In vierzig Jahren zum Idealgewicht

„Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen“, sagt der Volksmund.
Manchmal muss man ziemlich viel aufwenden, um die beiden zusammenzuhalten.
Nicht alle Gründe dafür liegen in einem selbst.
Sie zu finden, ist eine Lebensaufgabe.

Packen wir sie an!
Das wird dem Leben guttun. Nicht nur dem eigenen.

In vierzig Jahren zum Idealgewicht

 

Wenn ich an einem Spiegel vorbeigehe, freue ich mich über meine Silhouette.
Dem war Jahrzehnte lang nicht so. Obwohl ich, anders als heute, häufig Diäten gemacht und bewusst gehungert habe.

Was hat sich seitdem verändert?
Sehr viel.
Das mit dem Gewicht ist nur ein Nebeneffekt.

 

Zeit

Für mein derzeitiges Lieblingsmüsli mit frischen Äpfeln, Möhren, Orangen, Ingwer und Walnüssen brauche ich etwa eine halbe Stunde zum Zubereiten und eine weitere halbe Stunde, um es genussvoll zu kauen.
Früher hätte ich verächtlich gesagt: Dafür habe ich keine Zeit.
Teils konnte ich mir diese Zeit tatsächlich nicht nehmen, weil mein Tagesablauf durch andere Lebenszusammenhänge vorstrukturiert war.
Teils hieß „keine Zeit“ auf Deutsch: andere Dinge sind mir wichtiger.
Inzwischen wage ich es, auch mich selber wichtig zu nehmen.

 

Genuss

Ich bin ein Genussmensch. Der Genuss einer Schlemmerei ist flüchtig, die Folgen sind langfristig und kein Genuss. Lange habe ich gebraucht, um diese Einsicht zu verinnerlichen. Ganz entscheidend war auch, was ich von den Epikureern gelernt habe: Alltäglicher Wein schmeckt längst nicht so gut, wie nur ein einziges feierliches Glas pro Woche, etwa am Samstagabend.
Wenn Genuss zum Konsum wird, ist er nur noch eine schlechte Angewohnheit.

 

Gewohnheit

Gewohnheiten sind große Tyrannen. Ich aber will mich von nichts und niemandem tyrannisieren lassen. Mich von einer unliebsamen Gewohnheit zu befreien, vermittelt mir ein köstliches Stück Selbstwertgefühl.

Auch Geschmack ist überwiegend Gewohnheitssache.
Viele Spezialitäten „schmecken“ erst, wenn man sie viele Male gegessen hat. Nicht zuletzt „schmecken“ dann die mit der Spezialität verbundenen Erinnerungen.

 

Geschmack

Es gibt regelrechte Tyrannen-Geschmäcker. Vor allem die von Fett, Alkohol, Zucker, Röststoffen oder gar Glutamat verstärkten. Sie bewirken, dass man Sachen isst oder trinkt, die einem nicht gut tun und in Mengen, die erst recht nicht gesund sind.

Die feinen Aromen von frisch geschnittenen Kräutern, vollreifem Obst, erntefrischem Salat und knackigem Gemüse musste ich mir als Stadtmensch mit Weltmarktstrukturküchenprägung erst erschließen. Zunehmend habe ich im wahrsten Sinne des Wortes daran Geschmack gefunden.
Auch heute falle ich noch hin wieder auf Tyrannengeschmäcker herein. Aber nicht für lange.

 

Qualität

Wenn ein Essen mich nicht befriedigt, etwa, weil Tomaten nicht nach Tomaten schmecken, esse ich mehr, als mir guttut. Als könnte die größere Menge die mangelnde Güte aufwiegen. Außerdem wächst in mir ein Bedürfnis nach „Entschädigung“, etwa durch süßen Nachtisch, Likör oder Schnaps.
Bedenkt man, dass gute Sachen besser sättigen und man deshalb weniger braucht, dass man die Genussmittel zur „Entschädigung“  spart und womöglich noch die Kosten späterer Zivilisationskrankheiten, dann ist gesundes Essen nicht mehr teurer als billiges.

 

Wissen

Es gibt unzählige Bücher über gesunde Ernährung. Ich habe viele gelesen und möchte kaum eins missen.

Wissen macht widerstandsfähig. Zum Beispiel gegen Werbung:
Die Nahrungsmittelindustrie will vor allem Geld verdienen. Mit Geschmacksdesign erreicht sie, dass man (für die Industrie billige) Produkte von zweifelhaftem Nährwert in unverhältnismäßig großen Mengen zu sich nimmt und, süchtig nach diesem einen speziellen Geschmack, beim nächsten Mal noch mehr von genau diesem Produkt kauft.

Seitdem mir das klar ist, verzichte ich auf industriell zubereitete Speisen so gut wie ganz: „Man ist, was man isst“, sagt ein Sprichwort und ich wollte noch nie ein Industrieprodukt sein.

Zu den Industrieprodukten zählen bereits weißer Zucker und weißes Mehl. Wer auf beides verzichtet, lebt schon ziemlich gesund. – Allerdings auch quer zum Üblichen. Aber was ist dieser Verzicht gegen den orthorektischen Terror um vegetarische Wurst oder vegane Hightech-Sahnetörtchen?

