Matthew Herbert „in black and white“ (UA)

Gemächlich bedruckt ein Laserdrucker ein Stück Papier. Der Dirigent sieht es an, scheint ratlos. Zeigt es dem Konzertmeister. Der winkt einen Schlagzeuger herbei. Der schaut drauf, nickt, stellt sich mit Woodblocks aufs Dirigentenpult und gibt Metronom-ähnlich einen Puls vor. Bei der Uraufführung von „in black and white“ für Orchester, Drucker und Schredder von Matthew Herbert im Abschlusskonzert des cresc…-Festivals im hr-Sendesaal stand der Drucker im Zentrum des Orchesters, aus Sicht des Publikums noch vor dem Dirigentenpult. Und würgte ein Blatt nach dem anderen aus. Orchestermitglieder drängelten sich um ihn, holten Blätter ab, setzten die Vorgaben um, die darauf standen. Bald entstand ein orchestraler Groove. Und erinnert an Tanzende, die ihrer Ratlosigkeit, wie ein unerquickliches Dasein zu ändern sei, für einige Stunden in einen Club entflohen sind.

Eine Autorität, die merkwürdigerweise akzeptiert wird

„Was ist die Funktion des Druckers?“ fragte  im Einführungsgespräch vor dem Konzert die (im Programmheft leider nicht genannte) Moderatorin den Komponisten. Er sei eine Autorität, die merkwürdigerweise akzeptiert wird. Obwohl man nicht wisse, wer dahinter steht, war die Antwort des Komponisten.

Integratives Festival

Man konnte das Ganze auch als vom hr Sinfonieorchester sehr gut gemachtes Spielchen konsumieren, in dem Musiker, von ihren hochqualifizierten Ohren geleitet, Papier zerreißen und zerknüllen und sich mit Papierbällchen bewerfen. Darüber durfte man lachen, wie (andere) vor fünfzig Jahren.
In dieser Offenheit, in diesem Vexieren zwischen „Ernst“ und „August“, getragen von süffigen Rhythmen, lag das Integrative des biennalen Festivals: Es schloss auch jene nicht aus, die leicht mit ihrem Tiefgang auf Grund laufen.

Schönbergs Harmonielehre

Das Motto, HUMAN_MACHINE, ließ nicht zuletzt an Menschen denken, die wie Maschinen funktionieren. Die ihre Fähigkeit, etwas zu erkennen und entsprechend zu handeln, nicht nutzen. Auf diese Fähigkeit (im Kontrast zum „Komfort als Weltanschauung“) hebt Arnold Schönberg zu Beginn seiner „Harmonielehre“ ab. Diese wiederum war Pate der gleichnamigen, vierzig Minuten füllende Komposition von John Adams, die mit ihrer symphonischen Sauce über minimalistischer Substanz viel Beifall fand. Ebenso wie Adams‘ „Short Ride in a Fast Machine”, dem Eingangswerk des Abends: darin ließen unerwartete Passagen in der „automatischen“ Entwicklung den Adrenalinspiegel stärker hochschnellen als die Vorstellung, überholte Familienkutschen durch Fahrtwind ins Wanken zu bringen.

Gavin Bryars‘ Untergang der Titanic

Emotionaler Höhepunkt war Gavin Bryars‘ „The Sinking of the Titanic“. Nach der Information, dass die Bordkapelle noch bis zum endgültigen Versinken des Luxusdampfers weiterspielte fragte sich Bryars, wie sich die Musik wohl von unter dem Wasser anhören musste. Unter nervtötenden Wiederholungen des ewiggleichen Themas bewunderte man die Musiker, die, lose koordiniert vom Dirigenten Baldur Brönnimann, in kammermusikalischen Verbänden perfekt zusammenwirkten und die Spannung hielten. Die zugespielten Augenzeugenberichte waren kaum zu verstehen. Umso mehr konnte man sich der grenzüberschreitenden Frage stellen: Wie werden deine eigenen letzten zwanzig Minuten aussehen?

Grenzüberschreitungen sind nicht immer unproblematisch. Um der eines Corona-Virus‘ in Nähe der hr Bigband vorzubeugen, hatte der Klangkörper seinen Auftritt und die vorgesehene Uraufführung des Auftragswerks »Contre-Jour« für Bigband von Eve Risser kurzfristig abgesagt.

DORIS KÖSTERKE
7.3.20

Mitschnitte der Kompositionen von John Adams werden am 26.03., die der beiden Briten Herbert und Bryars 2020 am 09.04.20202 jeweils ab 20:04 im „Konzertsaal“ gesendet.

