Stefan Heucke Deutsche Messe

Text von Norbert Lammert

Die Chagall-Fenster leuchteten zur Uraufführung der ökumenischen „Deutschen Messe“ für Soli, Chor und Orchester von Stefan Heucke innerhalb der deutschlandweiten Festserie „Luther 2017 – 500 Jahre Reformation“. Der Rundfunkchor Berlin und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin füllten die Mainzer Pfarrkirche St. Stephan von der Apsis über die Vierung hinaus bis zum zweiten Gewölbe des Langschiffes. In den ersten Zuschauerreihen saß Prominenz aus Kirche und Welt. Denn Widmungsträger des Werkes war Kardinal Lehmann und der Textdichter Norbert Lammert. Der Bundestagspräsident hatte das Ordinarium missae auf seine Aktualität hin befragt und in zeitgemäße eigene Worte gefasst. In Lammerts „Kyrie“ heißt es unter anderem: „erbarme dich der Menschen, die sich stark fühlen“. Für das Luther-Jahr konnte Lammert (Katholik) den wenig bekannten Komponisten (Protestant) für die Fortsetzung einer früheren Zusammenarbeit und das Deutsche Symphonieorchester zur Vergabe eines Kompositionsauftrages gewinnen.

Heucke lässt immer wieder Vertrautes durch seine opulenten Klangmassen schimmern. Traditionelle Satztechniken wie Fuge und Sequenz, aber auch Choralthemen und Liturgisches: den Anruf „Christe, du Lamm Gottes“ etwa als Rhythmus-Zitat mit großer Holzklappe und Kontrabässen. Heuckes Farb- und Formensprache suggeriert innere Bilder. Das Glaubensbekenntnis etwa schien einem Scheiterhaufen abgetrotzt, Militärtrommel und Trompeten untermalten das „gib uns deinen Frieden!“. Effektvoll sind seine kurzen rhythmischen Beschleunigungsphasen, wohltuend seine kammermusikalischen Inseln und akustischen Nah-Fern-Wirkungen.

Applaus für alle Mitwirkenden, für Philipp Ahmann für die Einstudierung des Chores, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, in dem einzelne Musiker spürbar engagiert das Ganze, wie auch ihre Rolle darin überblickten, für den beide Klangkörper sicher leitenden Steven Sloane, für die durchtrainierte Juliane Banse, deren Sopran auch bei höchster Durchschlagkraft nie schrill wurde und für die ebenso angenehmen Solisten, Birgit Remmert (Mezzosopran), Tilman Lichdi (Tenor) und Michael Nagy. Aber nicht für die Komposition: ihre Theatralik, ihr zu oberflächlicher Bezug zum kritischen Text und ihre totalitäre Lautstärke in Antithese zu einer Ökonomie der Mittel wirkte geradezu gegenreformatorisch.

DORIS KÖSTERKE

Utopien: Schönberg, Brahms, Beethoven

7. Sinfoniekonzert Staatsorchester Darmstadt

„Wenn ich an Lichtspiele denke, so denke ich an zukünftige, die notwendigerweise künstlerisch werden sein müssen. Und zu denen wird meine Musik passen!“, sagte Arnold Schönberg über seine „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ op. 34. Mit diesem utopischen Stück Ohrenkino begann das 7. Sinfoniekonzert im großen Haus in Darmstadt. Lustvoll gestaltete das wache und sichtlich hochmotivierte Orchester etwa die fahlen Farben des Fiesen.

Das Dirigat der in Estland geborenen Kristiina Poska hinterließ einen angenehmen Eindruck mit ihrer Detailtreue, ihrer aufmerksamen Dosierung der Tempi und der Lautstärken und ihrer Kollegialität, auch gegenüber dem orchestereigenen Solisten im As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunjan, Manfred Bockschweiger, der für seinen Farbenreichtum und seine technisch blitzsaubere Virtuosität viel Beifall erhielt. Als er die Dirigentin daran teilhaben lassen wollte, trat sie demonstrativ zurück. Ihren Blumenstrauß am Ende des Konzerts gab sie an Konzertmeisterin Sarah Müller-Feser weiter.

