Duo Runge&Ammon spielt „Baroque Blues“

Hohe Kunst voll Sinnlichkeit und Spiritualität

 

Vermutlich ist es egal, was man Eckart Runge, dem Gründungscellisten des Artemis-Quartetts, zu spielen gibt: Ob „E“ oder „U“, er wird es so lange drehen und wenden und dabei mit seinen zu Klang werdenden Gedanken und Gefühlen aufladen, bis etwas bahnbrechend Gehaltvolles herauskommt. Diesen Eindruck gewann man im Konzert „Baroque Blues“ des Duos Runge&Ammon im Mozart Saal, in dem die Klangsprachen von Barockmusik und Jazz einander befruchteten: die Jazz-Idiome waren zu Edelsteinen geschliffen, die drei Piazzolla-Stücke wirkten alles andere als gezähmt und auch in den Barock-Bearbeitungen, die gleichsam das Gerüst des Abends bildeten, ließ er sein Cello weinen und vor Vergnügen quietschen, schluchzen, jubeln und inständig beten. Im (bearbeiteten) Larghetto aus Händels Violinsonate g-Moll HWV 364a reihte er emotional „sprechende“ Verzierungen zusammen mit einem unfassbaren Reichtum an Klangfarben an weitgespannte Spannungsbögen, die die auch Pianist Jacques Ammon fein aussingend mittrug. Der Schlussakkord klang nicht nach Händel, sondern leitete über zu Gershwins „It Aint’t Necessarily So“.

Ganz schön aus der Puste, denn Cellospielen ist Schwerarbeit, plauderte Runge über die Hintergründe des Projekts „Baroque Blues“ als „persönliche Antwort auf den verstaubten Klassikbetrieb auf der einen Seite und seichtes Crossover auf der anderen“. Barockmusik und Jazz leben beide von der Improvisation nach mehr oder minder verbindlichen Regeln und der Blues scheint auch im Barock das wichtigste Gefühl. Er nannte den passus duriusculus, der als ständig wiederholte Bassfigur das Rückgrat vieler lamentierenden Barock-Kompositionen , nicht nur für das an diesem Abend gespielte „Lumi potete piangere“ von Giovanni Legrenzi, bildet. Pianist Ammon griff den chromatisch über eine Quarte absteigenden „etwas zu harten Gang“ auf und zeigte unter begeistertem Beifall, dass er sich auch als Sujet für eine fetzige Jazz-Improvisation eignet. Der chilenische Pianist scheint die Idiome von Jazz und Tango mit der Muttermilch aufgesogen zu haben. Seit rund zwanzig Jahren spielt er mit Runge im Duo zusammen, der es seinerseits als „Lebensaufgabe“ bezeichnet, Jazz lebendig zu spielen. Über dieses Bemühen hat Runges Klangsprache an unmittelbar sinnlicher Eingänglichkeit gewonnen, als spräche da ein „ganzer Mensch“ in Cellotönen. Mit extrem feinem Ohr reproduzierte er auch den typischen Klang des Bandoneons, einschließlich jenes Sotto-Voce-Vibratos, das dem Tango Nuevo mitunter eine Aura verleiht, als handele es sich um die letzte Worte eines Sterbenden. In zwei Stücken, „Nearly Waltz“ und „Burleke“ stellte das Duo den 1937 in der Ukraine geborenen Komponisten Nikolai Kapustin vor. Sein kompositorisch komplex verdrahtetes Jazz-Idiom beschrieb Runge als „Musik, die wir immer gesucht haben ohne zu wissen, dass es sie schon gibt“.

Die Zugaben waren Piazzollas Libertango und „Blue and green“ von Miles Davies, der laut Runge „mit wenigen Tönen ganz viel sagt“.

