„ewig und mild“ von Gerhard Müller-Hornbach

Uraufführung zur Eröffnung

der 42. Fränkischen Musiktage in Alzenau

Feine Streicherklangfäden führen einzelne Töne aus einem Harfen-Akkord fort, als wollten sie wenigstens einzelnen Aspekten des vergänglichen Klangs eine Brücke in Richtung Ewigkeit bauen. Im Eröffnungskonzert der 42. Fränkischen Musiktage im Rittersaal der Burg Alzenau wurde „ewig und mild“ von Gerhard Müller-Hornbach uraufgeführt, „Reflexionen für Tenor, Harfe und Streichsextett“ über das Neunte aus dem Ersten Teil von Rilkes Sonetten an Orpheus: „Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten, darf das unendliche Lob ahnend erstatten. – Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren. – Mag auch die Spieglung im Teich oft uns verschwimmen: Wisse das Bild. Erst in dem Doppelbereich werden die Stimmen ewig und mild.“ Müller-Hornbach übersetzte die „Schatten“ in huschende Klangschatten; der „Ton“ war ein auffälliger hoher, „verlieren“ ein Glissando, dem eine zweite Stimme rasch zu folgen scheint, wie jemand, der etwa ruft: „warte – dein Schlüssel!“. So betrieb Müller-Hornbach eine Textausdeutung, die den Text noch rätselhafter machte und seine Poesie noch steigerte, zumal in der sehr konzentrierten und intensiven Interpretation durch den angenehm weich timbrierten Tenor Ralf Emge und die jungen Streicher des Ensembles Music Campus RheinMain 2017, die Kaamel Salah-Eldin sehr dezent vom ersten Cellopult aus leitete.

Der überaus herzliche Beifall kam auch von bekennenden Neue-Musik-Skeptikern. Dennoch war es eine gute programmatische Idee, die Uraufführung mit Kulinarischem von Schubert (Nachthymne D687, „Lied des Orpheus als er in die Hölle ging“ D474) und Monteverdi („Possente spirto“ aus „L’Orfeo“, mit reichen Improvisationen von Ralf Emge) zu verbinden. Aparter Weise wurde die Rolle von Klavier, Cembalo oder Theorbe von Enea Cavallo mit der Harfe übernommen. In ihrem eingeschobenen Vortrag über „Die Bedeutung von Orpheus für die Musikgeschichte“ beleuchtete Melanie Wald-Fuhrmann die zentrale Figur dieses Abends, die sich im Mythos mit der Leier ein Transit durch die Unterwelt erwirkte: In zahllosen Adaptionen dieses Stoffes reflektiert die Musik ihre Aufgabe für die Welt.

Den langen Abend schloss Schuberts selten aufgeführte Goethe-Vertonung „Gesang der Geister über den Wassern“: Mit acht solistisch besetzten Männerstimmen (Vocalsolisten Frankfurt), zwei Bratschen (Karolina Errera, Anuschka Pedano), zwei Celli (Kaamel Salah-Eldin, Clara Pouvreau) und Kontrabass (Nicola Vock) ein geradezu magisches Erlebnis.

DORIS KÖSTERKE

 

Als “Festival der Jungen” stellen die Fränkischen Musiktage noch bis zum 26.11.2017 an verschiedenen atmosphärischen Spielstätten und in vielversprechend-ungewöhnlichen Programmen hochrangige Interpreten vor, darunter viele junge Gewinner internationaler Musik-Wettbewerbe. Infos unter https://www.fraenkische-musiktage.de/.