In Beethovens Dritter Leonoren-Ouvertüre kam das Trompetensignal, gespielt von Marina Fixle, effektvoll vom Balkon, während das musikalische Geschehen bisweilen auf der Stelle zu treten schien.

Klangsinnlich und transparent gestaltete das Orchester auch Brahms‘ Dritte Sinfonie. Zwar hätte man sich in den Binnensätzen von mehr Emotionalität gewünscht. Dennoch erlebte man darin jene Sehnsucht, die sich selbst viel zu heilig ist, um je nach Erfüllung zu streben.

DORIS KÖSTERKE

Tamáss – Berührung und Grenze

Hörtheater: Tamáss (UA)

Tamáss bedeutet zugleich Berührung und Grenze. Der arabisch-persische Begriff war Motto einer zweijährigen Zusammenarbeit des Mainzer Musiktheaters mit Oriental-Jazz-Ensemble LebiDerya aus Mannheim. Die Uraufführung der Resultate als dichtes „Hörtheater“ verdiente den reichen Beifall im Großen Haus am Staatstheater Mainz. Die Idee hatte der mit arabischer Musik erfahrene Perkussionist Joss Turnbull. Regie geführt hat Anselm Dalferth.

Das Publikum war auf der Bühne platziert und staunte über die gute Akustik im Zuschauerraum, wo die Musiker im ersten Programmteil im hektischen Durcheinander von einer inselartigen Kleinbühne zur nächsten hetzten: Kaum lud eine musikalische Begegnung zum Zuhören ein (etwa das einander Durchdringen von ostkirchlich anmutendem Gesang mit dem Spiel der arabischen Laute Oud), wich sie schon wieder einem allgemeinen Gerenne.

Waren die Darsteller in diesem ersten Teil (kann man ihn kürzen?) noch als Träger von Funktionen kostümiert, Sopranistin Alexandra Samouilidou etwa im Diven-Kleid und die Orchestermusiker im Frack, begegneten sie einander im zweiten Abschnitt als Menschen in Alltagskleidung, in Paaren und Doppelpaaren. Glanzpunkte waren die sublimiert-erotische Perkussions-Szene für Tisch, Flasche und Glas zwischen Maren Schwier und Ziad Nehme, sowie die Wiedersehens-Szene zwischen Johannes Stange und Joss Turnbull, in der eine Umarmung in eine Bodyperkussion und ein stilisierter Streit handgreiflich in ein Händeschütteln mündete. Sound-Artistin Mutamassik umschwärmte den Geige spielenden Mihail Katev mit elektronischen Aufnahmegeräten. Das danach Abgespielte klang im wahrsten Sinne des Wortes „billig“.

Eine feierliche Darbietung des Zweiten Satzes aus Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ versank in geschäftigem Klappstuhl-Klappern. Es markierte den Beginn des dritten und letzten Teils, in dem die Darsteller sich als Einzelwesen vorstellten: Anrührend zeigte Malte Schaefer, dass er nicht nur stimmführend bratschen, sondern auch sehr gekonnt singen kann. Als „Küken“ des Ensembles sang Maren Schwier ein koreanisches Kinderlied. Die sture Reihung von insgesamt 16 Selbstdarstellungen wirkte einerseits noch trockener, als die zuvor durchdeklinierten Paarformationen. Doch nur zwei Selbstdarstellungen (E-Gitarre und Soundart) gingen durch Länge auf die Nerven und nur wenige blieben blass. Der Rest berührte. Etwa der aus dem Libanon stammende Tenor Ziad Nehme, oder die kreolischen Wurzeln der provencalischen Mezzosopranistin Geneviève King. Am dankbarsten wurden die libanesischen Musiker mit ihren Beiträgen aufgenommen: der charismatische Sänger Abdel Karim Shaar, Oud-spieler Abdalhade Deb und Ghassan Sahhab, der auf der arabischen Zither Qanun einen Tango spielte.

