Inhärente melodische Patterns

„Wenn diese Musik richtig gespielt wird“, sagte Ligeti über sein Klavierkonzert, „wird sie nach einer gewissen Zeit abheben wie ein Flugzeug nach dem Start“. Verantwortlich sind so genannte „inhärente melodische Patterns“, musikalische Meta-Erscheinungen, die in unserer Wahrnehmung entstehen, obwohl sie nicht real gespielt werden. …weiterlesen

Vokalensemble Solistes XXI im Kaiserdom

Auf dieses Konzert hatte man sich schon lange gefreut: Das französische Ensemble Solistes XXI sang Vokalmusik aus der Zeit, in der viele Häuser der rekonstruierten Frankfurter Altstadt entstanden sind, kombiniert mit der Musiksprache des zwanzigsten Jahrhunderts, gekrönt vom in strahlende Klänge gefassten Ewigen Licht im Lux Aeterna von György Ligeti. …weiterlesen

Klanggarten im Städel

Neue Musik trifft neue Kunst

 

 

„Klanggarten“ heißt ein neues Veranstaltungsformat. Dabei werden die Räume der Sammlung Gegenwartskunst im Städel von Mitgliedern der Jungen Deutschen Philharmonie bespielt. Mit Kompositionen, die etwa zeitgleich mit den Bildern und Plastiken entstanden sind. Zum gegenseitigen Erhellen der Kunstgattungen trugen im ersten Abend dieser Reihe etwa die geschmeidig und schattierungsreich gespielten Sechs Bagatellen für Bläserquintett (1953) von György Ligeti bei: Nachdem man sich den Exponaten des German Pop gewidmet hatte, hörte man besonders auf die Objets trouvés: das folkloristische Material darin.

Unerschrocken und mit wendiger Tongebung überzeugte Trompeter Felix Schauren mit einer Auswahl aus den Quattro pezzi für Trompete solo (1956) von Giacinto Scelsi: der wie improvisiert wirkende Fluss korrespondierte etwa mit den Großformaten von Hermann Nitsch. Die den weitläufig den Raumkomplex bespielenden Variations IV (1963) 
von John Cage machten diesen Ort akustisch erfahrbar als (idealerweise) gleichberechtigtes einander Durchdringen künstlerisch tätiger Menschen.

In der Nähe gesellschaftlich engagierter Bilder von Jörg Immendorff hinterfragten zwei der „10 Märsche um den Sieg zu verfehlen“ (1978/79) von Mauricio Kagel die Grundbestandteile jener harten musikalischen Viervierteltakt-Droge, die Menschen bereit macht, sich totschießen zu lassen.

In John Cages
 4’33’’ (1952)
 füllen die Geräusche der Umgebung das Schweigen der Musiker, wie Staub die ehemals weißen Leinwand von Gotthard Graubners Stylit. Schade, dass diese Aufführung nicht der Partitur folgte, die diese „Stille“ in drei Sätze gliedert. Das hätte nicht nur die Musiker in ihren Posen entlastet, sondern vor allem den Höreindruck strukturiert, um ihn bewusster wahrnehmen zu können.

Kunst und Musik der Gegenwart erfordern beide, dass man sich auf sie einlässt. Toll gemacht hatte das Ruth Eichenseher: sie hatte sich weit genug in die graphische Notation von Morton Feldmans Intersection 4 für Cello solo (1953) hineingefuchst, dass man die Interpretin als Mitautorin der Komposition wahrnahm, die bei jeder Aufführung anders klingt.

Die hundert Metronome zur Aufführung von Ligetis Poème symphonique (1962) waren auf der Treppe zum Ausgang aufgebaut. Schade, dass der Mitteilungsdrang einzelner Besucher den an volles Regenrauschen erinnernden Beginn begraben hatte. Aber schön, dass die Traube der aktiv Zuhörenden wuchs, während diese Aufführung, bedingt durch die erlahmenden Antriebsfedern der auf verschiedene Schlaggeschwindigkeiten eingestellten feinmechanischen Geräte, immer leiser wurde. Je weniger Metronome klackten, umso durchhörbarer wurden die sich verändernden Rhythmen. Als die beiden bis zuletzt verbliebenen Geräte durch Zufall simultan verstummten, löste sich die Konzentration in gemeinsames Lachen.

DORIS KÖSTERKE

Man kann mit Musik auch lachen

 

„Das Herz, das Gefühl hinter der Musik – das ist das Wichtigste. Man muss das suchen. Das ist das Schwierigste!“ – Im Gespräch mit Michael Rebhahn baute Bratschist Antoine Tamestit berührend gefärbte Brücken zum gut besuchten jüngsten Konzert im Forum N, das Luciano Berio (1925-2003) in den Fokus rückte.