Das Tollste an Felix Koch

Felix Koch und sein Neumeyer Consort

Das Tollste an Felix Koch sind seine Phrasierungen: Wenn Musiker ihre Hände einfach laufen lassen, um den Notentext best- und schnellstmöglich zu reproduzieren, dient das bestenfalls einer angenehmen Berieselung der Zuhörer. Aber Felix Koch „singt“ die Noten auf seinem Cello, mit dem Bogen „atmend“, wie einer, der etwas Spannendes erzählt. Mit diesem kleingliedrigen Atemrhythmus übernimmt man als Zuhörer unwillkürlich die innere Erregung des Erzählenden. Man denkt mit, entwickelt Erwartungshaltungen, die erfüllt, getäuscht oder übertroffen werden. Im jüngsten Konzert im Holzhausenschlösschen mit kammermusikalischen Sinfonien und Kantaten von Georg Philipp Telemann, das die Veranstaltungsreihe der Frankfurter Bürgerstiftung zum 250. Todestag des Komponisten eröffnete, übertrug sich diese Haltung auch auf fast alle seiner Mitspieler, allen voran auf die beiden Bläser, Sophie Roth (Traversflöte) und Johannes Herres (Blockflöte), während man bei der Sopranistin Jasmin Hörner im Rezitativ der Kantate zum Sonntag „Rogate“ aus Telemanns Hausmusik-Zyklus „Der Harmonische Gottesdienst“ dachte: wenn sie mehr Mut zu dramaturgisch wirksamen Pausen aufbrächte, um (frei nach Morton Feldman: ) einer musikalischen Sinneinheit die nötige Zeit zu lassen, um von der Bühne in die Fantasie der Zuhörenden zu finden, dann wäre es noch besser!

In eingestreuten Plaudereien ließ Felix Koch den diplomatischen Telemann aufscheinen, wie ihn die von Dr. Ann Barbara Kersting-Meuleman aus Beständen der Universitätsbibliothek zusammengetragene Ausstellung „Die Stadt als musikalisches Netzwerk“ bestaunen lässt, die noch bis zum 17. November im Holzhausenschlösschen zu sehen ist: Im Collegium musicum ermunterte der städtische Musikdirektor und Kapellmeister zweier Kirchen die Frankfurter Bürger, sich im angeleiteten Selbststudium die musikalischen Neuerungen ihrer Zeit, unter anderem die barocke Oper, anzueignen. In Personalunion lieferte der fruchtbare Komponist im Selbstverlag herausgegebenes Notenfutter für gesellige Hausmusik.

Indem Koch vor jeder der Kantaten die Ohren für Telemanns musikalische Textausdeutung spitzte, etwa für die Darstellung von Ewigem Leben in unstrukturierbaren Sechzehntel-Ketten, machte er Appetit auf das noch bis Samstag im Holzhausenschlösschen stattfindende internationale Symposion „Der Komponist als Chronist: Telemanns Gelegenheitsmusik als musikalisches Tagebuch“, das bei freiem Eintritt ein Stück Verflechtung von Musik und Zeitgeschehen verfolgen lässt, das sich möglicherweise nicht auf die Textauswahl beschränkt, sondern in die Musik hineinstrahlt.

Näheres: http://telemann.info.

DORIS KÖSTERKE

Sol Gabetta und die Bamberger

Ligeti und Martinů

sowie ein langweiliger Schubert

 

Abenteuerfreudig begann das Konzert der Bamberger Symphoniker im Großen Saal der Alten Oper mit »Lontano« von György Ligeti. Die Gänsehaut erzeugende, aus unzähligen Kanons gewebte zwölfminütige Klangfläche ist aus vielen Einspielungen bekannt. Aber diese Aufführung unter der Leitung von Jakub Hrůša, in der man die sich durch das Orchester ziehenden Klangwechsel auch optisch mitverfolgen konnte, war ungleich plastischer: viele kleine Gesetzmäßigkeiten durchdringen einander, finden zu größeren Mustern zusammen, die sich auch wieder auflösen, wie eine vom Wind bewegten Wasserfläche, auf der die Sonne aufgeht.