DORIS KÖSTERKE

Schönbergs »Pierrot lunaire«

 

Das Merlin Ensemble Wien begeisterte auch im vierten und letzten Konzert seines Gastspiels bei den Internationalen Maifestspielen, im Foyer des Wiesbadener Staatstheaters. In Brechts erschreckend aktuellem, von Hanns Eisler (1898 – 1962) vertonten „Vielleicht-Lied“ kämpfte die Schweizer Schauspielerin Sylvie Rohrer noch mit der jede Textverständlichkeit zerstreuenden Foyer-Akustik. Im Folgenden nahm sie restlos für sich ein, als mit bezauberndem Charme orakelndes, androgyn piepsendes Fabelwesen.

Michael Mautner hatte die fünf für diesen Abend ausgewählten Brecht-Lieder, von Eisler für Gesang und Klavier geschrieben, ansprechend bunt für die gleiche Besetzung bearbeitet, die auch im Hauptwerk des Abends, in Schönbergs »Pierrot lunaire« op. 21, gebraucht wird.

Martin Walch hielt von seinem Pult aus mit Violine oder Bratsche in der Hand das geschmeidig aufeinander reagierende Ensemble (Sonja Korak, Flöte und Piccolo; Haruhi Tanaka, Klarinette und Bassklarinette; Luis Zorita, Violoncello und Till A. Körber, Klavier) in leidenschaftlich bebendem Fluss, auch in Hanns Eisler »Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben« op. 70.

Der surrealistische, von Otto Erich Hartleben verdeutschte, mitunter bittere, sarkastische und sadistische Humor in Albert Girauds »Pierrot lunaire« passt nicht ins konventionell Schöne, Wahre, Gute. Und doch schrieb Anton Webern über die Gedichte an Alban Berg: „Sie sind sehr zart und schön“. Die Idee zu ihrer Vertonung stammte ursprünglich nicht von dem visionären Moralisten Schönberg, sondern von der Auftraggeberin und Interpretin der Uraufführung, Albertine Zehme. Auf sie geht auch der in diesem Werk erstmals zum Einsatz gebrachte Sprechgesang in „rhythmischer Deklamation“ zurück: Im lebensnah melodischen Sprechen wollte sie „dem Ohr seine Stellung fürs Leben zurückerobern“.

Der Sprechgesang von Sylvie Rohrer war an diesem Abend, wie von Schönberg gewünscht, gleichberechtigt in die Musik mit eingewoben. Mit ihrer sehr eigenen Gestik und Mimik (Regie: Hermann Beil) fügte sie Text und Musik noch eine weitere irritierende Ebene hinzu und hielt die Aufführung in einer unaufhörlich schwebenden poetischen Spannung.

DORIS KÖSTERKE

Einmal häuten, bitte!

Umbrations

Abonnementkonzert des Ensemble Modern im Mozart Saal

 

 

Das Farbenspiel Roms: Leuchtende Fassaden, dunkle Höfe, bunte Gassen, mosaizierte Fußböden, invasive „neongrüne Papageien“ und mittagsmüdes Verblassen in gleißendem Licht. In seiner Komposition PolychROME (2017) hat es der amerikanische Komponist Christopher Trapani (*1980) in Klänge übersetzt, die im Abonnementkonzert des Ensemble Modern im Mozart Saal zu hören waren: reizvoll schattierte Klang-Geräusch-Leinwände für Fernweh-Fantasien. Der Schluss aus schrillenden Piccolo-, Oboen- und Flageolett-Tönen ließ jedoch weniger an Sonnenlicht als an den Feuerball einer Atomexplosion denken.

In „Die Häutung des Himmels“ von Martin Grütter antwortete ein Fernschlagzeug wie ein orakelndes Echo vom hinteren Balkon auf die Aktionen auf der Bühne. Oft markierten seine Aktionen, wie etwa seine Singende Säge oder ein gegeigtes Becken, den Eintritt in neue Klangwelten. Im Einführungsgespräch mit Christian Fausch hatte Grütter von der Annäherung an einen verbal nicht fassbaren Sehnsuchtsort gesprochen. Er zeigte sich am Schluss in einem einfachen Gitarren-Arpeggio, das man, nachdem das Stück durchschritten war, als pure Wohltat erlebte.

