Ferneyhough-Uraufführung nach 53 Jahren

Eine Uraufführung nach 53 Jahren? Sind die„Gerhard Variations“ von Brian Ferneyhough dermaßen schwer, dass erst das Ensemble Modern sie wuppen konnte? Das hätte ins Bild gepasst. Aber was passt schon ins Bild?

Tag der Epilepsie in Bad Homburg

Dass eine hoffnungsvolle Medizinstudentin durch einen Unfall an Epilepsie erkrankt? Dass Epilepsie zu den häufigsten chronischen Erkrankungen gehört? Dass Medikamente gegen sie aggressiv machen können? Das Benefiz-Konzert am Tag der Epilepsie in der Englischen Kirche in Bad Homburg galt den Mitarbeitern der „EpilepSIE-Stiftung“, die Betroffenen zur Seite stehen. In einem Science-Slam samt launigem Rollenspiel machte Wiebke Schick anschaulich, wie Neuronen in einem Zustand der Überforderung nicht mehr konstruktiv zusammenarbeiten können: so erleidet etwa jeder achte Mensch in seinem Leben mindestens einen epileptischen Anfall.

Bläserquintett des Ensemble Modern

Das Bläserquintett des Ensemble Modern, bestehend aus dem Gründungsmitglied Dietmar Wiesner (Flöte), dem Oboisten Christian Hommel, dem Hornisten Saar Berger und zwei frischen Absolventen der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA), der Fagottistin Peng-Hui Wang und Moritz Schneidewendt (Klarinette), hatte ein packendes Programm aus Werken noch lebender Komponisten und der so genannten „klassischen Moderne“ zusammengestellt, darunter das Bläser-Quintett (1929) des 1944 in Auschwitz ermordeten Pavel Haas und die Kleine Kammermusik für fünf Bläser (1922) von Paul Hindemith. In beiden Aufführungen gefielen die musikantischen Hüllkurven, die das Fließen, Stauen und Entladen musikalischer Energien überformten. Jubelnden Beifall ernteten die lautmalerischen Spieltechniken in „Il silenzio degli oracoli (1989)“ von Salvatore Sciarrino.

Komponist Roberto Gerhard …

Christian Hommel erzählte, wie Brian Ferneyhough sie um ihre Meinung zu einem bis dahin unveröffentlichten Stück gebeten hatte. Er hatte es im Alter von 22 Jahren, noch als Student in Cambridge geschrieben, beeindruckt von dem katalanischen Komponisten Roberto Gerhard (1896-1970): in Spanien hatte dieser mit Künstlern wie Miró und Massine zusammengearbeitet; als Exilant in England blieb ihm die Anerkennung versagt. Die Musiker übten die Hommage aus handgeschriebenen Noten und waren von der hohen Qualität begeistert. „Seitdem tingeln wir mit dem Stück durch die Lande“, erzählte Hommel über Ferneyhoughs „Gerhard Variations“, die hier in Bad Homburg ihre Deutsche Erstaufführung erlebten.

… in der Tonsprache von Brian Ferneyhough

Von schrillen Klangraketen umgebene Horn-Idylle – der von katalonischer Volksmusik geprägte Komponist auf der Flucht vor dem Spanischem Bürgerkrieg? Zwölfton-Idiome – Spiegel seiner fünf Lehrjahre bei Arnold Schönberg? Sprachähnliche Wendungen und gekonnte Mischungen der Klangfarben erinnerten an basisdemokratische Diskussionen samt Bildung von Fraktionen – ein beeindruckendes Frühwerk des Komponisten, der erst später für sein Austesten von Grenzen der Spielbarkeit bekannt wurde.

DORIS KÖSTERKE
5.10.18

N.B.: Im Werkstattkonzert „Happy New Ears“ am 18.11.2019 erzählte Brian Ferneyhough, die Uraufführung habe bereits 1966 stattgefunden. Danach sei das Stück bei ihm in der Schublade verschwunden.