Das „Glashaus“ hing voller Scherben. Zerbrochene Teller und Tassen waren zu Mobiles arrangiert. Vom Halbrund der Fenster gespiegelt schienen sie als Scherbenwolken über den Dächern zu schweben …weiterlesen
Konzertkritiken
François Leleux bei Barock+
Ein Fenster voller Regentropfen: der Blick hinaus ist vertraut. Aber jeder Tropfen fügt ihm eine eigene Brechung hinzu. …weiterlesen
Wärmendes Feuerchen im Städel
Unter Hindemiths Musik wirkte Emil Schumachers abstraktes Bild „Ohne Titel“, als hätte jemand im Grau der Ruinen ein Leib und Seele wärmendes Feuerchen entzündet und Bernhard Schultzes „Endymion“ wie sprühende Lebenslust unter Tränenschleiern. …weiterlesen
„Xena“ von Rynkowski uraufgeführt
Konzert für Theremin und Orchester
Endlich ein Musikinstrument, für das man nicht üben muss, mag mancher beim ersten Kontakt mit einem Theremin gedacht haben: Man hält seine Hände in die Spannungsfelder der beiden Antennen und schon entstehen – anders als bei Erstkontakten mit klassischen Streich– oder Blasinstrumenten – schöne Klänge. Als der schillernde Lew Termen (1896-1993, erst als Geheimagent in den USA nannte er sich Leon Theremin) seine Erfindung 1922 im Kreml vorstellte, soll es Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin gelungen sein, ein russisches Lied darauf zu spielen.
Thereminist und Komponist Clemens Rynkowski
Doch als Clemens Rynkowski dieses Instrument vor dem 3. Sinfoniekonzert (neuer Marketing-Name: „WIR 3“) des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden im Friedrich-von-Thiersch-Saal vorstellte, gewann man angesichts seiner Fingeryoga-ähnlichen Verrenkungen eine Ahnung von den Orientierungsschwierigkeiten, mit denen er im elektromagnetischen Raum zu kämpfen hatte, besonders in höheren Tonlagen, in denen, ähnlich wie bei Saiteninstrumenten, der Raum zwischen den einzelnen Tonstufen immer enger wird und Millimeterbruchteile der Abweichung zu etwas führen können, das jeder Laie schmerzvoll als Daneben empfindet. Rynkowski komponiert auch – nicht nur für dieses Instrument, auf das er durch Zufall gestoßen ist. Weil er und Patrick Lange einander aus einem Projekt mit dem Bundesjugendorchester kennen, bekam Rynkowski den ersten Kompositionsauftrag des neuen Wiesbadener Generalmusikdirektors.
Uraufführung in Wiesbaden
„Xena“, sein Konzert für Theremin und Orchester, erlebte an diesem Abend seine Uraufführung. Die Konfrontation der „Etablierten“ im Orchester mit dem solistischen „Fremdling“ hätte man sich weniger martialisch gewünscht. Gut gemacht – sowohl von dem Komponisten, als auch von dem abenteuerlustigen Klangkörper – waren die zahlreichen Glissandi, Vibrati und Sphärenklänge, mit denen Rynkowski die Aufgaben der Orchestermusiker spürbar den typischen Theremin-Klangwelten angenähert hatte. Die Zugabe, Der Schwan aus Camille Saint-Saëns‘ Karneval der Tiere, in der das Orchester zur Klangwolke degradiert ist, erhielt jedoch weit mehr Beifall. Zuvor hatte das Orchester sich schon in der Suite aus der Oper Die Liebe zu den drei Orangen von Sergei Prokofjew mit kontrastreichen Klangfarben und –gesten von seiner besten Seite gezeigt. Auch in der wie in vollautomatisierter Routine abgespielten Vierten Sinfonie von Robert Schumann fand sich ein Moment gut ausgehorchter Gestaltung: Zu Beginn des Zweiten Satzes, gefolgt von einem berückend schön gespielten Oboen-Solo.
DORIS KÖSTERKE
7.11.2018
Polen – Verlorene Heimat und gewonnene Freiheit
Um hundert Jahre polnischer Unabhängigkeit zu feiern, erklangen in elf Städten außerhalb Polens, in Chicago, Kopenhagen, London, Lviv, Melbourne, Mailand, New York, Paris, Tokio, Wien und auch in Frankfurt die gleichen Fanfaren, extra für diesen Anlass komponiert von Krzystof Penderecki. Sie eröffneten Konzerte, in denen weltweit insgesamt hundert musikalische Werke erklangen, die von polnischen Komponisten in diesen hundert Jahren geschrieben wurden. Für sein Konzert im Clara Schumann Saal von Dr. Hoch’s Konservatorium hatte das Ensemble Modern seinem ehemaligen Akademisten Dariusz Przybylski ein weiteres in Auftrag gegeben. Sein Stück für Trompete und Ensemble mit dem Titel Ich war, ich bin, aber ich werde nie wieder sein (2018) erlebte seine Uraufführung mit Sava Stoianov als solidarischem Solisten, der mit verschiedenen Spiel- und Dämpfertechniken viele instrumentale Farben zum Ausdruck brachte. Tänzerisch dirigierte Michael Wendeberg dieses und die anderen Stücke.