Seine „Umbrations“ seien kein geschlossener Zyklus, stellte Brian Ferneyhough (*1943) im Einführungsgespräch klar. Alle der mittlerweile elf über mehr als 15 Jahre hinweg entstandenen Stücke reiben sich an geistlichen Kompositionen des elisabethanischen Komponisten Christopher Tye (16. Jahrhundert) und lassen dessen pastellfarbene Klangwelt durch das komplexistische Dickicht der Klangsprache Ferneyhoughs blinzeln. Die Besetzung reicht vom Solocello (Lukas Fels interpretierte das erst in diesem Jahr entstandene „In Nomine“ so überzeugend, als hätte er es selbst geschrieben) zum zwölfköpfigen Ensemble. Einen Binnenrahmen bildeten an diesem Abend die vier Sätze „Dum transisset“, die das (seit stolzen elf Jahren in der Besetzung dieses Abends spielende) Arditti Quartett in all ihrer Vielgestaltigkeit auslotete. Dirigent Brad Lubman dirigierte nur die groß besetzten Teile mit klaren, mitunter lautmalenden Bewegungen.

Viele verschiedene Klangwelten vom kaum hörbaren Flageolett-Zwitschern zur Gamelan-ähnlichen Mixtur mit Kettledrum und Klavier und enorm tapfere Interpreten entließen mit einer großen Sehnsucht nach geläutert klaren Strukturen, die eher locken als überschwemmen. (Wie wäre es mit einem Kompositionsauftrag an Herrn Grütter für ein Häutungswerk über Ferneyhough?)

DORIS KÖSTERKE

„In C“ von Terry Riley im Weltkulturenmuseum

„In C“ von Terry Riley im Weltkulturenmuseum aufgeführt
(18.01.2017)

 

Selten blickt man bei Aufführungen „ernster“ Musik in so fröhliche Gesichter, wie jüngst im Weltkulturenmuseum: Inmitten der Ausstellung „Der rote Faden“ erklang Terry Rileys „In C“, als wären hier Grundzüge der Web- und Flechtkunst ins Akustische übersetzt.

Megumi Kasakawa blickte strahlend von einem ihrer Mitspieler zum anderen. Die Ensemble-Modern-Bratschistin hatte das frühe Stück Minimal Music mit Studenten und Kollegen in einem Workshop am Institut für zeitgenössische Musik (IzM) an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst (HfMDK) erarbeitet. „Ein tolles Stück und tolle Musiker“, schwärmte sie nach der gut einstündigen Aufführung und fügte hinzu: „Das ist kurz!“. Denn das 1964 entstandene Stück existiert nicht als Partitur im Sinne einer dramaturgisch durchgeformten Zeitstrecke, sondern lässt seinen Interpreten nach festen Regeln geraume Freiheiten: Jeder Musiker hat den gleichen Zettel auf den Notenständer, bedruckt mit 53 rhythmisch-melodischen Segmenten, die sich jeder Spieler mit seinem eigenen Ausdruck „zu eigen machen“ und nach eigenem Ermessen mehrfach wiederholen kann. Allerdings soll sich der Schwarm um nicht mehr als drei Segmente auseinanderziehen. Man braucht also ein ständig offenes Ohr für das, was die anderen machen. Vor allem muss das Metrum gewahrt bleiben, das durch ein vom Xylophon erbarmungslos gehämmertes „C“ (daher „In C“) vorgegeben wird. Der Stress ist groß, die Herausforderung, darin etwas Persönliches zu vermitteln, noch größer. Wenn dies gelingt, ist die Freude für alle Beteiligten umso größer, die sie in Blickkontakten miteinander und mit dem Publikum teilen, dem es ausdrücklich erlaubt war, sich während der Darbietung die Ausstellung anzuschauen: Etwa die buchstäbliche Verflechtung von traditionellem Handwerk und kritischer Kunst bei den beiden indigenen Künstlerinnen Sarah Sense und Shan Goshorn. Oder die Adoptionsmaske mit der zum Hereingreifen reizenden Lasche auf der Nase. Oder sich nach dem „Verstricken“ in den Gesetzen der Mode fragen und im Vergleich der Exponate mit mutmaßlich maschinell gefertigten Kleidungsstücken über das Verhältnis von Regeln und kreativer Freiheit nachdenken, während aus Rileys reich schattierter Regelmäßigkeit felszackengleiche Segmente herausragten, die mit 19 oder 62 Zählzeiten Länge das gängige Taktgefühl erfrischend gegen den Strich bürsteten. Und immer wieder schmunzeln.