Antoine Tamestit in Aktion und Gespräch

Tamestit, derzeitiger „Artist in Residence“ des hr-Sinfonieorchesters, war Solist in „Voci“ (1984) für Viola und zwei Instrumentengruppen, in dem Berio seine avantgardistische Tonsprache mit sizilianischen Volksmelodien verschmolzen hat, wobei nicht nur die Solo-Bratsche diese Liebes-, Arbeits- und Wiegenlieder und Balladen mit den emotionalen „Unsauberkeiten“ einer folkloristischen Frauenstimme anreichern soll. Die beiden Orchestergruppen waren im hr-Sendesaal als zwei verschieden große, mit deutlicher Lücke ineinander geschachtelte Schalen aufgestellt. Nach Tamestits Beschreibungen verstand man sie wie das Ineinander von Gegenwart und Geschichte, wie man es in sizilianischen Städten wie Palermo oder Agrigento erlebt.

Die experimentierfreudige Klangsprache war durchsetzt von herzhaften Dudelsack-Imitaten, Bänkelsänger- und Volkstanz-Idiomen. Nebenher staunte man über Tamestits virtuosen Wechsel zwischen erweiterten Spieltechniken, etwa ein an das Rasgueado von Flamenco-Gitarristen erinnernde Schrammeln der Saiten bis zur zart entrückten Flageolett-Melodie und zuckte zusammen, wenn unerwartete Resonanzen, Verstärkungen und Kommentare über den raumzeitlichen „Graben“ zwischen den Orchestergruppen sprangen.

Matthias Pintscher als Dirigent

Matthias Pintscher dirigierte spürbar als Komponist, als Nachschaffender von Werken, die er gründlich durchdrungen hat: voll und ganz bei Sache, mit vorbehaltlosem Ganzkörpereinsatz, in klaren, suggestiven Bewegungen, als vorausschauender Stratege und wirksamer Koordinator, auch in „San Francisco Polyphony“ (1973-74) von György Ligeti, einem akustischen Wimmelbild aus vielen gleichzeitigen und gleichwichtigen Vorgängen im Wechsel mit gläsernen Klangflächen und glitzerndem Farbenspiel, sowie in Berios 1968 vollendetem Hauptwerk „Sinfonia“ für acht (elektronisch verstärkte) Singstimmen und Orchester.

Sinfonia von Luciano Berio

Die groß angelegte, auf vielen Ebenen durchgestaltete, Musik-, Literatur- und Kulturgeschichte durchmessende Collage birgt Zitate und Stilkopien von Bach bis Boulez und ganz viel Mahler. Texte, die, von den acht Sängerinnen und Sängern der „Synergy Vocals“ souverän überzeugend gesungen, gesprochen, geflüstert und skandiert, mischten sich gleichberechtigt mit den Instrumentalklängen in ein klanglich-perkussives Konglomerat. Mitunter dachte man an Tamestits Worte aus dem Einführungsgespräch: „Man kann mit Musik auch lachen“.

DORIS KÖSTERKE

 

Vgl. auch die Rezension des Konzerts von Antoine Tamestit und Masato Suzuki

Vollautomatisierte Hochgeschwindigkeitspräzision

 

Ensemble Resonanz und Pianist Kit Armstrong in Frankfurt

 

 

Ein intelligentes Programmkonzept prägte das jüngste der Frankfurter Bachkonzerte im Großen Saal der Alten Oper, bestritten vom Hamburger Ensemble Resonanz und dem Pianisten Kit Amstrong. Angel- und Höhepunkt war die Aufführung des 1985-88 geschriebenen Klavierkonzerts von György Ligeti.

Die Brücke von Bach zu Ligeti trägt: Auch Bach war ein experimenteller Komponist, dessen Wagnisse so manchem seiner Zeitgenossen die Fußnägel nach oben rollten. Beide liebten die Polyphonie, in der das Ganze von mehreren eigenständigen, in sich tragfähigen Stimmen gestaltet wird. Und beide rufen mit konstruktivistischen Mitteln enorme emotionale Wirkungen hervor.

In Ligetis Klavierkonzert überlagern sich verschiedene Rhythmen in verschiedenen Geschwindigkeiten. Von Johannes Fischer unbeirrbar klar dirigiert ließ das durchkalkulierte Mit- und Nebeneinander von Klavier und Orchester bisweilen an afrikanische Trommelrhythmen denken, die wie verschieden große Zahnräder ineinandergreifen und sich zu immer wieder neuen Mustern überlagern, von Passagen klar herausgearbeiteter Trennschärfe zu spannungsreichen Mixtur-Klängen. Der zweite Satz bezauberte mit seine Reichtum an pianistischen Farben, die Kit Amstrong trefflich herausgearbeitet hatte, bisweilen im magnetischen pianissimo.