DORIS KÖSTERKE

Ensemble Nevermind in der Alten Oper

Barockmusik und Fiddle-Weisen

In fast allen Kulturen der Welt – nicht nur im Jazz – wird Musik improvisiert. Der detaillierte Notentext ist ein Sonderfall und zugleich der Grund, warum „klassische“ Musik bisweilen als leblos empfunden wird: Wo er nicht von der gesamten Persönlichkeit eines Interpreten „wiederbelebt“ wird, führt er bestenfalls zu einem netten Konversationsklang. Doch die vier jungen Musiker des Ensemble Nevermind wollen mehr. Der Fokus des Ensembles, das sich in Paris am Conservatoire National Supérieur de Musique zusammengefunden hat und im jüngsten der Bachkonzerte im Mozart Saal zu Gast war, liegt in der Barockmusik. Aber die quirlige „Frontfrau“ Anna Besson flötet auch Uraufführungen, Cembalist Jean Rondeau ist auch als Jazzer aktiv und die beiden Streicher, Geiger Louis Creac’h und Gambist Robin Pharo, zeigen eine hohe Affinität zum Fiddlen.

Doch erst gab es Barockmusik: ein mit viel Spielwitz aufbereitetes Viertes aus Telemanns Neuen Pariser Quartetten und eine etwas unterschätzt daher plätschernde Sonate von Bach (BWV 529). Doch schon bauten zwei von britischer Volksmusik inspirierte Kompositionen von Francesco Geminiani die Brücke zur keltischen Folklore: Der 1687 in Lucca geborene, 1762 in Dublin gestorbene Geiger (im offensichtlich zu schnell geschriebenen Programmtext gab es noch mehr Fehler) wirkte ab 1714 in London, später in Irland. Unter anderem schrieb er eine Violinschule mit Richtlinien, wie man die gleichsam als „Gerippe“ notierten Barockmusiken mit improvisierten Diminutionen zu füllen habe. Von Geminiani war es nur ein kleiner Schritt zu den vom Publikum begeistert beklatschten, vom Nevermind-Cembalisten Jean Rondeau arrangierten Improvisiationen über Port na bPucai und On yonder Hill There Sits a Hare. Improvisationen über das La Folía-Thema, der wohl populärsten psychedelischen Droge der Musikgeschichte, führten wieder zu barocken Kompositionen zurück: Zum Sechsten aus den Neuen Pariser Quartetten von Telemann und zu einer weiteren Triosonate von Bach (BWV 1039). Auch hier schien die virtuose Musikantik noch über manches sinnstiftende hinweg zu huschen. Doch das Gesamtkonzept blieb erfrischend.

DORIS KÖSTERKE

Telemann und die Liebe

Ensemble La Stagione beim Forum Alte Musik

 

„Telemann und die Liebe“ war das jüngste Konzert des Frankfurter Ensembles La Stagione im Kaisersaal überschrieben. Im Mittelpunkt standen zwei Trauungskantaten, für die Telemann – möglicherweise aus wirtschaftlichen Erwägungen – auch die Texte selbst geschrieben hatte. Mit derartigen Gelegenheitskompositionen besserte er sein ohnehin üppiges Gehalt als Frankfurts städtischer Musikdirektor und Kapellmeister der Barfüßer- und der Katharinenkirche noch weiter auf und die Telemanngesellschaft hat die mühevolle Arbeit auf sich genommen, einige davon aus einer sehr schlechten Quellenlage heraus zu rekonstruieren. Zeitbedingt hatten Telemanns Texte nichts mit Romantik zu tun und das Voyeur-Futter aus Telemanns geschiedener Ehe, in der er sich vergleichbar fruchtbar gezeigt hatte, wie im Komponieren, beschränkte sich auf eine Darlegung des reproduktions- und haushaltstechnisch funktionellen bürgerlichen Frauenideals der Barockzeit: „Lieblich und schöne sein ist nichts“, war die eine Kantate (TVWV 11:27) überschrieben, „Ein wohlgezogen Weib ist nicht zu bezahlen“ die andere (TVWV 11:23).

In seinem Telemann-Projekt bringt „La Stagione“ auch immer einen Komponisten zu Gehör, der mit Telemann befreundet war, in diesem Falle Johann Sebastian Bach. In der virtuosen kammermusikalischen Aufführung des Brandenburgischen Konzert Nr. 5 D-Dur BWV 1050 für Flöte (Karl Kaiser), Violine (Ingeborg Scheerer), Cembalo und Streicher gewann man den Eindruck, dass die Cembalistin in vollautomatisierter Hochgeschwindigkeit das Tempo zu konstant hielt, um Ihren Mitspielern noch Raum zur Gestaltung zu lassen.

