Inhärente melodische Patterns

„Wenn diese Musik richtig gespielt wird“, sagte Ligeti über sein Klavierkonzert, „wird sie nach einer gewissen Zeit abheben wie ein Flugzeug nach dem Start“. Verantwortlich sind so genannte „inhärente melodische Patterns“, musikalische Meta-Erscheinungen, die in unserer Wahrnehmung entstehen, obwohl sie nicht real gespielt werden. Ein Beispiel: Bei afrikanischem Trommeln hat sich schon mancher verwirrt nach einem mutmaßlichen Geisterchor als Urheber empfundener Melodien umgesehen.

Inhärente melodische Patterns

An diesem Phänomen forschen auch die beiden Komponisten Michael Pelzel und Felipe Lara. Beide bekamen im Rahmen des Musikfests den Auftrag, sich in einer eigenen Komposition mit Ligetis berühmten Atmosphères auseinanderzusetzen. Im jüngsten Konzert des Ensemble Modern erlebten die Resultate im Mozart Saal der Alten Oper ihre Uraufführung.

Obertonspektrum von Klängen

Wie Ligeti arbeite er mit Klangflächen, erzählte Michael Pelzel im Einführungsgespräch mit Christoph Dennerlein. Aber nicht mit Mikro-Polyphonien, sondern mit dem natürlichen Obertonspektrum von Klängen. Seine „Chromosphères“ (2018) starteten mit einer weichen Klangwolke, aus der sich farbige Klangschichten schälten. Heftiges Hämmern an zwei Flügeln schien dem Anfeuern von Obertönen als Spielwiese der “inhärenten melodischen Patterns“ zu dienen. Aber die theatralische Aktion, in der einige der Musiker ihren angestammten Platz verlassen mussten, um beim Traktieren der beiden präparierten Flügel zu helfen, wirkte befremdlich und das auf seinem Höhepunkt explodierende Crescendo etwas billig, gelungen wiederum die gläserne Klangfläche, mit der das Stück ausklang.

Das Tolle an Ligetis Atmosphères ist, dass da eine hochkomplizierte Faktur einen musikalischen Sog entfaltet, der auch ungeübte Hörer erfasst. Das Stück warf das teils berechtigte Vorurteil über den Haufen, dass „Neue Musik“ nur etwas für moralinsaure Spezialisten, nicht aber für musikalische Menschen sei. Daran gemessen blieben die beiden Kompositionen, der klaren und suggestive Leitung von Dirk Kaftan und dem vorbehaltlosen Einsatz der Musiker zum Trotze, hinter ihrem Vorbild zurück: Abgesehen von Musikantischem an Anfang und Schluss gewann ein übermüdeter Hörer in Brutal Mirrors (2018) von Felipe Lara den Eindruck eines vertonten Schachbretts.

Gaukler

Für Munterkeit sorgte die von Unsuk Chin in Gougalon (2009/2011) vermittelte Atmosphäre eines bei aller Derbheit emotional tief berührenden Straßentheaters. Den Titel hat die koreanische Komponistin dem Althochdeutschen entlehnt. Wie dieser Begriff vexiert auch ihre Musik zwischen „etwas vorgaukeln“ und „der Lächerlichkeit preisgeben“. Die allgemeinen Bravos und Jubelrufe quittierten mithin die Spielfreude, mit der die Musiker die exotischen Klangwelten nachzeichneten.

Geburtstag

Im abschließenden Klavierkonzert (1985-1988) von György Ligeti mit Ueli Wiget als Solisten empfand man stellenweise tatsächlich jenes oben besagte „Abheben“. In den Schlussapplaus mischte sich, vom Ensemble angestimmt und vom Publikum verstärkt, ein herzliches „Happy Birthday“ für den unerschrockenen Pianisten des Ensemble Modern, für den Schwierigkeiten nicht mehr sind als inspirierende Herausforderung.

DORIS KÖSTERKE

20.9.18