Wozu braucht man Künstler?

 

Künstler sind Menschen, die sich ganz bewusst entschieden haben, „anders“ zu sein. Sie hören lieber auf sich selbst, als dass sie einem Herdentrieb gehorchen. Fast alle sind weit überdurchschnittlich gebildet, intelligent und sensibel. Mit großem Perfektionismus setzen sie sich selbst ihre Ziele und Maßstäbe. Das schärft ihre Wahrnehmung für den Rest der Welt. Früher und klarer als Menschen, die im täglichen Funktionieren befangen sind, erkennen sie unliebsame Mechanismen, mit denen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft ihre Träger formen, an sich binden und instrumentalisieren.

Viele Künstler sind „systemkritisch“. Von Ihrer Kritik kann „das System“ profitieren. Das macht Kunst „systemrelevant“.

Sie wollen sich da nicht einordnen, wollen selbstbestimmt leben und schaffen, nicht „gelebt werden“. Nicht nur für Künstler ist eine gelungene künstlerische Aussage ein verlässlicherer Indikator für Wahrhaftigkeit als Börsenkurse.

Wer einen künstlerischen Beruf ergreift, weiß in aller Regel, dass er ein Leben in ideellem Reichtum und materieller Armut wählt. Künstler wird (und bleibt) man, wenn man die Werte seiner Kunst höher schätzt als Wohlstand, Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung.

Doch: Wer seinem eigenen Weg folgt, braucht beispielsweise keine Statussymbole, in Form von repräsentativen Behausungen, überdimensionierten Fahrzeugen oder Fernurlauben. Entsprechend ist der ökologische Fußabdruck der meisten Künstler gering. Im sorgsamen Umgang mit knappen materiellen Ressourcen wird Nachhaltigkeit zum täglichen Gebot: Dem Trend der Industrie, Dinge zunehmend billiger und damit immer auch kurzlebiger zu produzieren, setzen sie ihren Sinn für Qualität entgegen.

In der Krise schlägt die Stunde der Künstler

Natürlich gibt es auch unter Künstlern „solche und solche“. So wollen diese Zeilen keineswegs normativ sein. Sie wollen nur aufmerksam machen: Die aktuelle Krise bringt die Mängel einer Gesellschaft ans Licht, die Künstler für „nicht systemrelevant“ hält. Doch jeder einzelne kann im Umgang mit Künstlern lernen, von ihrer Selbstverantwortlichkeit, von der Genauigkeit ihrer Wahrnehmung, von ihrem Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Qualität, von ihrem geschärften Blick für Wesentliches, von ihrem kultivierten Instinkt für Lebensqualität und Lebenslügen.
Und sie dafür bitte auch honorieren – in welcher Form auch immer.

DORIS KÖSTERKE
Frühjahr 2020