Ansonsten zeigten sich die von Michael Schneider geleiteten Musiker engagiert, wenn auch nicht ganz so hellwach, wie man sie in kleineren Formationen schon erlebt hat. In einem netten Klangbad vermittelten gefällige Melodien in barock-maschinistischer Energetik etwas von der Transzendenz, mit der man vieles ertragen kann.

DORIS KÖSTERKE

„ewig und mild“ von Gerhard Müller-Hornbach

Uraufführung zur Eröffnung

der 42. Fränkischen Musiktage in Alzenau

Feine Streicherklangfäden führen einzelne Töne aus einem Harfen-Akkord fort, als wollten sie wenigstens einzelnen Aspekten des vergänglichen Klangs eine Brücke in Richtung Ewigkeit bauen. Im Eröffnungskonzert der 42. Fränkischen Musiktage im Rittersaal der Burg Alzenau wurde „ewig und mild“ von Gerhard Müller-Hornbach uraufgeführt, „Reflexionen für Tenor, Harfe und Streichsextett“ über das Neunte aus dem Ersten Teil von Rilkes Sonetten an Orpheus: „Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten, darf das unendliche Lob ahnend erstatten. – Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren. – Mag auch die Spieglung im Teich oft uns verschwimmen: Wisse das Bild. Erst in dem Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild.“ Müller-Hornbach übersetzte die „Schatten“ in huschende Klangschatten; der „Ton“ war ein auffälliger hoher, „verlieren“ ein Glissando, dem eine zweite Stimme rasch zu folgen scheint, wie jemand, der etwa ruft: „warte – dein Schlüssel!“. So betrieb Müller-Hornbach eine Textausdeutung, die den Text noch rätselhafter machte und seine Poesie noch steigerte, zumal in der sehr konzentrierten und intensiven Interpretation durch den angenehm weich timbrierten Tenor Ralf Emge und die jungen Streicher des Ensembles Music Campus RheinMain 2017, die Kaamel Salah-Eldin sehr dezent vom ersten Cellopult aus leitete.

Der überaus herzliche Beifall kam auch von bekennenden Neue-Musik-Skeptikern. Dennoch war es eine gute programmatische Idee, die Uraufführung mit Kulinarischem von Schubert (Nachthymne D687, „Lied des Orpheus als er in die Hölle ging“ D474) und Monteverdi („Possente spirto“ aus „L’Orfeo“, mit reichen Improvisationen von Ralf Emge) zu verbinden. Aparter Weise wurde die Rolle von Klavier, Cembalo oder Theorbe von Enea Cavallo mit der Harfe übernommen. In ihrem eingeschobenen Vortrag über „Die Bedeutung von Orpheus für die Musikgeschichte“ beleuchtete Melanie Wald-Fuhrmann die zentrale Figur dieses Abends, die sich im Mythos mit der Leier ein Transit durch die Unterwelt erwirkte: In zahllosen Adaptionen dieses Stoffes reflektiert die Musik ihre Aufgabe für die Welt.

Den langen Abend schloss Schuberts selten aufgeführte Goethe-Vertonung „Gesang der Geister über den Wassern“: Mit acht solistisch besetzten Männerstimmen (Vocalsolisten Frankfurt), zwei Bratschen (Karolina Errera, Anuschka Pedano), zwei Celli (Kaamel Salah-Eldin, Clara Pouvreau) und Kontrabass (Nicola Vock) ein geradezu magisches Erlebnis.

DORIS KÖSTERKE

 

Als “Festival der Jungen” stellen die Fränkischen Musiktage noch bis zum 26.11.2017 an verschiedenen atmosphärischen Spielstätten und in vielversprechend-ungewöhnlichen Programmen hochrangige Interpreten vor, darunter viele junge Gewinner internationaler Musik-Wettbewerbe. Infos unter https://www.fraenkische-musiktage.de/.

