Kunst jenseits von Kommerz

Buchstäblich tiefer gehen: unter der in Sandstein gemeißelten Jahreszahl „1591“ hindurch in das erste Tonnengewölbe und über eine weitere Treppe in das darunterliegende zweite im ehemaligen Zollhaus „Höchster Schlossplatz 1“. Seit nunmehr dreißig Jahren treten in der einzigartigen Akustik in diesem von einem Freundeskreis getragenen Gesamtkunstwerk des Foto-Künstlers Jürgen Wiesner namhafte Musiker aus aller Welt auf, die, wie der Hausherr, jenseits kommerzieller Rahmenbedingungen ihren ganz eigenen Weg gehen. An diesem Abend waren dies Jazzsänger Michael Schiefel, Cathy Milliken (Oboe) und Dietmar Wiesner (Flöte) in zwei Kompositionen von Michael Schiefel, „If China“ nach einem Gedicht von Stanislaw Baranczak über das Sich-Einrichten ohne Zuhause und das ausgedehnte Trio „42“.

Versuche, dessen Beginn stilistisch einzuordnen führten zunächst ins sakrale Mittelalter, zu ruhigen, über alles Emotionale erhabenen, terzlosen Zusammenklängen. Im Mittelalter waren dies Quinten und Oktaven. Aber in diesem Stück geht es Schiefel um „vier“-zig. Deshalb schichtet er Quarten.

Wie über Weltliches erhaben auch der Klang seiner Stimme: ein Männer-Timbre schimmert nur selten durch die Falsettlage, in der er sich im gleichen Tonraum bewegt, wie Oboe und Flöte. Ganz flüchtig mischen sich experimentelle Stimmtechniken oder spezifisch Jazziges in seine meist glatte Stimmgebung – dabei vage an Jan Garbareks rare, dann aber umwerfende Ausbrüche aus vorherrschender Unterkühlung erinnernd.

Schiefel behandelt seine Stimme wie ein Instrument. In „42“ windet er die drei gleichberechtigten Stimmen umeinander wie die Stränge eines geflochtenen Zopfes, Note gegen Note, wie in der klassischen Vokalpolyphonie der Renaissance-Zeit. Wie dort, wird auch hier die Textur zunehmend bewegter. In zunehmend chromatischen, auch jazzig rhythmisierten Läufen über Spannungsharmonien, in denen der Klang sich auffächert, als spielten nicht drei, sondern dreißig.

Wertschätzung gegenüber den auftretenden Künstlern heißt das Gebot des Hauses, gewachsen aus Erzählungen von ausübenden Musikern, die in einem Konzert „alles“ gegeben hatten, um sich beim Nach-Hause-Radeln zu fragen: Für wen habe ich eigentlich gespielt? Daher gehört das zwanglose gesellige Zusammensein im „Höchster Schlossplatz 1“ zum Konzept. Dabei erzählte Cathy Milliken vom Entstehen ihrer Dreier-Freundschaft beim Festival in Schwaz und wie sie an Schiefels 42. Geburtstag sein Lebensgefühl reflektierend miteinander improvisiert hätten. Fasziniert von der Klangkombination schrieb Schiefel sein „42“ und widmete es den beiden Gründungsmitgliedern des Ensemble Modern.

Erst im dritten Teil der Komposition, nach Episoden in „offenen“ Quarten, „Trauerwalzen“ und einem chromatischen Tanz kommt Text ins Spiel, ein eigenes Gedicht mit Scat-Wortspielen wie „for ty se ven ty eight, thir ty nine ty“. Gegen Ende lösen sich alle Dissonanzen in pastellfarbenem Schönklang und das Stück schließt mit einer humoristischen Geste.

DORIS KÖSTERKE