Sol Gabetta, in der südamerikanische Lebensfreude mit der strengen Erziehung einer russischen Mutter eine künstlerisch äußerst fruchtbare und enorm ausstrahlungsreiche Verbindung eingegangen sind, war Solistin im Ersten Cellokonzert (1955) des erfrischenden Querkopfs Bohuslav Martinů (1890-1959): wegen „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ vom Prager Konservatorium verwiesen ging er seine eigenen Wege über Paris durch die Welt und bildete eigene Überzeugungen heraus: Die „Geometrie“ strenger Formen wollte er durch die „Phantasie“ überwinden, die in jedem Werk wieder eigene Gesetze schafft. Eine Konstante in seinem Schaffen ist die Inspiration durch die Volksmusik seiner Heimat – und dass es immer anders weitergeht, als man denkt, in jähen Brüchen, Verkürzungen, Schwenks in andere Klang- und Gefühlswelten. Das erfordert so hellwache Interpreten wie Sol Gabetta, die ihren Part mit dem Einsatz ihres gesamten durchtrainierten Körpers und ihrer menschenfreundlichen Seele erfüllte, mal kraftvoll, mal aufrichtig bekümmert, während das Orchester in unsicheren Einsätzen vermuten ließ, dass es auf dieses Werk schlecht vorbereitet war.

Schuberts „Große“ C-Dur-Symphonie folgte mit allen Wiederholungen. Ein durchgreifender Gestaltungswille offenbarte sich dabei weder im ersten noch im zweiten Durchgang, dem, im Da-Capo des Scherzos, auch noch ein dritter folgte: statt eines tragfähigen Spannungsbogens zeigte diese Aufführung, dass auch die Repertoirewerke bildungsbürgerlicher Ressentiment-Musik sich nicht von selbst spielen.

Zwischen den auffallend jungen „Wann-Ist-Endlich-Feierabend“-Gesichtern des Orchesters fanden sich jedoch auch einzelne engagierte, besonders unter den Bläsern, und da wiederum ganz besonders der Erste Oboist und die präsente Flötistin.

DORIS KÖSTERKE

Christoph Eschenbach präsentiert Junge Solisten

Kian Soltani, Stephen Waarts,

Bruno Philippe, William Hagen

Erwachsenen war der Eintritt zum ersten Konzert des Kronberg Academy Festival 2017 nur in Begleitung eines Kindes gestattet. Fürsorglich nahmen die Jungen sich der Alten an und schalteten für das von Christoph Eschenbach geleitete Konzert mit dem hr-Sinfonieorchester im Großen Saal der Alten Oper sogar ihre mobilen digitalen Endgeräte aus. Rund dreißig Minuten Online-Entzug mündeten in aufrichtig begeisterten und herzlichen Applaus für den 1992 in Österreich geborenen Kian Soltani, denn er hatte das etwas lebensmüde Cellokonzert von Edward Elgar „echt saftig“ gespielt. Nach Brahms‘ Violinkonzert, also fast fünfzig Minuten Offline-Sein, hagelte es frenetische Bravos für den 1996 in den USA geborenen Geiger Stephen Waarts, vor allem für seinen temperamentvoll zupackend gespielten Finalsatz.

Das zweite Konzert „Christoph Eschenbach präsentiert Junge Solisten“ durften große Leute auch ohne Aufsicht von Kindern besuchen und sich in Haydns Cellokonzert C-Dur (Hob VIIb:1) vorbehaltlos für Bruno Philippe begeistern: Denn dass seine Kadenzen bisweilen intonatorisch leicht freizügig gerieten, verzieh man ihm gern angesichts dieser emotional und energetisch ungemein stimmigen Interpretation. Von fein eingefädelten Höhen bis in die geschmeidigen Tiefen hinein ließ der 1993 im südfranzösischen Perpignan Geborene das leicht ansprechende Tononi-Cello aussingen. Selten beobachtet man einen so intensiven Dialog zwischen Solist und Orchester. Vergleichsweise sehr groß besetzt reagierte es mit enorm zartem Klang. Behutsam einfühlend nahm es die Impulse des Solisten auf und trug sie weiter, im langsamen Mittelsatz wie andächtig, in den Ecksätzen mit lustvoller Musikantik, Geist und Witz.