Das Tollste an Felix Koch

Felix Koch und sein Neumeyer Consort

Das Tollste an Felix Koch sind seine Phrasierungen: Wenn Musiker ihre Hände einfach laufen lassen, um den Notentext best- und schnellstmöglich zu reproduzieren, dient das bestenfalls einer angenehmen Berieselung der Zuhörer. Aber Felix Koch „singt“ die Noten auf seinem Cello, mit dem Bogen „atmend“, wie einer, der etwas Spannendes erzählt. Mit diesem kleingliedrigen Atemrhythmus übernimmt man als Zuhörer unwillkürlich die innere Erregung des Erzählenden. Man denkt mit, entwickelt Erwartungshaltungen, die erfüllt, getäuscht oder übertroffen werden. Im jüngsten Konzert im Holzhausenschlösschen mit kammermusikalischen Sinfonien und Kantaten von Georg Philipp Telemann, das die Veranstaltungsreihe der Frankfurter Bürgerstiftung zum 250. Todestag des Komponisten eröffnete, übertrug sich diese Haltung auch auf fast alle seiner Mitspieler, allen voran auf die beiden Bläser, Sophie Roth (Traversflöte) und Johannes Herres (Blockflöte), während man bei der Sopranistin Jasmin Hörner im Rezitativ der Kantate zum Sonntag „Rogate“ aus Telemanns Hausmusik-Zyklus „Der Harmonische Gottesdienst“ dachte: wenn sie mehr Mut zu dramaturgisch wirksamen Pausen aufbrächte, um (frei nach Morton Feldman: ) einer musikalischen Sinneinheit die nötige Zeit zu lassen, um von der Bühne in die Fantasie der Zuhörenden zu finden, dann wäre es noch besser!

In eingestreuten Plaudereien ließ Felix Koch den diplomatischen Telemann aufscheinen, wie ihn die von Dr. Ann Barbara Kersting-Meuleman aus Beständen der Universitätsbibliothek zusammengetragene Ausstellung „Die Stadt als musikalisches Netzwerk“ bestaunen lässt, die noch bis zum 17. November im Holzhausenschlösschen zu sehen ist: Im Collegium musicum ermunterte der städtische Musikdirektor und Kapellmeister zweier Kirchen die Frankfurter Bürger, sich im angeleiteten Selbststudium die musikalischen Neuerungen ihrer Zeit, unter anderem die barocke Oper, anzueignen. In Personalunion lieferte der fruchtbare Komponist im Selbstverlag herausgegebenes Notenfutter für gesellige Hausmusik.

Indem Koch vor jeder der Kantaten die Ohren für Telemanns musikalische Textausdeutung spitzte, etwa für die Darstellung von Ewigem Leben in unstrukturierbaren Sechzehntel-Ketten, machte er Appetit auf das noch bis Samstag im Holzhausenschlösschen stattfindende internationale Symposion „Der Komponist als Chronist: Telemanns Gelegenheitsmusik als musikalisches Tagebuch“, das bei freiem Eintritt ein Stück Verflechtung von Musik und Zeitgeschehen verfolgen lässt, das sich möglicherweise nicht auf die Textauswahl beschränkt, sondern in die Musik hineinstrahlt.

Näheres: http://telemann.info.

DORIS KÖSTERKE

Sol Gabetta und die Bamberger

Ligeti und Martinů

sowie ein langweiliger Schubert

 

Abenteuerfreudig begann das Konzert der Bamberger Symphoniker im Großen Saal der Alten Oper mit »Lontano« von György Ligeti. Die Gänsehaut erzeugende, aus unzähligen Kanons gewebte zwölfminütige Klangfläche ist aus vielen Einspielungen bekannt. Aber diese Aufführung unter der Leitung von Jakub Hrůša, in der man die sich durch das Orchester ziehenden Klangwechsel auch optisch mitverfolgen konnte, war ungleich plastischer: viele kleine Gesetzmäßigkeiten durchdringen einander, finden zu größeren Mustern zusammen, die sich auch wieder auflösen, wie eine vom Wind bewegten Wasserfläche, auf der die Sonne aufgeht.

Sol Gabetta, in der südamerikanische Lebensfreude mit der strengen Erziehung einer russischen Mutter eine künstlerisch äußerst fruchtbare und enorm ausstrahlungsreiche Verbindung eingegangen sind, war Solistin im Ersten Cellokonzert (1955) des erfrischenden Querkopfs Bohuslav Martinů (1890-1959): wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ vom Prager Konservatorium verwiesen ging er seine eigenen Wege über Paris durch die Welt und bildete eigene Überzeugungen heraus: Die „Geometrie“ strenger Formen wollte er durch die „Phantasie“ überwinden, die in jedem Werk wieder eigene Gesetze schafft. Eine Konstante in seinem Schaffen ist die Inspiration durch die Volksmusik seiner Heimat – und dass es immer anders weitergeht, als man denkt, in jähen Brüchen, Verkürzungen, Schwenks in andere Klang- und Gefühlswelten. Das erfordert so hellwache Interpreten wie Sol Gabetta, die ihren Part mit dem Einsatz ihres gesamten durchtrainierten Körpers und ihrer menschenfreundlichen Seele erfüllte, mal kraftvoll, mal aufrichtig bekümmert, während das Orchester in unsicheren Einsätzen vermuten ließ, dass es auf dieses Werk schlecht vorbereitet war.

