Auf der Suche nach Schönheit: Alfred Stenger

Wenn man in Gegenwart von Alfred Stenger ein beliebiges Musikstück erwähnt, singt er spontan daraus vor: etwa das Hautthema oder einen besonders schönen Nebengedan­ken. Oder eine musikalische Schlüsselstel­le, die der Komponist besonders geschickt eingefädelt hat.

Empathischer Philanthrop

Sein Blick ist zugleich der des Dirigen­ten, des Pianisten, des Musikwissenschaft­lers, des Komponisten, des Hochschulleh­rers, des Musikästhetikers, des Musikschriftstellers, um nur ein paar gängige Kategorien zu nennen. Bei allem ist er ein empathischer Philanthrop. Er begegnet seinem Gegenüber stets überaus freundlich und zeigt ein echtes Interesse an ihm. Mitunter spürt das Gegenüber, dass Alfred Stenger anderer Meinung ist. Aber das würde er seinem Gegenüber niemals zeigen. Aufmerksam fragt er immer weiter nach, bis er einen Anknüpfungspunkt findet, um das Gespräch wieder in für beide Seiten konstruktive Bahnen zu lenken.

„Sibelius-Wet­ter“

Alfred Stenger ist ein lebendes Kompendium der Musik. Lebend auch im sehr umfassenden Sinne: So gibt es für ihn kein „schlechtes Wetter“, sondern allenfalls „Sibelius-Wet­ter“: eine dunkel-trübe Witterung, die für die melancholische Schönheit im Werk des finnischen Komponisten besonders empfänglich macht.

Korrepetitor

Seine Karriere war alles andere als steil. Lange Jahre arbeitete er als Opern- und Ballett-Korrepetitor. Das wird oft als musikalische Fronarbeit angesehen. Aber Alfred Stenger hat dies nie so empfunden: „So habe ich doch alle Stücke von der Pike auf erarbeitet und ein tiefes Verständnis entwickelt“, erzählt er. „Nicht zuletzt habe in diesen Jahren auch viel Dirigier-Erfahrung sammeln können. Meine Liebe zum Ballett hat sich dabei immer erhalten. Und für die Sänger war ich ein Verbündeter, einer, der sie aufbaut. In dieser Rolle habe ich mich sehr wohl gefühlt“. Später kamen pädagogische Aufgaben hinzu. Unter anderem unterrichtete er Partiturspiel und Korrepetition in Karlsruhe und Frankfurt.

Für Nicht-Musiker: Partiturspiel ist, wenn man aus einer eng mit gleichzeitig zu spielenden Noten bedruckten Seite die wichtigsten auf den ersten Blick erkennen und mit zehn Fingern auf 88 Tasten umsetzen kann, immer im Bewusstsein, dass manche Instrumente in einer anderen Tonart notiert sind, als sie klingen, wie „Klari­nette in Es“, „Trompete in B“ oder „Horn in F“. Korrepetition geht noch einen Schritt weiter: „da singen wir auch dazu und versuchen in erster Linie, die Atmosphäre etwa eines Chorstücks mit Orchester zu erfassen und zu vermitteln“, erzählt Stenger.

Musikvermittler

Bei alledem hat Stenger komponiert, Radiosendungen gemacht, Vorträge gehalten, Aufsätze, Bücher und Lehrwerke geschrieben. Seine dreibändige Partiturspiel-Schule, vermutet er, war ein Grund, warum er 2009 nach Weimar berufen wurde.

Sein Hauptwerk ist die Ästhetik der Ton­arten (2006). Darin trägt er für jede Tonart eine Fülle von Beispielen aus der Opern- und Konzertliteratur zusammen und wagt eine Charakterisierung, spricht etwa von der „Balladentonart“ g-Moll, von a-Moll als dem „Ausdruck einer Fremdheit“ oder weist auf die klanglichen Schwebungen im nur scheinbar so unkomplizierten C-Dur hin. Eine CD mit den entsprechenden Klang­beispielen hängt dem Buch an.

Sein jüngstes Werk heißt Gedanken zu Ravel. Darin beleuchtet er neben dem populären Bolero auch Werke wie Introduction et Allegro, Valses nobles et sentimentales, Le Jardin féerique aus Ma Mère L’Oye oder das Concerto pour la main gauche. Einen wichtigen Schlüssel zur Pavane pour une infante défunte liefert er etwa über einen Selbstversuch: Man spreche den Titel dreimal laut hintereinander und schmunzele über den musikalischen Eigenwert des Titels für das auch thema­tisch spürbar von Erik Satie inspirierte Werk, das nicht unbedingt mit einer Kinderleiche zu tun hat.

„Von deinen Worten her schreibst du durchaus verständlich“, meint ein Leser. „Aber du scheinst vorauszusetzen, dass auch alle deine Leser die vielen Partituren auswendig können, auf die du dich über die Notenbeispiele hinaus beziehst. Jemand, der das alles erst nachschlagen muss, kann dir geistig kaum folgen“. – „Ich sehe meine Bücher nur als Angebot an den Leser, nicht als Aufgabe, alles nachzuvollziehen!“, betont Stenger.

„Also, in deiner Ästhetik der Tonarten schlage ich nach, wenn ich nach einem Verständnisschlüssel für ein Stück in Des-Dur suche („Musik als Illusion“)? Oder wissen will, mit welchen Vorverständnissen ich rechnen sollte, wollte ich ein Stück in fis-Moll („Expressionen seelischer Schauer und Abgründe“) schreiben?“ – „Ja!“ –„Und wenn ich gerade Ravels Concerto en Sol, seine Trois Chansons oder sein La Valse höre, willst du mir für deren musae mixtatiae, für ihr Changieren zwischen Eros und Thanatos, Walzerseligkeit und Grimasse die Ohren öffnen?“ – „Ja, genau! Eigentlich habe ich das ungebrochen Schöne in Ravels Musik gesucht, aber nicht gefunden“.

„Braucht das Schöne nicht grundsätzlich die Begleitung des Grausamen, um überhaupt wahrgenommen zu werden?“ – „Ich wünschte, dem wäre nicht so. Eins meiner liebsten Gegenbeispiele, wo das Grausame zumindest nicht mit in der Musik selbst liegt, sind Bachs Goldberg-Variationen. Gerade habe ich für meine Aufnahme ein Label gefunden: organo phon. Richard Berg will sie demnächst herausbringen“, freut sich Stenger. „Aber ich suche weiter nach ungebrochener Schönheit“. Vielleicht ist es dieses Suchen, durch das sich Stenger seine Offenheit bewahrt hat?

DORIS KÖSTERKE

8.3.2021

 

Alfred Stenger, Ästhetik der Tonarten. Charakterisierungen musikalischer Landschaften. Wilhelmshaven 2006.

 

Alfred Stenger, Gedanken zu Ravel. Zwölf Hinführungen zu seiner Musik. Wilhelmshaven 2021.