Jens Barnieck, Schamanen und Dämonen

„Schamanen und Dämonen“ hat der Pianist Jens Barnieck das Konzert überschrieben, das er am 19. November im neuen Domizil des art.ist in der Walkmühle spielen wird. Haben ihm Corona-Zeit und Ukraine-Krieg so zugesetzt, dass er sich nun jenseitigen Mächten zuwendet? „Um Himmels willen!“ sagt er als erstes und dann, dass er einen Spaziergang braucht: Hatte bis spät in die Nacht im Studio des SWR an seiner Gesamteinspielung des Klavierwerks von Friedrich Gernsheim (1839-1916) gearbeitet. Also sprechen wir im Rabengrund über „Schamanen und Dämonen“.

Die Idee zu dem Konzert war Jens Barnieck gekommen, als er jüngst zufällig die Komposition „Shaman“ von jenem Yvar Mikhashoff (1941-1993) in die Hände bekam, bei dem er in New York studiert hatte. Das Stück verarbeitet Melodien der indigenen Papago aus Arizona. Um kulturelle Aneignung geht es dabei jedoch nicht. Vielmehr ist das Stück von einem Gedicht von Paul Schmidt (1934 – 1999) inspiriert, das Barnieck im Konzert vorlesen wird.

Menschen erreichen

Im Gespräch spürt man, dass Jens Barnieck solide, gründlich und mit viel Begeisterung für sein Programm recherchiert hat. Etwa über Vera Lachmann (1904-1985). Sie war eine der ersten Frauen unter promovierten Altphilologen und darüber hinaus eine Reform-Pädagogin, die selbst über die Sprachbarrieren im amerikanischen Exil hinweg junge Menschen erreichen und begeistern konnte. Einem Gedicht von ihr folgt eine Komposition ihrer Lebensgefährtin Tui St. George Tucker (1924-2004), laut Barnieck „eine echte Schamanin, die im Wald lebt und mit bewusstseinserweiternden Substanzen, etwa aus Pilzen experimentiert“.

Extra für diesen Abend komponiert wurde „The Shaman’s Flow“. Der Kolumbianische Komponist Victor Agudelo vereint darin mit südamerikanischer Spielfreude Klavierspiel, Bildhaftes und Beatboxing.

Sehr genaue Naturbeobachtungen

Andere Stücke des Programms, etwa von der Ukrainerin Karmella Tsepkolenko (*1955) oder dem in Alaska lebenden John Luther Adams (*1953) haben insofern schamanische Züge, als sie sich aus sehr genauen Naturbeobachtungen herleiten.

Genau zuhören, auf Ungewohntes einlassen

Was versteht Jens Barnieck überhaupt unter Schamanen? „In ganz erweitertem und übertragenem Sinne sind das Menschen, die sich aus genauestem Beobachten ein Wissen angeeignet haben, wie sie Menschen in ein besseres Verhältnis zum Rest der Welt bringen können“. Und Dämonen? „Die haben auch solche Begabungen, setzen sie jedoch zu eigennützigen Zwecken ein, etwa, um reich zu werden oder Präsident“.

Musik und Schamanismus

Ist nicht fast jede Musik eine Art von Schamanismus? „Wenn ich in einer Jury sitze, erlebe ich oft, dass alle Töne richtig sind. Aber sie erreichen mich nicht, bewirken nichts in mir“. Das ist dann kein Schamanismus. Doch über ihren Einfluss auf Atem und Puls kann Musik sehr tief auf Menschen wirken, im Guten wie im Schlechten. Man denke an den Missbrauch von Musik im Dritten Reich. Oder an Musik in der Werbung. „In den USA werden fast alle Nachrichten mit Musik unterlegt“, erzählt Barnieck. Viele Menschen merken möglicherweise gar nicht, wenn ihnen mit einer Information zugleich eine emotionale Bewertung nahegelegt wird.

Von Schamanen lernen

Genau das will Jens Barnieck in seinen Konzerten nicht. Er möchte nicht lenken, nicht belehren, wohl aber anregen: „Wir sind in einer weltweiten Krise, wir müssen uns umorientieren. Da können wir von Schamanen lernen: genau beobachten, zuhören, uns auf Ungewohntes einlassen“.

„Schamanen und Dämonen“, Film, Text und Musik am 19. November um 20 Uhr im neuen Domizil des art.ist in der Walkmühle.

Doris Kösterke
1.11.2022