Schuberts „Große“ C-Dur-Symphonie folgte mit allen Wiederholungen. Ein durchgreifender Gestaltungswille offenbarte sich dabei weder im ersten noch im zweiten Durchgang, dem, im Da-Capo des Scherzos, auch noch ein dritter folgte: statt eines tragfähigen Spannungsbogens zeigte diese Aufführung, dass auch die Repertoirewerke bildungsbürgerlicher Ressentiment-Musik sich nicht von selbst spielen.

Zwischen den auffallend jungen „Wann-Ist-Endlich-Feierabend“-Gesichtern des Orchesters fanden sich jedoch auch einzelne engagierte, besonders unter den Bläsern, und da wiederum ganz besonders der Erste Oboist und die präsente Flötistin.

DORIS KÖSTERKE

Christoph Eschenbach präsentiert Junge Solisten

Kian Soltani, Stephen Waarts,

Bruno Philippe, William Hagen

Erwachsenen war der Eintritt zum ersten Konzert des Kronberg Academy Festival 2017 nur in Begleitung eines Kindes gestattet. Fürsorglich nahmen die Jungen sich der Alten an und schalteten für das von Christoph Eschenbach geleitete Konzert mit dem hr-Sinfonieorchester im Großen Saal der Alten Oper sogar ihre mobilen digitalen Endgeräte aus. Rund dreißig Minuten Online-Entzug mündeten in aufrichtig begeisterten und herzlichen Applaus für den 1992 in Österreich geborenen Kian Soltani, denn er hatte das etwas lebensmüde Cellokonzert von Edward Elgar „echt saftig“ gespielt. Nach Brahms‘ Violinkonzert, also fast fünfzig Minuten Offline-Sein, hagelte es frenetische Bravos für den 1996 in den USA geborenen Geiger Stephen Waarts, vor allem für seinen temperamentvoll zupackend gespielten Finalsatz.

Das zweite Konzert „Christoph Eschenbach präsentiert Junge Solisten“ durften große Leute auch ohne Aufsicht von Kindern besuchen und sich in Haydns Cellokonzert C-Dur (Hob VIIb:1) vorbehaltlos für Bruno Philippe begeistern: Denn dass seine Kadenzen bisweilen intonatorisch leicht freizügig gerieten, verzieh man ihm gern angesichts dieser emotional und energetisch ungemein stimmigen Interpretation. Von fein eingefädelten Höhen bis in die geschmeidigen Tiefen hinein ließ der 1993 im südfranzösischen Perpignan Geborene das leicht ansprechende Tononi-Cello aussingen. Selten beobachtet man einen so intensiven Dialog zwischen Solist und Orchester. Vergleichsweise sehr groß besetzt reagierte es mit enorm zartem Klang. Behutsam einfühlend nahm es die Impulse des Solisten auf und trug sie weiter, im langsamen Mittelsatz wie andächtig, in den Ecksätzen mit lustvoller Musikantik, Geist und Witz.

Im Vergleich dazu wirkte das sich anschließende Konzert D-Dur für Violine und Orchester op. 35, mit dem Erich Wolfgang Korngold (1897–1957), nach einer frühen Karriere als von Gustav Mahler gefördertes Wunderkind und einer weiteren in Hollywood als Filmkomponist, versucht hatte, wieder die Kurve in das „Ernste“ europäische Konzertleben zu kriegen, primär wie eine Geigen-Zirkusnummer. Der 1992 in Salt Lake City geborene William Hagen brillierte darin virtuos, mit aufs Sauberste intonierten, ungemein klangschönen Höhen der circa 1675 in Cremona von Andrea Guarneri gebauten Violine.

