Wiesbadener Improvisations-Ensemble >WIE?!<

Ein Gespräch mit den Musikern aus dem Wiesbadener Improvisations-Ensemble >WIE?!< zum Thema „Kultur – wozu?“.

WIESBADEN/IDSTEIN. „Die Welt ist eine (Matt-)Scheibe!“ spöttelt Ulrich Phillipp. Nicht nur über die Livestream-Kultur unserer Tage: „Das kann man mal machen. Aber ein Ersatz für das Konzert als Erlebnis von Gemeinschaft ist das nicht“.

Dirk Marwedel und Wolfgang Schliemann pflichten ihm bei. Zusammen bilden die drei Musiker das Wiesbadener Improvisations-Ensemble >WIE ?!<. Auf einem Spaziergang in der Nähe von Idstein reden wir über Kunst zu Zeiten von Corona und wozu man sie überhaupt braucht. Dass es regnet, stört dabei nicht. Viel zu sehr fasziniert die hohe Kultur des Zuhörens: Die Aufmerksamkeit, mit der die drei Musiker einander und ihrem Zuhörer begegnen, spiegelt die Art, wie sie musizieren. Unterdessen schärft der Blick über zersiedelte Gebiete die Sinne für den Wert unversiegelten Bodens unter den Füßen.

Unversiegelte Musik

„Wir machen unversiegelte Musik“, kombiniert Dirk Marwedel, „nicht durch Noten vorgegeben, durchlässig, in jedem Augenblick offen für neue Entwicklungen.“ Zuhörer brauchen allerdings einige Bereitschaft, Gewohnheiten beiseite zu lassen und genau zuzuhören. Sonst hören sie womöglich nur Matsch.

Sich aus finanziellen Gründen einem Publikumsgeschmack anzubiedern, kommt für alle drei nicht in Frage. Sie haben Gründe, sich nicht anzupassen und machen anderen Mut, sich ebenfalls nicht anzupassen:
Unversiegelte Musik und unversiegelter Boden haben keinen Marktwert. Ebenso wenig wie Stille oder saubere Luft. „Dabei sind wir mit einem System konfrontiert, das alles an einem Marktwert misst; das künstliche Bedürfnisse schaffen muss, um immer weiter wachsen zu können; das totalitäre Züge angenommen hat, indem es unser Ökosystem, wie auch die körperliche und seelische Gesundheit von Menschen zerstört. Dem gegenüber müssen wir sehr wach sein. Uns nach unseren wirklichen Bedürfnissen fragen. Unseren eigenen Weg finden. Sonst geraten wir in Anpassung und Fremdbestimmung. Also: Bei mir ist es ein immer wieder überprüfter bewusster Entscheidungsprozess, wie ich mein Leben und meine Kunst gestalte. Keineswegs resignativ!“, sagt Wolfgang Schliemann und lacht: „Natürlich mache ich mir mein Leben dadurch nicht leichter“.

Zuhören statt Hörigkeit

„Wir sagen niemandem, was er hören oder gar, was er tun sollte. Wir schaffen eine Atmosphäre der gesteigert wachen Wahrnehmung und Intensität“, sagt Ulrich Phillipp. „Einen Bildschirm nehme ich nicht mit allen Sinnen wahr. Er ist von mir distanziert. Ein Livestream kann ich abschalten, wenn es mir zu anstrengend wird. Deshalb können beide diese Atmosphäre gesteigerter Wachheit und Intensität nicht hervorbringen. Das schafft nur die verbindliche Situation eines Konzerts vor aktiv zuhörendem Publikum“, betont Ulrich Phillipp.

Nicht zu wissen, wann das einmal wieder stattfinden kann, „das macht was mit uns“, sagt Dirk Marwedel bitter.

DORIS KÖSTERKE
Dezember 2020

 

Unbeirrt im Regen – das Wiesbadener Improvisations-Ensemble >WIE ?!< auf einem Spaziergang in der Nähe von Idstein.
Von links nach rechts: Ulrich Phillipp, Wolfgang Schliemann, Dirk Marwedel.

 

Vgl.: Helmut Lachenmann sieht den „Zweck“ der zeitgenössischen ernsten Musik darin, ästhetische Stereotype einer „kommerziell gesteuerten Hörigkeit“ zu konterkarieren. – Zugriff 5.6.19, 15:36.