„Entartete Musik“ im Museum Judengasse

Kunst sei immer „entartet“, befand Hans Werner Henze: Wahre Kunst schlage aus der Art, indem sie (fragwürdige) Normen überwindet. In diesem, von Thomas Rietschel in seinem erfrischend informellen Vortrag angesprochenen Sinne war das Konzert der Ensemble-Modern-Bläser im Museum Judengasse ein Gesamtkunstwerk:

Die Zuhörer saßen rund um die Musiker verstreut zwischen den halbhohen Resten von Säulen und Mauern, empfanden die Enge, in die man Frankfurts Juden vom 15. bis zum 19. Jahrhundert genötigt hatte, aber auch, wie räumliche Enge nach anderen Weiten strebt.

„Entartete Musik“ als gesunde Reaktion

Mit Blickkontakt zueinander schmunzelte man gemeinsam, wie die Kleine Kammermusik für fünf Bläser (1922) von Hindemith und das Divertissement (1927) von Erwin Schulhoff humorvoll schräg auf Bekanntes und Vertrautes anspielten. Was die Nazis als „jüdische Frechheit“ empfanden (Hindemith sahen sie mit einer Jüdin verheiratet), wirkte aus dem Abstand von fast hundert Jahren betrachtet wie eine gesunde Reaktion auf bürgerliche Über-Anpassung. Gut aufeinander abgestimmte Agogik und Dynamik wiesen darauf hin, dass die Bläser des Ensemble Modern (Dietmar Wiesner, Flöte und Piccolo – Christian Hommel, Oboe – Jaan Bossier, Klarinette – Hugo Queirós, Klarinette und Bassklarinette – Johannes Schwarz, Fagott – Saar Berger, Horn) bestmöglich vorbereitet waren.

Ihrer Zeit voraus

Die Konzertreihe stellt Komponisten in den Vordergrund, denen aus politischen Gründen das Leben schwer gemacht wurde. Hindemith konnte emigrieren, als das politische Klima in Deutschland keine Kunst mehr vertrug. Schulhoff starb, auf der Festung Wülzburg interniert, 1942 an Tuberkulose. Pavel Haas wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Sein 1929 geschriebenes Bläserquintett op. 10 wirkte wie eine Verkörperung von Vorahnungen, gefasst in eine Musiksprache, die, etwa in der polyrhythmischen Überlagerung verschiedener Melodien, ihrer Zeit weit voraus war. In den Klezmer-Anklängen im dritten Satz zeigte Klarinettist Jaan Bossier, dass ihm dieses Idiom weit über das im Notentext Fixierbare hinaus vertraut ist.

„Entartete Musik“ als Folge von politischem Bewusstsein

Den Abschluss des Konzerts bildete die vornehmlich heitere Suite Mládí (Jugend) von Leos Janácek. Der rund ein halbes Jahrhundert früher Geborene fand Eingang ins Programm, weil mit seinem Bewusstsein für die politischen und sozialen Ungerechtigkeiten seiner Zeit auch seine Musiksprache weit über ihre Normen hinausgriff.

DORIS KÖSTERKE
20.5.2019

 

N.B.: Hans Werner Henze schrieb Besagtes am 7.12.1987 in Zürich als Stellungnahme zur 1988 rekonstruierten Ausstellung „Entartete Musik“ in Düsseldorf von 1938. Vgl. den Katalog zu Wanderausstellung „Entartete Musik. Eine kommentierte Rekonstruktion“. Herausgegeben von Albrecht Dümling und Peter Girth, o. O., o. J., S. 197.