Das von Arnold Schönberg orchestrierte Erste Klavierquartett von Johannes Brahms gelang dem Orchester so durchhörbar, dass man jeden wieder völlig neuen Gedanken als konsequent aus dem Material des Vorangegangenen entwickelt wahrnahm: Ungeachtet des zunächst bedauerten Schmalz-Verzichts ein echter Leckerbissen.

DORIS KÖSTERKE

(M)eine Winterreise von Francesco Tristano

„Eine andere Art Klavierabend“ verhieß das Programmheft zu „(M)eine Winterreise“ von Francesco Tristano. Der Mozart Saal der Alten Oper (als wäre er nicht ohnehin unwirtlich genug) hallte wider von der kalt-blau-grauen Beleuchtung des Bühnenhintergrunds und die Klimaanlage ließ frösteln. Aha: es wird ganzheitlich! Und aleatorisch: Der Pianist entschied spontan über die Abfolge der angekündigten „Nummern“, vornehmlich eigne Kompositionen, dazwischen Debussy-Préludes, Ravels Gaspard de la nuit, Takemitsus For Away und die Klavierfassungen von vier Schubertliedern. Seine eigenen Kompositionen wirkten meist wie improvisiert. Oft balladesk, oft an populäre Songs erinnernd, in denen auf eine melodramatisch vorangestellte seelische Selbstentblößung wiederholungsreich ein liedhaftes Bekenntnis folgt. Zahlreiche Binnenstimmen-Orgelpunkte erinnerten an immerhin an Schubert.

Das ohne spannungszehrende Beifallslöcher und ohne Pause rund 75 Minuten füllende Programm bekam am Ende viel Applaus – vielleicht gerade, weil der 1981 in Luxemburg geborene, an der New Yorker Juilliard School, später auch anderen Konservatorien von Paris bis Riga Ausgebildete darin meist an einen Barpianisten erinnerte.

Im von Michael Stegemann moderierten Nachgespräch „An der Bar“ gab er freimütig zu, dass Schubert ihm vor diesem Auftrags-Beitrag zum Musikfest über ein paar nette Melodien hinaus nichts bedeutet habe. Das Abarbeiten des Auftrags habe daran nichts geändert. Tristanos Äußerung im Programm­heft, „Schubert hat den Pop Song (radio edit) erfunden“, sei entgegengehalten, dass Kürze auch Destillat bedeuten kann und Eingängigkeit nicht notwendigerweise Plattheit.

Aber: Tradition bedarf der Frechheit jüngerer Menschen, um nicht zu verknöchern, um sich selbst immer wieder zu hinterfragen, um Wesentliches statt Äußerliches zu erhalten. Das Beste an diesem Abend war jedoch der dem Konzert vorangestellte Vortrag von Michael Stegemann über die politische Situation zur Schubert-Zeit, die sich von der gegenwärtig erstarkenden Neuen Spießigkeit und einer global möglichen elektronischen Überwachung nur graduell unterschieden hat.

DORIS KÖSTERKE

Regenerative Mutterliebe

Lemminkäinen unterliegt Schwan

In den Vier Legenden op. 22 von Jean Sibelius zeigte sich das Philharmonische Staatsorchester Mainz in seinem Ersten Sinfoniekonzert im Großen Haus in allerbester Form. Die auch als Lemminkäinen-Suite bezeichneten symphonischen Dichtungen spiegeln Episoden aus dem finnischen Nationalepos Kalevala, vor allem den jugendlichen Helden Lemminkäinen, einem Frauenschwarm und Haudegen, dem nur eine Mission gründlich schiefläuft: als er den Schwan töten soll, der das Totenreich Tuonela umschwimmt, harkt seine Mutter anschließend mit einem Rechen seine Leichenteile aus dem Fluss. Mit einer Zauberformel kann sie ihn jedoch wieder lebendig machen.

Das harkende Tasten in Fluten und Schlamm meinte man in der Musik zu hören, die keine Programmmusik sein will. Vielmehr verbindet der außermusikalische Bezug die in Töne gefasste Fantasie des Komponisten mit der angeregten Fantasie der Zuhörer zu einem freien, enorm spannenden Spiel.