UA Bára Gísladóttir, Sarah Nemtsov

Uraufführungen zur Eröffnung der Darmstädter Ferienkurse 2018

 

 

Eine Atmosphäre fröhlicher Offenheit rahmte das Eröffnungskonzert der Darmstädter Ferienkurse in der Großen Sporthalle der Lichtenbergschule. Das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Baldur Brönnimann hatte noch bis kurz vor dem Einlass der Zuhörer geprobt. Die Stücke seien heikel, aber gut, hieß es aus Reihen der Orchestermusiker.

Bára Gísladóttir: VAPE

Die 1989 in Island geborene Bára Gísladóttir hat sich zu ihrem 2016/17 entstandenen Orchesterstück VAPE durch den Sarin-Angriff in der U-Bahn von Tokio am 20. März 1995 anregen lassen: den fünf Mitgliedern, die das in Kunststoffbeuteln verpackte Nervengift in fünf Pendlerzügen einbrachten, sollten fünf Gruppen von Instrumenten entsprechen. Im kaum hörbaren, geräuschnahen und konspirativ beklemmenden Eingangsklangnebel meinte man zumindest Flöte und Kontrabass als Attentäter identifizieren zu können. Als die Schlagzeuger sich an großen Plastikpaketen zu schaffen machten kombinierte man: jetzt sind die Attentäter kurz vorm Austeigen und bearbeiten die Pakete mit ihren Regenschirmspitzen, damit das bis dahin flüssige Sarin verdampfen und sich in Zügen wie U-Bahn-Stationen verteilen kann. Als Hörer im klanglich Nebulösen tappend dachte man, dass bei höherer Qualität des Sarins und einer professionelleren Methode der Verbreitung weit mehr als „nur“ 13 Menschen sterben und über sechstausend würden verletzt werden könnten.

Sarah Nemtsov: dropped.drowned

Dass viel Können dazugehört, um solche Klänge herzustellen, dachte man auch in „dropped.drowned“ (2017) der 1980 in Oldenburg geborenen Sarah Nemtsov: Im Vergleich zur zuvor erzählten Geschichte wirkte dies eher wie ein abstrakter Malvorgang mit dicken und dünnen, energischen und zarten Strichen im Fluss eines Schaffensvorgangs, der manchmal fließt, sich manchmal überschlägt und manchmal stockt, wobei man an das Zitat der neuseeländischen Schriftstellerin Janet Frame im Einführungstext der Komponistin dachte, dass Menschen die Stille fürchten, weil darin, wie im klaren Wasser, alles sichtbar wird: weggeworfene Gedanken etwa, vergrößerte Schatten seiner selbst. In der Musik schienen es Rufe aus einer anderen Welt, deklamiert wie in Dringlichkeit, aber nicht zu dechiffrieren. Als flirrende Geigenklänge das Gefühl gaben, es könnte Schluss sein, dachte man an den ebenfalls im Programmtext geschriebenen Satz: „Das Loslassen ist eine der schwierigsten Übungen, nicht nur in der Kunst“. Der tatsächliche Schluss dieses Stückes war denn auch ein Unüblicher. Etwas fiel, dann noch etwas. Und das Stück hörte auf, als müsse man sich jetzt um etwas anders kümmern.

Simon Steen-Andersen: Piano Concerto

Das Piano Concerto von Simon Steen-Andersen wurde bei den Donaueschinger Musiktagen 2014 uraufgeführt und vielfach preisgekrönt. Wer das Stück zum zweiten Mal sah, dem schien es auch in dieser Aufführung an seiner Entwicklung gemessen zu lang. Kleinere Dosen Klamauk hätten genügt.

Es kombiniert die Live-Aufführung mit einem Video, das, mit Methoden wie Wiederholung, Motiv-Abspaltung, zeitlicher Dehnung und Raffung oder „Krebsgang“ wie Musik komponiert ist. Das Grundmaterial ist die Zeitlupen-Aufnahme eines aus einiger Höhe fallenden Flügels, der beim Aufprall auf den Boden zwar in Teilen zerschellt, dank seiner drei Beine als Knautschzone jedoch so erstaunlich stabil bleibt, dass der Pianist ihm noch vergleichsweise vertraute Klänge entlocken kann. Nicolas Hodges zeigte sich hier in seiner Doppelbegabung als Pianist und Komiker, der etwa seinem Double auf der Leinwand zunickt, es solle nun fein nachspielen, was er vorspiele. Aber das Double schaut ausdruckslos ins Publikum, während das Orchester seinen Part übernimmt.

Natürlich ist es gekonnt, wenn ein Orchester tatsächlich klingt wie ein verstimmtes Bar-Piano. Und natürlich ist es witzig, wenn dazu der Flügel im vor- und zurücklaufenden Video ein Tänzchen hopst, bei dem die Splitter beim Aufprall auseinanderstieben und beim Hochfedern wieder zum Ganzen finden. Aber wo liegt der kulturelle Nährwert?

DORIS KÖSTERKE
14.07.2018