Abschlusskonzert der IEMA 2016/17

Vier eigens dafür geschriebene Stücke

Wie „ein großes Monster, das immer weiter anwächst“ empfindet Yukiko Watanabe die Flut immer wieder neuer Interpretationen klassischer Musikstücke, etwa von Bachs Goldbergvariationen: Ein Stück kollektives Gedächtnis, dem sich unendlich viele Einzelgedächtnisse zugesellen. Vor dem Komponieren von „Nue“, benannt nach einem Monster aus dem japanischen Volksglauben, hat Yukiko Watanabe die Instrumentalisten der Uraufführung, ihre Mit-Stipendiaten in der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA), gebeten, ihr private Fotos zu geben. In der Partitur zeigt sie, wie sie sie umgesetzt und mit Zitatschnipseln aus Bachs Goldberg-Variationen durchsetzt hat. Während der Deutschen Erstaufführung im Abschlusskonzert des Masterstudiengangs „Zeitgenössische Musik“ 2016/17 im kleinen Saal der Frankfurter Musikhochschule wurden auch die Fotos gezeigt: Bilder von Kindern, Landschaften, Städten, Menschen, Tieren, Kunstwerken.

„Unterhalb aller Verbindungen sind wir voneinander isoliert, wenn es um unsere individuelle Perspektiven auf die gleiche Realität geht“, schrieb Genevieve Murphy im Programmtext zu ihrer Komposition „Squeeze Machine“. Die gleichnamige Niederdruck-Maschine zum Beruhigen von etwa Hypersensiblen rief in der Komponistin „Themen des Alleinseins und irrationaler Angst“ wach. In die Partitur eingewoben sind Feldaufnahmen von einem Folklore-Festival. „Music with happy connotations – distress 85 %“ kommentierte die Komponistin, in der Aufführung als Vokalistin mitwirkend. Obwohl man geneigt war, das Ganze als Zynismus aufzufassen, war die Aufführung ein intensives Erlebnis.

Die Ausbildung zum Komponisten besteht zum großen Teil aus Analysen von Werken, die sich in der Musikgeschichte erfolgreich behauptet haben. Man fragt etwa: Welchen inneren Gesetzen folgt es? Aus welchen Materialien ist es gebaut? Wie ist seine „Lebenszeit“ strukturiert? In „Song & Dance“ hat die Belgierin Maya Verlaak ihre Analyse-Ergebnisse (von welchem Stück, verrät sie nicht) in ein Spiel gefasst, in dem die Mitspieler, unter dem Dirigat der unverdrossen klaren Yalda Zamani, ein neues Stück nach den Regeln des alten improvisieren, während Takuya Otaki, über Kopfhörer von ihnen abgekoppelt, eine in einen Klavierpart gefasste Computersimulation dieses Spieles spielte. Beim Hören wuchs der Verdacht, das Analysierte sei mehr als die Synthese der Analyse.

Den klassischsten Weg ging der 1986 in der Türkei geborene Utku Asuroglu in „und“: seine sieben verschiedenen Lösungsansätze eines (als irrelevant bezeichneten) kompositorischen Problems begegneten wie die sieben Kinder gleicher Eltern mit ausgeprägten eigenen Charakteren, jedes auf eigene Art berührend und, ob aufbegehrend oder in sich gekehrt, voll innerer Spannung. Großer Applaus für die Instrumentalisten, die alle vier so völlig verschiedenen Stücke mit dem gleichen vorbehaltlosen Engagement angegangen sind.

DORIS KÖSTERKE