Pierre-Laurent Aimard im Zoo und in den Wolken

„Kunstreligion“ muffelt verächtlich, wer lieber geistige Schubkästchen füllt, als sich jenseits der Komfortzone einer Erfahrung zu öffnen. Zum ersten der drei Konzerte des Pianisten Pierre-Laurent Aimard mit Stücken aus Messiaens Catalogue d’Oiseaux (1956–1958), das um die Zeit des Sonnenaufgangs im 38. Stock des Opernturmes stattfand, klingelte der Wecker in einer der wenigen Stunden der Nacht, in denen es selbst in Großstädten ruhig ist. Die geistige Vorbereitung auf das Konzert hatte in diesem Falle nicht nur im Lesen der Noten und Vergleichen von Interpretationen bestanden, sondern auch im Verzicht auf demoralisierende Getränke und im frühen Schlafengehen am Vortag. Die erste Freude des Tages galt der eigenen Willenskraft. Dass das Ultimatum, „nach 5.45 Uhr wird niemand mehr eingelassen“, seitens der Alten Oper in einer Weise vernachlässigt wurde, dass der Einlass erst nach sechs Uhr begann, wirkte dem gegenüber unfein.

Vögel, „die größten Musiker unseres Planeten“, waren für Messiaen die treueste Inspirationsquelle, während „keine humane Musik … dem Verzweifelten Vertrauen einflößen“ konnte.“ Minutiös erlauschte er die Melodien, Gesten und Rhythmen ihres Gesangs, bildete sie auf Instrumenten nach und fügte sie in musikalische Formen mit Wiederholungen, Variationen, Kontrasten. Für den Catalogue d’Oiseaux (1956–1958) hat er Vogelgesänge aus Frankreich zusammengetragen. Jeder Vogelbeobachtung hat Messiaen einen eigenen Text vorangestellt, in dem man die jeweilige französische Landschaft vor sich sieht, samt den Vögeln, die in ihr miteinander kommunizieren. Der Morgen begann mit den vollen regelmäßigen Tontrauben mediterraner Nobelweine, zwischen denen der Traquet Stapazin, der Mittelmeersteinschmätzer, zwitschert und sich mit Ortolan, Brillengrasmücke, Silbermöve und anderen unterhält.

Das Wetter vereitelte den erhofften Ausblick. Aber nach dem zweiten Stück, La Bouscarle, in dem der wütende Schrei des Seidenrohrsängers (cettia cetti) sehr trocken vom Eisvogel erwidert wird und Amsel, Singdrossel, Zaunkönig und Zilpzalp den Hochzeitsflug des Blässhuhns begleiten, war es hell genug, um in den besonders klangschönen Sätzen Le Loriot, Der Pirol und Le Merle Bleu, Die Blaumerle, den Notentext mitzuverfolgen, der den Kunstgenuss insofern zu vertiefen vermag, als Messiaen darin genau vermerkt, was er im jeweiligen Moment vertonte.

Der Notentext half auch, die Leistung des Pianisten zu würdigen: er hat sich die Musiksprache, die in weniger ausgereiften Interpretationen klingen kann wie ein Prototyp des Musikliebhaber-Feindbilds „Neue Musik“, im wahrsten Sinne des Wortes „zu eigen“ gemacht, ihre Farben hinterfragt und in seine eigene Melodie integriert. Dabei störte es nicht, dass er die Auswahl der Stücke nicht den Tageszeiten abgestimmt hatte, in denen sie erklangen. Einem zweiten Konzert um die Mittagszeit im Palmengarten folgte ein drittes um die Zeit des Sonnenuntergangs in den Faust-Vogelhallen im Frankfurter Zoo, eröffnet von den chromatischen Läufen des Grossen Brachvogels Le Courlis Cendré, dem Satz Le Merle de Roche (der Steinrötel), in dem Frau Uhu ihrem Mann antwortet wie ein gedämpftes Schlagzeug. Dem schmerzlich tremolierenden Waldkauz (La Chouette Hulotte) folgte das muntere Tirilieren der Heidlerche (L’alouette Lulu), begleitet von munterem Gezwitscher in den Außenvolieren. – Was denken Vögel, wenn die Sonne untergeht?

DORIS KÖSTERKE

23.9.18