Rolf Riehm bei Happy New Ears

Als Obdachloser, „von wenigen vermisst und von keinem betrauert“, starb Goethes dichterischer Jugendfreund Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 bis 1792) in Moskau. In „Lenz in Moskau – Ein Melodram in fünf Schüben“ (2010), das zu Beginn des jüngsten Werkstattkonzerts „Happy New Ears“ des Ensemble Modern in der Oper zu erleben war, spürte Komponist Rolf Riehm dem Schicksal des Dichters auf musikalischer und sprachlicher Ebene nach. Musikalisch spürte man einen Menschen, der, buchstäblich „zur Schnecke gemacht“, seinen Kern verloren hat. Dazu sprachen Eva Böcker und Ueli Wiget Texte, die zumeist einem Interview mit Frank Castorf in der taz (24. 2. 2010) entnommen schienen. Der Berliner Volksbühnen-Regisseur sah den Ausbruch der Schizophrenie-Erkrankung des Dichters im engen Zusammenhang mit einem Wiedersehen der Jugendfreunde, in dem der karrierebeflissene Dichterfürst den genialisch-infantilen Lenz (wie auch andere seiner Weggenossen aus dem Sturm und Drang) offenbar gründlich gebrochen hat. Lenz beschrieb sich danach als „ausgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer“.

Riehm, 1937 geboren und seit seiner Studienzeit dieser Stadt vielfältig verbunden, betonte in diesem Zusammenhang, wie wichtig für sein eigenes künstlerisches Aufkeimen vor allem zwei Menschen waren: Bernd Loebe und Klaus Zehelein. Letzterer saß im Gesprächsteil dieses Abends mit ihm auf der Bühne. Als für ihn bedeutsames Moment hob Zehelein heraus, dass Riehms Musik das, worum es im jeweiligen Stück ging, von innen heraus mitempfinden ließ.

Tatsächlich hatte man sich im Lenz-Melodram selbst wie der zu Unrecht Verkannte gefühlt. Das zweite, „Adieu, sirènes“, machte zur Augenzeugin der Vorgänge im südöstlichen Mittelmeer. Wie schon im Melodram erinnerte der Text auch in dieser szenischen Komposition für Mezzosopran, 2 Violoncelli und 2 Trompeten (2015) an die Art, wie Riehm selbst spricht: frei assoziativ, ohne roten Faden als Seilsicherung auf dem Klettersteig des Verstehens, Fragen bestehen lassend, ohne Antworten anzubieten, Bedenkenswertes aufzeigend. „Mein eigener Hermeneutiker bin ich nicht“, schmunzelte er.

Als Moderator des Gesprächs gelang dem Dirigenten des Abends, Christian Hommel, ein erfrischender Seitenhieb auf sprachliche Konventionen, als er von „Cellistinnen“ sprach, die die Sängerin wie verlängerte Arme umgeben und dabei neben Eva Böcker auch Michael M. Kasper meinte.

Zentraldarstellerin war Sopranistin Sarah Maria Sun. Magnetisch spann sie stimmliche Seidenfäden durch den Raum, ein Singen mit Übergängen zum Schreien, Würgen, Rülpsen, Kreischen und Gurgeln, mal die Arme ausbreitend, mal die Fäuste vor den Augen ballend oder ein (letztes?) Lebewohl winkend. Der reiche Beifall zeigte, dass viele sich einen Reim darauf machen konnten.

DORIS KÖSTERKE

27.11.18

Rebecca Saunders

„Alles, nur nicht das!”, habe er beim ersten Blick in die Noten von Rebecca Saunders‘ ›Fury II‹ gedacht: „So viel Vor-Information zu jedem einzelnen Klang!“. Im Werkstattkonzert ›Happy New Ears‹ des Ensemble Modern im Holzfoyer der Oper Frankfurt spielte Kontrabassist Paul Cannon seinen Part dann so natürlich, als hätte er ihn selbst improvisiert. Eine Riesenleistung des Interpreten, der wiederum die Komponistin lobte: sie kenne sich mit den einzelnen Instrumenten und ihren erweiterten Klang- und Spielmöglichkeiten aus, wie kein anderer.

Genau darauf wollte Enno Poppe hinaus, der als Moderator mit brillantem Einfühlungsvermögen in die Gedankengänge seiner Komponistenkollegin und als enorm präziser, exzellent vorbereiteter Dirigent zum überragenden Erfolg des Abend beitrug: Rebecca Saunders gehört zu den gefragtesten und faszinierendsten ihrer Zunft, weil sie ihr Handwerk versteht. Und (im Gegensatz zu Handwerkern, die den Alltag zur Hölle machen können) minutiös genau wahrnimmt und entsprechend genau plant. Der überwältigende Klangreiz ihrer Musik, die soghafte Intensität, die faszinierenden Binnenstrukturen, etwa im an diesem Abend erklungenen ›dichroic seventeen‹ (1998), sind nicht zuletzt die Früchte überragenden Könnens, das Rebecca Saunders, die im Dezember dieses Jahres fünfzig wird, unter anderem bei Wolfgang Rihm erworben hat.

Hinzu kommen ein vielleicht typisch englischer Mut, die eigene Individualität zu kultivieren, sowie eine große Portion visionärer Intuition. Und Allgemeinbildung. Und natürlich Interpreten wie die des Ensemble Modern, die sich diese sehr spezielle Sprache aufs Sensibelste zu eigen machen. Im von Samuel Beckett inspirierten Stirrings Still I (2006) müssen Altflöte (Dietmar Wiesner), Oboe (Christian Hommel), und Klarinette (Jean Bossier) in sich jeweils zweistimmig spielen. Das geht. Aber nur sehr leise und mit äußerster Konzentration. Und schafft eine entsprechende Atmosphäre bei den Zuhörenden. Im abschließenden ›Fury II‹ wollte Saunders, wie sie es im Gespräch mit Enno Poppe nannte, einem kontrabassistischen Energieausbruch Resonanz in anderen Instrumenten verschaffen. Man staunte über die Genauigkeit, mit der sie die geräuschhaften Begleiterscheinungen der mächtigen körperlichen Präsenz des Kontrabasses (mit noch weiter heruntergestimmter fünfter Saite!) analysiert, für Bassklarinette, Cello, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug imitierbar aufbereitet und damit noch komponiert hatte.

Danke für diesen wertvollen Abend!

DORIS KÖSTERKE
1.3.2017