Lera Auerbach – Klänge mit Eigenleben

„Ich war sehr, sehr jung und das erste Mal von meinen Eltern getrennt“, schrieb Lera Auerbach über ihren spontanen Entschluss als siebzehnjährige Pianistin, ihre Konzertreise in New York zu unterbrechen, „ohne Englischkenntnisse, ohne Geld, ohne meine Familie, ohne alles“, um bis heute dort zu bleiben. …weiterlesen

Regenerative Mutterliebe

Lemminkäinen unterliegt Schwan

In den Vier Legenden op. 22 von Jean Sibelius zeigte sich das Philharmonische Staatsorchester Mainz in seinem Ersten Sinfoniekonzert im Großen Haus in allerbester Form. Die auch als Lemminkäinen-Suite bezeichneten symphonischen Dichtungen spiegeln Episoden aus dem finnischen Nationalepos Kalevala, vor allem den jugendlichen Helden Lemminkäinen, einem Frauenschwarm und Haudegen, dem nur eine Mission gründlich schiefläuft: als er den Schwan töten soll, der das Totenreich Tuonela umschwimmt, harkt seine Mutter anschließend mit einem Rechen seine Leichenteile aus dem Fluss. Mit einer Zauberformel kann sie ihn jedoch wieder lebendig machen.

Das harkende Tasten in Fluten und Schlamm meinte man in der Musik zu hören, die keine Programmmusik sein will. Vielmehr verbindet der außermusikalische Bezug die in Töne gefasste Fantasie des Komponisten mit der angeregten Fantasie der Zuhörer zu einem freien, enorm spannenden Spiel.

Die estnische Dirigentin Anu Tali leitete die Aufführung mit klaren, suggestiven, bisweilen erfrischend unorthodoxen Gesten (etwas das Krümeln zum Beschluss der dritten Legende, „Lemminkäinen in Tuonela“). So animiert fügten sich hohe Dramatik und reich schattierte Stimmungsbilder zu einem energetisch stimmigen Fluss. Das Orchester schuf Gänsehaut-und Herzklopfen-Klänge und beeindruckte in intimen kammermusikalischen Dialogen. Großartig gelungen waren die Einzelleistungen, vor allem die ausgedehnten Englischhorn-Soli. Aber auch das nahtlos von der Viola weitergeführte Cello-Solo zu Beginn der zweiten Legende, „Der Schwan von Tuonela“, ließ elektrisiert aufhorchen.

Zum Einspielen hatte die sehr gefällige, von tanzfreudiger Folklore inspirierte Estnische Tanzsuite von Eduard Tubin gedient. Konzertmeister Naoya Nishimura trat als Solist in Sergej Prokofjews Erstem Violinkonzert auf, in dem ihn primär die technischen Herausforderungen zu reizen schienen, die er virtuos meisterte. Seine Zugaben stammten aus der Solo-Sonate op. 27 Nr. 4 von Eugène Ysaÿe.

DORIS KÖSTERKE

Brett Dean – Komponistenportrait in Mainz

Brett Dean – Drittes Mainzer Komponistenportrait

Kritik: Neuntes Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz

 

 

„Dann komponier doch selber!“, habe seine Frau gesagt, als er, noch Bratscher bei den Berliner Philharmonikern und deren Scharoun Ensemble, zu Hause „einmal zu oft“ über die zu spielenden Stücke geschimpft hatte. Brett Dean hörte auf seine Frau. Er hatte nie Komposition studiert, aber genug Erfahrung als Interpret, Improvisator und Arrangeur, um seine eigenen Vorstellungen von Klangsprache und „Großem Bogen“ zu verwirklichen. Seine Kompositionen verbreiteten sich zunächst über Flüsterpropaganda. Dann kamen Preise, Aufträge, Ruhm, aber kein Bruch in der Freundschaft zu seinem ehemaligen Orchesterkollegen Hermann Bäumer.

Im Dritten Mainzer Komponistenportrait, das in das von Bäumer dirigierte Neunte Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz im Großen Haus des Staatstheaters eingebettet war, standen beide zusammen auf der Bühne, zunächst in der überaus launigen Einführung, der obige Zitate entnommen sind. In Brett Deans Konzert für Viola und Orchester wirkte der Komponist als Solist. Den Beginn ließen die Violoncelli ganz allmählich über die Hörschwelle kriechen, bis die Solobratsche in den höchsten Tönen einstimmte: Laut Dean ein Klang, den andere Komponisten kaum zu schätzen wissen. Im Ausklang kommentierte die Solo-Bratsche sehr leise ein Solo der Oboe. Dazwischen war es so packend, dass es schwer fällt, etwas über die Tonsprache zu sagen, außer, dass sie an keinen anderen Komponisten erinnert.

Als eins von Bretts Deans bekanntesten Stücken folgte „Carlo” für Streicher, Sampler und Tonband. Letztere lassen die Quelle der Inspiration, das harmonisch kühne Madrigal „Moro, lasso, al mio duolo“ von Carlo Gesualdo durchschimmern. Aus den zugespielten und gesampelten vokalen Renaissanceklängen greifen die meist als Solisten agierenden Streicher einzelne Klänge und Motive auf und entwickeln sie weiter zu einer dramatischen Raserei, die an den Mord Gesualdos an seiner Frau und deren Liebhaber erinnert und schließlich eine humoristische Vollbremsung erfährt.

Umrahmt wurde das Portrait von zwei Werken des Lieblingskomponisten von Brett Deans Vater, Felix Mendelssohn Bartholdy. Krönender Abschluss war eine detailliert phrasierte und schattierte, spritzige und groovende, leidenschaftlich lustvolle Aufführung von Mendelssohns „Italienischer“ Sinfonie.

DORIS KÖSTERKE

 

Das Konzert wurde mitgeschnitten. Am 6.7. wird es im Deutschlandfunk Kultur, am 23.09.17 und 30.09. auf SWR2 gesendet, jeweils um 20:03 Uhr.