Im Vergleich dazu wirkte das sich anschließende Konzert D-Dur für Violine und Orchester op. 35, mit dem Erich Wolfgang Korngold (1897–1957), nach einer frühen Karriere als von Gustav Mahler gefördertes Wunderkind und einer weiteren in Hollywood als Filmkomponist, versucht hatte, wieder die Kurve in das „Ernste“ europäische Konzertleben zu kriegen, primär wie eine Geigen-Zirkusnummer. Der 1992 in Salt Lake City geborene William Hagen brillierte darin virtuos, mit aufs Sauberste intonierten, ungemein klangschönen Höhen der circa 1675 in Cremona von Andrea Guarneri gebauten Violine.

Das von Arnold Schönberg orchestrierte Erste Klavierquartett von Johannes Brahms gelang dem Orchester so durchhörbar, dass man jeden wieder völlig neuen Gedanken als konsequent aus dem Material des Vorangegangenen entwickelt wahrnahm: Ungeachtet des zunächst bedauerten Schmalz-Verzichts ein echter Leckerbissen.

DORIS KÖSTERKE

(M)eine Winterreise von Francesco Tristano

„Eine andere Art Klavierabend“ verhieß das Programmheft zu „(M)eine Winterreise“ von Francesco Tristano. Der Mozart Saal der Alten Oper (als wäre er nicht ohnehin unwirtlich genug) hallte wider von der kalt-blau-grauen Beleuchtung des Bühnenhintergrunds und die Klimaanlage ließ frösteln. Aha: es wird ganzheitlich! Und aleatorisch: Der Pianist entschied spontan über die Abfolge der angekündigten „Nummern“, vornehmlich eigne Kompositionen, dazwischen Debussy-Préludes, Ravels Gaspard de la nuit, Takemitsus For Away und die Klavierfassungen von vier Schubertliedern. Seine eigenen Kompositionen wirkten meist wie improvisiert. Oft balladesk, oft an populäre Songs erinnernd, in denen auf eine melodramatisch vorangestellte seelische Selbstentblößung wiederholungsreich ein liedhaftes Bekenntnis folgt. Zahlreiche Binnenstimmen-Orgelpunkte erinnerten an immerhin an Schubert.

Das ohne spannungszehrende Beifallslöcher und ohne Pause rund 75 Minuten füllende Programm bekam am Ende viel Applaus – vielleicht gerade, weil der 1981 in Luxemburg geborene, an der New Yorker Juilliard School, später auch anderen Konservatorien von Paris bis Riga Ausgebildete darin meist an einen Barpianisten erinnerte.

Im von Michael Stegemann moderierten Nachgespräch „An der Bar“ gab er freimütig zu, dass Schubert ihm vor diesem Auftrags-Beitrag zum Musikfest über ein paar nette Melodien hinaus nichts bedeutet habe. Das Abarbeiten des Auftrags habe daran nichts geändert. Tristanos Äußerung im Programm­heft, „Schubert hat den Pop Song (radio edit) erfunden“, sei entgegengehalten, dass Kürze auch Destillat bedeuten kann und Eingängigkeit nicht notwendigerweise Plattheit.

Aber: Tradition bedarf der Frechheit jüngerer Menschen, um nicht zu verknöchern, um sich selbst immer wieder zu hinterfragen, um Wesentliches statt Äußerliches zu erhalten. Das Beste an diesem Abend war jedoch der dem Konzert vorangestellte Vortrag von Michael Stegemann über die politische Situation zur Schubert-Zeit, die sich von der gegenwärtig erstarkenden Neuen Spießigkeit und einer global möglichen elektronischen Überwachung nur graduell unterschieden hat.

DORIS KÖSTERKE

Regenerative Mutterliebe

Lemminkäinen unterliegt Schwan

In den Vier Legenden op. 22 von Jean Sibelius zeigte sich das Philharmonische Staatsorchester Mainz in seinem Ersten Sinfoniekonzert im Großen Haus in allerbester Form. Die auch als Lemminkäinen-Suite bezeichneten symphonischen Dichtungen spiegeln Episoden aus dem finnischen Nationalepos Kalevala, vor allem den jugendlichen Helden Lemminkäinen, einem Frauenschwarm und Haudegen, dem nur eine Mission gründlich schiefläuft: als er den Schwan töten soll, der das Totenreich Tuonela umschwimmt, harkt seine Mutter anschließend mit einem Rechen seine Leichenteile aus dem Fluss. Mit einer Zauberformel kann sie ihn jedoch wieder lebendig machen.