Es war Ligeti, der auf die Studies for Player Piano des amerikanischen Komponisten Conlon Nancarrow aufmerksam wurde. Sie ähneln klangforscherischen Experimenten, die nicht für die Aufführung durch Menschen gedacht sind. Zwei von ihnen erklangen auf einem eigens dafür hergerichteten Bösendorfer-Flügel, darunter die Nr. 8, ein Kanon in variablen Geschwindigkeiten. Einen weiteren Schwerpunkt in diesem überlangen Konzert bildeten Stücke von William Byrd (1543-1623). Für das zarte Viginal geschrieben, von Kit Amstrong auf dem Flügel gespielt, klang „O Mistress Mine“ (MB 83) zwar wunderbar durchsichtig, der Verzierungsreichtum jedoch wie ein zu dick beschmiertes Butterbrot. Als Klammer hatten zwei Werke von Johann Sebastian Bach gedient, zum Einspielen das Fünfte Brandenburgische, in dem Kit Armstrong am Cembalo erleben war, zum Ausklang das  Klavierkonzert d-Moll – BWV 1052, in dem er wieder am Flügel saß. Beide Interpretationen befriedigten alle Ansprüche an rasende Geschwindigkeiten. Aber in ihrer Überraschungsarmut wirkten sie so, als seien sie schon gar zu oft gespielt worden.

Die Zugabe war Kit Amstrongs eigene Übertragung des Choralvorspiels „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ BWV 721. Die unerschrocken über mulmigem Stimmgewusel schwebende Melodie schloss den Bogen zur mehrschichtigen Anlage der vorangegangenen Kompositionen.

DORIS KÖSTERKE

Sol Gabetta und die Bamberger

Ligeti und Martinů

sowie ein langweiliger Schubert

 

Abenteuerfreudig begann das Konzert der Bamberger Symphoniker im Großen Saal der Alten Oper mit »Lontano« von György Ligeti. Die Gänsehaut erzeugende, aus unzähligen Kanons gewebte zwölfminütige Klangfläche ist aus vielen Einspielungen bekannt. Aber diese Aufführung unter der Leitung von Jakub Hrůša, in der man die sich durch das Orchester ziehenden Klangwechsel auch optisch mitverfolgen konnte, war ungleich plastischer: viele kleine Gesetzmäßigkeiten durchdringen einander, finden zu größeren Mustern zusammen, die sich auch wieder auflösen, wie eine vom Wind bewegten Wasserfläche, auf der die Sonne aufgeht.

Sol Gabetta, in der südamerikanische Lebensfreude mit der strengen Erziehung einer russischen Mutter eine künstlerisch äußerst fruchtbare und enorm ausstrahlungsreiche Verbindung eingegangen sind, war Solistin im Ersten Cellokonzert (1955) des erfrischenden Querkopfs Bohuslav Martinů (1890-1959): wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ vom Prager Konservatorium verwiesen ging er seine eigenen Wege über Paris durch die Welt und bildete eigene Überzeugungen heraus: Die „Geometrie“ strenger Formen wollte er durch die „Phantasie“ überwinden, die in jedem Werk wieder eigene Gesetze schafft. Eine Konstante in seinem Schaffen ist die Inspiration durch die Volksmusik seiner Heimat – und dass es immer anders weitergeht, als man denkt, in jähen Brüchen, Verkürzungen, Schwenks in andere Klang- und Gefühlswelten. Das erfordert so hellwache Interpreten wie Sol Gabetta, die ihren Part mit dem Einsatz ihres gesamten durchtrainierten Körpers und ihrer menschenfreundlichen Seele erfüllte, mal kraftvoll, mal aufrichtig bekümmert, während das Orchester in unsicheren Einsätzen vermuten ließ, dass es auf dieses Werk schlecht vorbereitet war.

Schuberts „Große“ C-Dur-Symphonie folgte mit allen Wiederholungen. Ein durchgreifender Gestaltungswille offenbarte sich dabei weder im ersten noch im zweiten Durchgang, dem, im Da-Capo des Scherzos, auch noch ein dritter folgte: statt eines tragfähigen Spannungsbogens zeigte diese Aufführung, dass auch die Repertoirewerke bildungsbürgerlicher Ressentiment-Musik sich nicht von selbst spielen.

Zwischen den auffallend jungen „Wann-Ist-Endlich-Feierabend“-Gesichtern des Orchesters fanden sich jedoch auch einzelne engagierte, besonders unter den Bläsern, und da wiederum ganz besonders der Erste Oboist und die präsente Flötistin.

DORIS KÖSTERKE