Gemessen an Vollkorn-Geschmäckern fehlt mir an Weißmehl-Brötchen das Wesentliche. Ernährungsphysiologisch betrachtet sind sie grober Unfug. Genau wie Kuchen. Seit ich mich dazu erzogen habe, ein gelegentliches Bedürfnis nach Süßem mit (getrockneten) Früchten, Honig oder bestenfalls mit Mascobado zu stillen, schmecken mir klassische Süßigkeiten überhaupt nicht mehr.
Aber wenn ich auch nur einen Dominostein esse, keimt die Sucht wieder in mir auf.

 

Erfahrung

Früher habe ich erst angefangen zu kochen, wenn ich Hunger hatte. Meist war ich dann bereits völlig unterzuckert und habe unkontrolliert zu Süßem oder Alkoholischem gegriffen, um mein Wohlbefinden schon während des Kochens wieder herzustellen. Inzwischen versuche ich, regelmäßig zu essen und das Kochen fest einzuplanen.

 

Alkohol

Früher war Alkohol für mich eine Art Grundnahrungsmittel. Lange wollte ich nicht glauben, dass er Kreativität, Produktivität und gute Laune längst nicht so zuverlässig steigert, wie das Gewicht. Erst, als meine Waage immer wieder deutlich weniger anzeigte, wann immer ich eine Woche auf Alkohol verzichtet hatte, glaubte ich an einen Zusammenhang. Diese Erfahrung war mein erster starker Anreiz, ihn mir im Alltag abzugewöhnen.

 

Den Signalen des Körpers vertrauen

Es gehört viel Ehrlichkeit dazu, die Signale des Körpers von der Macht der Gewohnheit zu unterscheiden. Und erst recht von der Macht einer Sucht.

Jeder Mensch darf anders sein, als andere. Deshalb lässt sich meine Erfahrung nicht verallgemeinern. Sie soll jedoch Mut machen, Prägungen und Gewohnheiten zu hinterfragen:

Am Anfang der zwei Jahre, in denen ich ein Stipendium hatte, um meine Doktorarbeit fertig zu schreiben, setzte ich mich morgens nach dem Frühstück mit dem festen Vorsatz an den Schreibtisch, bis mittags eine intensive vierstündige Arbeitsphase durchzuhalten. Es fiel mir sagenhaft schwer.

Durch Zufall erlaubte ich mir einmal, den gesamten Vormittag über am Schreibtisch zu futtern. Überrascht stellte ich fest, dass ich nicht nur produktiver arbeiten konnte, sondern dadurch sogar abnahm. Das widerspricht jeder Prägung und guten Erziehung, hat sich aber für mich bewährt. Also habe ich es beibehalten. Mittags koche ich etwas Minimalistisches. Für den Rest des Tages habe ich keinen Hunger mehr. Das Intervallfasten, von vielen als ideale Methode zum Abnehmen gepriesen, hat sich bei mir ganz unbeabsichtigt von selbst eingestellt.

 

Ersatzbefriedigung?

Zuviel Essen und Trinken ist oft ein Ersatz für etwas, das fehlt. Der Klassiker ist ein Mangel an Liebe. Mit diesem Mangel konstruktiv umzugehen, ist eine Lebensaufgabe, die „oral“ (im weitesten Sinne) nicht zu lösen ist. Erfolgversprechend ist die tägliche selbstkritische Frage: Wie kann ich meinem Gegenüber genau die Liebe geben, die es braucht? Wenn ich merke, wie schwierig das ist, werde ich bescheidener. Und dankbarer. Wer sich seine eigenen Schwächen zugesteht, ist ohnehin liebenswerter als jemand, der zu viel von sich (und anderen) verlangt.

Ähnliches gilt für einen Mangel an Anerkennung: die, finde ich, sollte man niemals außen suchen, sondern allein in sich selbst. Auch eine Lebensaufgabe: Lebe so, dass du vor dir selbst bestehst!

Früher habe ich oft gegessen oder Alkohol getrunken, um mich zum Weiterarbeiten zu bringen, wenn ich keine Lust hatte oder müde war. Inzwischen vertraue ich darauf, dass es nach einer Pause, einem Spaziergang oder etwas Schlaf umso besser weitergeht.

Wenn es nur irgendwie möglich ist, radele ich nach dem Mittagessen für mindestens eine Stunde in den Wald. Manchmal komme ich nicht dazu oder drücke mich. Dann spüre ich hinterher, dass mein Hirn nicht so frisch und gut durchblutet ist und mir das Arbeiten schwerer fällt, als gewohnt.

Im Sommer arbeite ich bei schönem Wetter gern morgens und abends jeweils von etwa sieben bis elf, um nachmittags Sonne zu tanken. Im Winter brauche ich mehr Schlaf und gestehe mir das zu.

 

Was für ein elitäres Geschwafel?

In den meisten Arbeitsverhältnissen und familiären Lebenszusammenhängen ist das Geschilderte unerreichbarer Luxus: Zeiten fürs Essen und Schlafen werden vom Arbeitsablauf diktiert. Zusätzlich taktet die Familie die Routine. Oft bleibt nicht einmal Gelegenheit, Gewohnheiten zu hinterfragen.
Aber um welchen Preis?
Bei Unlust eine Pause machen zu dürfen, kommt für die meisten Menschen nicht in Frage. Es ist aber sinnvoll, um einen neuen Ansatz zu suchen. Im Alltag allzu vieler Menschen ist es illusorisch, sich bei Tageslicht im Freien körperlich abzureagieren. Schlimmer Weise sogar für die meisten Kinder.

Aber lassen sich manche Strukturen nicht doch leichter aufweichen, als gedacht?