Das harkende Tasten in Fluten und Schlamm meinte man in der Musik zu hören, die keine Programmmusik sein will. Vielmehr verbindet der außermusikalische Bezug die in Töne gefasste Fantasie des Komponisten mit der angeregten Fantasie der Zuhörer zu einem freien, enorm spannenden Spiel.

Die estnische Dirigentin Anu Tali leitete die Aufführung mit klaren, suggestiven, bisweilen erfrischend unorthodoxen Gesten (etwas das Krümeln zum Beschluss der dritten Legende, „Lemminkäinen in Tuonela“). So animiert fügten sich hohe Dramatik und reich schattierte Stimmungsbilder zu einem energetisch stimmigen Fluss. Das Orchester schuf Gänsehaut-und Herzklopfen-Klänge und beeindruckte in intimen kammermusikalischen Dialogen. Großartig gelungen waren die Einzelleistungen, vor allem die ausgedehnten Englischhorn-Soli. Aber auch das nahtlos von der Viola weitergeführte Cello-Solo zu Beginn der zweiten Legende, „Der Schwan von Tuonela“, ließ elektrisiert aufhorchen.

Zum Einspielen hatte die sehr gefällige, von tanzfreudiger Folklore inspirierte Estnische Tanzsuite von Eduard Tubin gedient. Konzertmeister Naoya Nishimura trat als Solist in Sergej Prokofjews Erstem Violinkonzert auf, in dem ihn primär die technischen Herausforderungen zu reizen schienen, die er virtuos meisterte. Seine Zugaben stammten aus der Solo-Sonate op. 27 Nr. 4 von Eugène Ysaÿe.

DORIS KÖSTERKE

Klavierabend András Schiff

Abschiede aus vier Jahrhunderten

 

 

Für so ein Konzert lohnt es sich, zu leben: Das Musikfest-Motto zum „Fremd … zieh ich wieder aus“ weiterdenkend, spannte Sir András Schiff in seinem Klavierabend im Großen Saal der Alten Oper einen Bogen über vier Jahrhunderte zum Thema Abschied. Als Referenz an den einladenden Verein Frankfurter Bachkonzerte begann er mit dem Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo B-Dur BWV 992. Dabei bohrte er sich nicht an Details fest, sondern gab ihnen aus seinem großen Überblick heraus einen neuen Sinn: statt auf der herzzerreißenden “Bleib-doch-da”-Chromatik herumzureiten, lenkte er den Blick auf die psychologische Selbstheilung des vom Schicksal nicht eben verwöhnten 21-jährigen Johann Sebastian Bach, indem der neben dem echten Schmerz auch zeigte, wie man ihn durch schöpferische Verarbeitung überwindet.

In Ludwig van Beethovens sehr persönlicher “Lebewohl” Sonate Nr. 26 Es-Dur op. 81a zeigte Sir András Schiff seine Größe unter anderem darin, dass er die Exposition des ersten Satzes bei der Wiederholung völlig anders und sehr viel differenzierter beleuchtete. Als erster Höhepunkt vor dem ersten zugelassenen Applaus zeigte er seine über alle pianistischen Probleme erhabene Musikantik in der einzigen Klaviersonate von Béla Bartók. Mit ihr hatte der Komponist, zwei Jahre nach seinem grundlegenden Werk „Das ungarische Volkslied“, seiner klassisch orientierten Pianistenkarriere “Lebewohl” gesagt. Auch von dem übermäßig selbstkritischen Leoš Janáček ist nur eine einzige Klaviersonate überliefert: Die „Sonate 1.X.1905“ verewigt das Datum einer Demonstration für eine Tschechische Universität, die von deutschen Besatzern blutig niedergeschlagen wurde.