DORIS KÖSTERKE

Am Mittwoch, 1. Februar, 19 Uhr findet in der Ausstellung ein weiteres Konzert statt: Mit eigens dafür geschaffenen, jeweils von folkloristischer Webkunst inspirierten Kompositionen von Raphaël Laguillat und Tobias Hagedorn.

Paul Giger im „Höchster Schlossplatz 1“

Paul Giger im „Höchster Schlossplatz 1“
(11.03.2016)

 

Von Doris Kösterke

 

„In diesem wunderbaren Gewölbe, bei diesem wunderbaren Menschen“ machte Paul Giger etwas, was er noch nie getan hat: er erweiterte sein Konzert mit Worten.

Vor allem machte er Musik. Allein mit seiner Geige, oder mit dem von ihm entwickelten „violino d’amore“, bei dem fünf Saiten über das Griffbrett laufen, unter dem noch sechs Resonanzsaiten schwingen. Aber dazwischen würdigte er den „Höchster Schlossplatz 1“, las Gedichte des St. Galler Schriftstellers Joseph Kopf (1929-1979) und erzählte von seiner Suche nach dem, was ihn heute ausmacht:
Mit acht Jahren hatte er Geigenunterricht bekommen und mit 14 damit aufgehört, um nach eigener Art zu fiddeln, zu rocken, zu trommeln und zu improvisieren. Seine wichtigsten Erkenntnisse sammelte er als Straßenmusiker in Asien: „Als Straßenmusiker“, erzählte Giger, „muss man unter schlechtesten Bedingungen die Leute fesseln“. Mit dem Fesseln begann Giger an diesem Abend jeweils so leise, dass man ihm innerlich ein Stück entgegenging. Und schon war man seinem Sog erlegen: Aus einem scheinbar zufälligen, geräuschnahen Nebel hörte man eine Tanz-ähnliche Rhythmik oder eine ätherische Melodie sich herausschälen, deren Entwicklung man dermaßen neugierig verfolgte, dass man Zeit und Raum vergaß.

Ein wesentlicher Reiz von Gigers Tonsprache liegt in seiner Vorliebe für Flageolets, für jene pastellfarbenen Geigentöne, die nicht durch festes Greifen, sondern durch loses Auflegen der Finger an den physikalischen Schwingungsknoten der Saite gebildet werden und deren Intonation oft wesentlich vom „temperierten“ westlichen System abweicht. Diese Vorliebe mag durch Gigers frühen Kontakt mit indischer Musik begründet sein. Giger betonte, dass sich die Zahlenverhältnisse der Obertöne überall in der Natur wiederfänden, auch im Menschen, bis zum Rhythmus des Atmens. In der Tat fühlte man sich beim Hören seiner Musik, als würde man wie ein Instrument gestimmt.

Giger konzertierte bereits zum vierten Mal in diesem 1591 erbauten Haus, das der Fotokünstler Jürgen Wiesner nach den gleichen Prinzipien saniert hat, nach denen er seine Bilder macht: indem er Gefundenes behutsam ins Licht rückt. Musiker wie Giger kommen um der Atmosphäre und der Akustik willen. Wie stark der Raum mitspielt, zeigte Giger in seinem Stück „Karma Shadub“ (tibetisch für „tanzender Stern“), als er spielend durch den Raum und die Treppe hinauf ins obere Gewölbe schritt.