Hauptwerk des Abends war das Ensemblestück Chain 1 (1983) von Witold Lutosławski. Es stellt eine Technik vor, in der Formteile nicht aneinandergrenzen, sondern einander überlappen. Sie wurde besonders deutlich, als sich unter einem Schluss mit Tamtam und großem Gerassel noch ein anderes Kettenglied verbarg, das das Stück weniger klischeehaft zum Abschluss brachte.
Mehr als seine Musique scintillante pour 14 interprètes (2007) begeisterte die persönliche Begegnung mit dem gepflegten Weltbürger Krzysztof Meyer. Jagoda Szmytkas Stück „electrified memories of bloody cherries. Extended Landschaft von Musik“ (2011) bezieht sich auf „verlorene“ polnische Ostgebiete, die Czesław Miłosz in seinem Roman Das Tal der Issa beschreibt. Wer aus einer Familie stammt, die ihre Heimat im heutigen Polen „verloren“ hat, musste über dieses Sujet tief durchatmen. Doch jenseits des politischen Beigeschmacks überzeugte das Stück mit seiner rein aus Geräuschen und geräuschnahen Klängen entwickelten musikalischen Logik.
Einen vergnüglichen Abschluss bildete das Ensemblestück 3 for 13 (1994) von Paweł Mykietyn mit pulverisierten Klassik-Klischees und humorvoll getäuschten Erwartungshaltungen.
DORIS KÖSTERKE
11.11.18
Das Konzert wurde vom Hessischen Rundfunk mitgeschnitten und ist am 31.01.2019 ab 20:04 Uhr auf hr2-kultur zu hören.
Rolf Riehm bei Happy New Ears
Als Obdachloser, „von wenigen vermisst und von keinem betrauert“, starb Goethes dichterischer Jugendfreund Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 bis 1792) in Moskau. In „Lenz in Moskau – Ein Melodram in fünf Schüben“ (2010), das zu Beginn des jüngsten Werkstattkonzerts „Happy New Ears“ des Ensemble Modern in der Oper zu erleben war, spürte Komponist Rolf Riehm dem Schicksal des Dichters auf musikalischer und sprachlicher Ebene nach. Musikalisch spürte man einen Menschen, der, buchstäblich „zur Schnecke gemacht“, seinen Kern verloren hat. Dazu sprachen Eva Böcker und Ueli Wiget Texte, die zumeist einem Interview mit Frank Castorf in der taz (24. 2. 2010) entnommen schienen. Der Berliner Volksbühnen-Regisseur sah den Ausbruch der Schizophrenie-Erkrankung des Dichters im engen Zusammenhang mit einem Wiedersehen der Jugendfreunde, in dem der karrierebeflissene Dichterfürst den genialisch-infantilen Lenz (wie auch andere seiner Weggenossen aus dem Sturm und Drang) offenbar gründlich gebrochen hat. Lenz beschrieb sich danach als „ausgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer“.
Riehm, 1937 geboren und seit seiner Studienzeit dieser Stadt vielfältig verbunden, betonte in diesem Zusammenhang, wie wichtig für sein eigenes künstlerisches Aufkeimen vor allem zwei Menschen waren: Bernd Loebe und Klaus Zehelein. Letzterer saß im Gesprächsteil dieses Abends mit ihm auf der Bühne. Als für ihn bedeutsames Moment hob Zehelein heraus, dass Riehms Musik das, worum es im jeweiligen Stück ging, von innen heraus mitempfinden ließ.
Tatsächlich hatte man sich im Lenz-Melodram selbst wie der zu Unrecht Verkannte gefühlt. Das zweite, „Adieu, sirènes“, machte zur Augenzeugin der Vorgänge im südöstlichen Mittelmeer. Wie schon im Melodram erinnerte der Text auch in dieser szenischen Komposition für Mezzosopran, 2 Violoncelli und 2 Trompeten (2015) an die Art, wie Riehm selbst spricht: frei assoziativ, ohne roten Faden als Seilsicherung auf dem Klettersteig des Verstehens, Fragen bestehen lassend, ohne Antworten anzubieten, Bedenkenswertes aufzeigend. „Mein eigener Hermeneutiker bin ich nicht“, schmunzelte er.
Als Moderator des Gesprächs gelang dem Dirigenten des Abends, Christian Hommel, ein erfrischender Seitenhieb auf sprachliche Konventionen, als er von „Cellistinnen“ sprach, die die Sängerin wie verlängerte Arme umgeben und dabei neben Eva Böcker auch Michael M. Kasper meinte.
