konzert wurde vom Deutschlandfunk aufgezeichnet.