Nicht zuletzt beeindruckte Giger durch die Präzision, mit der er die Quellen seiner Inspiration untersuchte, sei dies ein rund tausend Jahre alter Tropus aus dem Kloster St. Gallen, oder der verborgene Rhythmus in dem Weg, den Pilger in der Kathedrale zu Chartres nehmen, oder die Frage, wie sich das Volk der Tibeter unter chinesischer Besatzung fühlt. Um letzteres zu zeigen, spielte er Bachs „Gavotte en rondeau“ zunächst so mitreißend, dass man sich mehr davon gewünscht hätte. Doch er brach ab, verstimmte die zweithöchste Saite seiner Geige um einen Ton nach unten und spielte das Stück noch einmal. Das Resultat war erschütternd. Etwa so, als erlebte man ein Deutschland voller Menschen und Straßen, aber ohne Kultur.

Musikalische (Bio-)Diversität

 

Von Beruf ist Volker Staub Komponist. Darüber hinaus sagt er mit Albert Schweitzer: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. – „Ich liebe Natur“, sagt Staub, „vor allem ihre unendliche Variation: Das Prasseln des Regens klingt einförmig und besteht dennoch aus unendlich vielen Klangereignissen, die sich nie wiederholen. …weiterlesen

Fazıl Say überzeugt als Pianist

Das zweite Klavierkonzert von Camille Saint-Saëns ist nicht eben ein Bekenntniswerk. Aber aufgeführt von Fazıl Say bekam es diese Züge: die Solo-Einleitung klang unter seinen Händen in der Mainzer Rheingoldhalle einmal nicht wie romantisierter Bach, sondern kraftvoll und klar, mit unverstelltem Blick für die Substanz.

Sein Zusammenspiel mit dem SWR Symphonieorchester war aufmerksam und achtungsvoll, seine Virtuosität frappierend, seine Bescheidenheit beeindruckend. Er hatte sich das Stück in einem Maße „zu Eigen gemacht“, dass es fast egal schien, was er spielte, weil man aus dem Wissen um sein aufrechtes politisches Engagement vor allem als Meta-Botschaft empfand: ich habe etwas zu sagen und sage es. Wer anderer Meinung ist, darf es bleiben. Seine erste Zugabe, ein effektvoll orientalisch eingefärbtes Stück Unterhaltungsmusik, war seine eigene Komposition „Black Earth“. Die zweite eine Improvisation über Mozarts „Rondo alla turca“, geistreich-witzig, mit vielen Jazz-Elementen als Bekenntnis zum musikalischen Weltbürgertum.

Vorbereitet war das Event seines Auftritts von einer passablen Interpretation von Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“, wobei man den Eindruck hatte, dass manche musikalische Geste sich (noch) fantasievoller und sprühender hätte vermitteln können, wenn der überaus sympathische, auswendig dirigierende Däne Michael Schønwandt sich ab und an mehr Zeit genommen und darüber hinaus das Orchester mehr dazu genötigt hätte, auf ihn zu achten.

Hauptwerk des Abends war die Fünfte Sinfonie op. 50 von Schønwandts Landsmann Carl Nielsen (1865-1931), eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und laut dem (nicht-dänischen!) Musikologen Deryck Cooke die größte Symphonie des 20. Jahrhunderts überhaupt: Schockierend das Einfallen der neben dem Orchester positionierten Militärtrommel. Dramatisch, wie die Hörner sich dagegen durchsetzen und wie das Orchester es letztlich schafft, sich über die Barbarei hinwegzusetzen. Heikel, wie es, im zweiten Teil des Werkes mit neu entstandenen Zwängen und Konflikten kämpft, um schließlich über eine vornehmlich von den Bläsern vermittelte melodische Kraft einen neuen inneren Frieden zu finden.

DORIS KÖSTERKE
08.04.2017