Zentraldarstellerin war Sopranistin Sarah Maria Sun. Magnetisch spann sie stimmliche Seidenfäden durch den Raum, ein Singen mit Übergängen zum Schreien, Würgen, Rülpsen, Kreischen und Gurgeln, mal die Arme ausbreitend, mal die Fäuste vor den Augen ballend oder ein (letztes?) Lebewohl winkend. Der reiche Beifall zeigte, dass viele sich einen Reim darauf machen konnten.
DORIS KÖSTERKE
27.11.18
Wiese, Schätze, Datenklau – Land (Stadt Fluss)
Es riecht nach frisch geschnittenem Gras und Gemüse. Der Saal im Mousonturm ist mit Rasen ausgelegt. Auf der bühnenfüllenden Leinwand setzt sich der Rasen fort: grüne Hügel, Höfe, abgezirkelte Wälder zwischen ebenso gepflügten Feldern. Idylle? Seidls Musik meint: Jein.
„Land (Stadt Fluss)“ heißt das neue, jüngst uraufgeführte Gemeinschaftswerk von Hannes Seidl und Daniel Kötter. …weiterlesen
Mut, einen ganz eigenen Weg zu gehen
Von einer „ernsthaften Recension“ sehe man ab, da man es „mit dem Werke einer Dame zu thun“ habe, schrieb Carl Friedrich Becker über das Klavierkonzert a-Moll op. 7 (1833-35) von Clara Schumann (1819-1896). …weiterlesen
Ein Streben nach Wahrheit. Aber nach welcher?
Mit dem Volk auf Du und Du stehen wollte Hanns Eisler mit seiner Oper „Johann Faustus“. Doch Walter Ulbricht wetterte über das Libretto, die SED werde es nicht zulassen, „daß eines der bedeutendsten Werke unseres großen Dichters Goethe zur Karikatur verunstaltet wird“. Tatsächlich hatte Eisler sich weniger an Goethe als an dessen Quelle, die Faust-Sage, gehalten. Die freie Künstlergruppe „studioNAXOS“ setzte sich in ihrer Theater-Musik-Performance in der Frankfurter Naxoshalle überwiegend abstrakt mit dem Eisler-Text auseinander.
Ein Haus auf Rollen schien Sinnbild der Mobilität heutiger Menschen. Darin bekam man seinen Eingangsstempel. Oder auch nicht, denn die Zahl der Besucher überschritt die Zahl der zugelassenen Plätze. Wer sich am Haus vorbeischlängeln durfte, fand auf der vermeintlichen Bühne eine Cellistin und einen Pianisten. Spielten sie miteinander? Oder nur gleichzeitig? Das Programmheft verriet: Letzteres. Die eine Komposition stammte von Tobias Hagedorn, die andere von Yongbom Lee. Nach einer Weile sollte eine Falttür die Musiker vom Publikum trennen. Sie klemmte. Ein Hinweis darauf, dass zwischen der Kunst und den Zuschauern keine Barriere sein soll? Unterdessen pochte es hinter den Rücken der Zuschauer so heftig, dass alle ihren Stuhl in die andere Richtung drehten: wer sich bemüht hatte, vorne zu sitzen, saß nun hinten. Möglicherweise auch durch die Raumakustik bedingt, verstand nicht jeder alle von einer Schauspielerin gesprochenen Worte. Nur so viel, dass man hier ein „anderes“ zeitgenössisches Theater machen wollte, mithin, indem man auch so genannte „Experten des Alltags“ als Darsteller hinzuzog.
Gelungen schien der an mittelalterliche Gesangskunst erinnernde Dialog zweier Solostimmen (Musik: Rafael Orth): Faust strebt nach Wahrheit. Die andere Stimme fragt: „Nach welcher?“.
Als Eislers Verdienst gilt, dass er die Figur des Hanswurst wieder eingeführt hat, die der Bildungsanspruch des bürgerlichen Theaters von der Bühne verbannt hatte. Hanswurst ist keiner Gruppe und keinen Prinzipien treu. Hauptsache, es gibt was zu futtern, das schmeckt und vielleicht sogar ein schönes Mädchen. Genau diese Mentalität interessierte die Theatermacher vom studioNAXOS (weil die Mehrheit der Bevölkerung diesem Typus angehört?).
Die „Schwarzspiele“, die in Eislers Libretto nur von den scharfsinnigen „Negersklaven“ verstanden werden, nicht aber von den Reichen, von denen Faust sich Ruhm und Ehre verspicht, waren in dieser Inszenierung von jeweils anderen Künstlern als Spiele im Spiel gestaltet. Das letzte Schwarzspiel versammelte die gesamte Statisterie: Menschen aus allen Altersstufen und Herkunftsländern, die das Bild auf jeweils eigene Art bereichern. Das hätte man, scheint es, auch auf der Straße beobachten können. Aber da hat man ja meistens seinen Kopf woanders.
DORIS KÖSTERKE
13.9.18
Abschluss IEMA-Ensemble 2017/18
Das Gefühl der Desorientierung, „die einen befällt, wenn man nicht in seinem Heimatland ist“ prägte die Komposition „Dépaysement“ (2018) von Yongbom Lee. …weiterlesen