Die estnische Dirigentin Anu Tali leitete die Aufführung mit klaren, suggestiven, bisweilen erfrischend unorthodoxen Gesten (etwas das Krümeln zum Beschluss der dritten Legende, „Lemminkäinen in Tuonela“). So animiert fügten sich hohe Dramatik und reich schattierte Stimmungsbilder zu einem energetisch stimmigen Fluss. Das Orchester schuf Gänsehaut-und Herzklopfen-Klänge und beeindruckte in intimen kammermusikalischen Dialogen. Großartig gelungen waren die Einzelleistungen, vor allem die ausgedehnten Englischhorn-Soli. Aber auch das nahtlos von der Viola weitergeführte Cello-Solo zu Beginn der zweiten Legende, „Der Schwan von Tuonela“, ließ elektrisiert aufhorchen.

Zum Einspielen hatte die sehr gefällige, von tanzfreudiger Folklore inspirierte Estnische Tanzsuite von Eduard Tubin gedient. Konzertmeister Naoya Nishimura trat als Solist in Sergej Prokofjews Erstem Violinkonzert auf, in dem ihn primär die technischen Herausforderungen zu reizen schienen, die er virtuos meisterte. Seine Zugaben stammten aus der Solo-Sonate op. 27 Nr. 4 von Eugène Ysaÿe.

DORIS KÖSTERKE

Klavierabend András Schiff

Abschiede aus vier Jahrhunderten

 

 

Für so ein Konzert lohnt es sich, zu leben: Das Musikfest-Motto zum „Fremd … zieh ich wieder aus“ weiterdenkend, spannte Sir András Schiff in seinem Klavierabend im Großen Saal der Alten Oper einen Bogen über vier Jahrhunderte zum Thema Abschied. Als Referenz an den einladenden Verein Frankfurter Bachkonzerte begann er mit dem Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo B-Dur BWV 992. Dabei bohrte er sich nicht an Details fest, sondern gab ihnen aus seinem großen Überblick heraus einen neuen Sinn: statt auf der herzzerreißenden “Bleib-doch-da”-Chromatik herumzureiten, lenkte er den Blick auf die psychologische Selbstheilung des vom Schicksal nicht eben verwöhnten 21-jährigen Johann Sebastian Bach, indem der neben dem echten Schmerz auch zeigte, wie man ihn durch schöpferische Verarbeitung überwindet.

In Ludwig van Beethovens sehr persönlicher “Lebewohl” Sonate Nr. 26 Es-Dur op. 81a zeigte Sir András Schiff seine Größe unter anderem darin, dass er die Exposition des ersten Satzes bei der Wiederholung völlig anders und sehr viel differenzierter beleuchtete. Als erster Höhepunkt vor dem ersten zugelassenen Applaus zeigte er seine über alle pianistischen Probleme erhabene Musikantik in der einzigen Klaviersonate von Béla Bartók. Mit ihr hatte der Komponist, zwei Jahre nach seinem grundlegenden Werk „Das ungarische Volkslied“, seiner klassisch orientierten Pianistenkarriere “Lebewohl” gesagt. Auch von dem übermäßig selbstkritischen Leoš Janáček ist nur eine einzige Klaviersonate überliefert: Die „Sonate 1.X.1905“ verewigt das Datum einer Demonstration für eine Tschechische Universität, die von deutschen Besatzern blutig niedergeschlagen wurde.

Von Franz Schubert, als Leitfigur des Musikfestes, beschloss die in seinem Todesjahr entstandene, posthum veröffentlichte Sonate c-Moll das Konzert. Auch hier gliederte Schiff sinnstiftend mit ausführlich ausgekosteter Agogik, arbeitete mit dem symphonischen Klang des Bösendorfer-Flügels über die Binnenspannung der Mittelstimmen das Nebeneinander von düstrer Todesgewissheit und der Transzendenz lichter Melodien heraus.

Die erste Zugabe, Präludium und Fuge C-Dur BWV 846, verhieß nach dem Abschied einen Neuanfang über „Das Wohltemperierte Klavier“ hinaus. Die zweite war die Gavotte aus BWV 811, die dritte, mit herausgestellter stabilisierender Mittelstimme, die Ungarische Melodie D. 817. Hätte Schubert sich träumen lassen, wie intensiv er auch nach 189 Jahren noch weiterlebt?

DORIS KÖSTERKE