Von Franz Schubert, als Leitfigur des Musikfestes, beschloss die in seinem Todesjahr entstandene, posthum veröffentlichte Sonate c-Moll das Konzert. Auch hier gliederte Schiff sinnstiftend mit ausführlich ausgekosteter Agogik, arbeitete mit dem symphonischen Klang des Bösendorfer-Flügels über die Binnenspannung der Mittelstimmen das Nebeneinander von düstrer Todesgewissheit und der Transzendenz lichter Melodien heraus.

Die erste Zugabe, Präludium und Fuge C-Dur BWV 846, verhieß nach dem Abschied einen Neuanfang über „Das Wohltemperierte Klavier“ hinaus. Die zweite war die Gavotte aus BWV 811, die dritte, mit herausgestellter stabilisierender Mittelstimme, die Ungarische Melodie D. 817. Hätte Schubert sich träumen lassen, wie intensiv er auch nach 189 Jahren noch weiterlebt?

DORIS KÖSTERKE

Abschlusskonzert der IEMA 2016/17

Vier eigens dafür geschriebene Stücke

Wie „ein großes Monster, das immer weiter anwächst“ empfindet Yukiko Watanabe die Flut immer wieder neuer Interpretationen klassischer Musikstücke, etwa von Bachs Goldbergvariationen: Ein Stück kollektives Gedächtnis, dem sich unendlich viele Einzelgedächtnisse zugesellen. Vor dem Komponieren von „Nue“, benannt nach einem Monster aus dem japanischen Volksglauben, hat Yukiko Watanabe die Instrumentalisten der Uraufführung, ihre Mit-Stipendiaten in der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA), gebeten, ihr private Fotos zu geben. In der Partitur zeigt sie, wie sie sie umgesetzt und mit Zitatschnipseln aus Bachs Goldberg-Variationen durchsetzt hat. Während der Deutschen Erstaufführung im Abschlusskonzert des Masterstudiengangs „Zeitgenössische Musik“ 2016/17 im kleinen Saal der Frankfurter Musikhochschule wurden auch die Fotos gezeigt: Bilder von Kindern, Landschaften, Städten, Menschen, Tieren, Kunstwerken.

„Unterhalb aller Verbindungen sind wir voneinander isoliert, wenn es um unsere individuelle Perspektiven auf die gleiche Realität geht“, schrieb Genevieve Murphy im Programmtext zu ihrer Komposition „Squeeze Machine“. Die gleichnamige Niederdruck-Maschine zum Beruhigen von etwa Hypersensiblen rief in der Komponistin „Themen des Alleinseins und irrationaler Angst“ wach. In die Partitur eingewoben sind Feldaufnahmen von einem Folklore-Festival. „Music with happy connotations – distress 85 %“ kommentierte die Komponistin, in der Aufführung als Vokalistin mitwirkend. Obwohl man geneigt war, das Ganze als Zynismus aufzufassen, war die Aufführung ein intensives Erlebnis.

Die Ausbildung zum Komponisten besteht zum großen Teil aus Analysen von Werken, die sich in der Musikgeschichte erfolgreich behauptet haben. Man fragt etwa: Welchen inneren Gesetzen folgt es? Aus welchen Materialien ist es gebaut? Wie ist seine „Lebenszeit“ strukturiert? In „Song & Dance“ hat die Belgierin Maya Verlaak ihre Analyse-Ergebnisse (von welchem Stück, verrät sie nicht) in ein Spiel gefasst, in dem die Mitspieler, unter dem Dirigat der unverdrossen klaren Yalda Zamani, ein neues Stück nach den Regeln des alten improvisieren, während Takuya Otaki, über Kopfhörer von ihnen abgekoppelt, eine in einen Klavierpart gefasste Computersimulation dieses Spieles spielte. Beim Hören wuchs der Verdacht, das Analysierte sei mehr als die Synthese der Analyse.

Den klassischsten Weg ging der 1986 in der Türkei geborene Utku Asuroglu in „und“: seine sieben verschiedenen Lösungsansätze eines (als irrelevant bezeichneten) kompositorischen Problems begegneten wie die sieben Kinder gleicher Eltern mit ausgeprägten eigenen Charakteren, jedes auf eigene Art berührend und, ob aufbegehrend oder in sich gekehrt, voll innerer Spannung. Großer Applaus für die Instrumentalisten, die alle vier so völlig verschiedenen Stücke mit dem gleichen vorbehaltlosen Engagement angegangen sind.

DORIS KÖSTERKE

„Schönerland“ von Søren Nils Eichberg

Über Heimat und die Kraft der Oper

Uraufführung „Schönerland“ von Søren Nils Eichberg

 

Die Stimmung war nicht schlecht nach der Uraufführung von „Schönerland“ im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden. Hier und da hieß es, man müsse darüber nachdenken. Was will Theater mehr? Dass die Musik nicht aus vergangenen Jahrhunderten, sondern von dem 1973 geborenen Deutsch-Dänen Søren Nils Eichberg stammt, hat nicht gestört, zumal sie, unter der Leitung von Albert Horne wacker umgesetzt, ihre atmosphärischen und dramaturgischen Aufgaben eher unaufdringlich erfüllt.

„Schönerland“ handelt von der Suche nach Heimat. Schauplatz ist ein Hafen in Nordafrika, Syrien oder der Türkei. Die Protagonisten sind Flüchtende, wartend auf ein Boot, das sie in ein Land bringt, in dem man wenigstens ohne Angst schlafen kann. Am liebsten auch weiter studieren, arbeiten, lieben, einen Garten pflegen und feiern.

Das Stück wurde vor drei Jahren vom Hessischen Staatstheaters Wiesbaden in Auftrag gegeben, als die erfolgte politische Entwicklung noch nicht absehbar war. Libretti und Kompositionen brauchen zum Entstehen viel Zeit, wurden dabei von Ereignissen überrollt und machen noch immer den Eindruck einer gärenden Masse, die sich möglicherweise nach der Premiere noch ändern wird.

Um nicht bloße Betroffenheits-Kosmetik zu betreiben, hangelt sich das Libretto von Therese Schmidt noch einen zweiten Strang entlang, in dem die Kunstform Oper sich selbst reflektiert: Ein Intendant (Thomas de Vries) will mit großer zeitnaher Kunst die Welt verbessern und ein „Publikum, das hört und sieht und handelt“. Ein Komponist (Erik Biegel) will „Eine Musik, die mehr ist, als wir sind“ und eine Stückeschreiberin (trefflich gespielt und in der ihr auf den Leib geschriebenen Arie angenehm vibratoarm: Britta Stallmeister), wendet sich in ihrem verzweifelten Ringen um Inspiration an Flüchtlinge und blitzt kläglich dabei ab.

Einem intelligenten Publikum soll man seine Assoziationen nicht vorkauen. Dennoch hätte man sich gewünscht, dass das Bühnengeschehen öfter und deutlicher über sein Werben um Empathie hinausgegangen wäre. Geglückt war dieser Schritt, als die Schlepper beschließen, auch Intendant und Komponist nicht mit ins Boot zu nehmen, weil sie nicht genug Geld haben. „Nur die Besten“ (Wer bestimmt die Kriterien?) dürfen ins Boot, während andere vergeblich versuchen, die glatten steilen Wände des metallenen Trichters (Bühne: Volker Hintermeier) zu erklimmen und schmerzvoll dabei abrutschen. Diese wiederholte Szene schreit nach einer Aktualisierung über die Flüchtlingsproblematik hinaus.

Aussagestark gelang die Szene, in der „Der Syrer“ (Feras Zarka) fremdsprachenbedingt mehr schlecht als recht beim Theater vorgesprochen hat und der Intendant mit einem „Wir melden uns“ wie dem Sog eines Staubsaugers folgend, mit den Massen von der Bühne verschwindet.

Definitiv als „Oper“ überschrieben bietet „Schönerland“ tatsächlich Operntypisches mit vibratoreichem Druck auf sentimentale Ader und Tränendrüse. Im ausgedehnten zehnten, letzten Bild zeigte vor allem Aaron Cawley als allegorische Figur des Dariush (aus dem Altpersischen: Das Gute festhalten), was Oper kann: Mit Saida (Eleni Calenos) bildet er ein Paar, in der die Partner ineinander eine Heimat finden. Auch besingt er die Erinnerung an das, was der zurückgelassene Vater ihm beigebracht hat und verkörpert damit etwas, was Kunst vermitteln soll und kann: Werte.

DORIS KÖSTERKE

Zwanzig Harfen

Uraufführung „Spione“ von Gordon Kampe

 

Voller Harfenklang-Sternschnuppen war der hr-Sendesaal, als 17 Harfenisten die je 47 Saiten ihrer Instrumente stimmten: Das jüngste Forum N stand ganz im Zeichen dieses archaischen Instruments. Wer für Harfe komponiert, plauderte Harfenist Xavier de Maistre im Einführungsgespräch, müsse sich sehr genau damit auskennen.

Auch Gordon Kampe, den der hr beauftragt hatte, ein Orchesterstück mit Harfen zu schreiben, bezeichnete es echt norddeutsch als „Knüttelarbeit“, zu überlegen, was geht und was nicht geht, wenn sieben zweifach verstellbare Pedale entsprechende Saiten um jeweils einen Halb- oder Ganzton heraufstimmen. Sein Stück „Spione“, das hier seine Uraufführung erlebte, begann mit sehr leisen Statements der teils quer über das Publikum hinweg kommunizierenden Harfengruppen, aus dem sich ein primär mit dem Zwerchfell zu hörendes Orchestergetöse entwickelte. Wer die vergleichsweise flüsternden Harfen als Zellen des Widerstands dagegen ansah, fand sich im weiteren Verlauf des Stückes einer falschen Fährte aufgesessen, wie Kampe sie in seinen von Krimis inspirierten Stücken gerne legt. Mit sprühender Fantasie hatte Kampe verschiedenste Elemente aneinandergefügt: suggestive Geräusche, verfremdete Anleihen aus der Popularmusik, ein wunderschönes Bratschensolo von Gerd Grötzschel, eine schwüle Klangatmosphäre mit singenden Sägen. Das war vergnüglich, aber auch sehr bunt. Wer am künstlerischen Kriterium einer Ökonomie der Mittel festhielt, dem schienen die insgesamt 17 Harfen auch keine ihrer Anzahl angemessene Rolle zu spielen.

„Trans“ hatte Kaija Saariaho für den durchtrainierten, lustvoll virtuos mit traditionellen und erweiterten Spieltechniken jonglierenden Ausnahme-Harfenisten Xavier de Maistre geschrieben. Nachdem er im Einführungsgespräch den entsprechenden Hörschlüssel geliefert hatte, staunte man, wie eng die Orchesterklänge an die Klangfarben der Harfe anknüpften. Xavier de Maistres humorige Zugabe war „Karneval in Venedig“ des Belgischen Harfenisten Felix Godefroid.

John Cages „Postcard from Heaven“ (1982) für „1 bis 20 Harfen“ wird man von Aufführung zu Aufführung kaum wiedererkennen, denn Cage hat seine Interpreten innerhalb fester Regeln zu Mitschaffenden gemacht. In dieser von Anne-Sophie Bertrand einstudierten Fassung wurde es von zwanzig in Hufeisenform um das Publikum verteilten Harfen aufgeführt. Ein affirmatives Werk, das das gesamte Klangspektrum der Harfe, von der leisen präzisen Klangmassage zur mächtigen Gewitterwolke, zu den Raum durchpeitschenden synchronen Impulsen und zu sphärischen Liegetönen, geschaffen mit E-Bows oder Kontrabassbögen.

Den Abschluss bildete Sibelius‘ Sechste Symphonie: keine „Neue Musik“, aber ebenso verkannt. Im Einführungsgespräch hatte Hermann Bäumer, Dirigent des Abends, von einer mehrtägigen Wanderung durch das isländische Hochland erzählt, auf der sich der Blick für Details der verschiedenen Arten von Flechten geschärft hatte. So vorbereitet konnte man sich auf die motivische Feinarbeit einlassen, durch die hier und da ein Thema blinzelt, das sich, wie ein Wolkenspiel, auch wieder verliert.

DORIS KÖSTERKE