Umwelt beobachten, um sich selbst zu verstehen

Komponistin Carola Bauckholt und Lyriker Jan Wagner

beim Werkstattkonzert „Happy New Ears“

 

Im Kies beim Kirschbaum knirscht der Giersch – Jan Wagner. Und allerorts raschelt die Goretexjacke – Carola Bauckholt: Im jüngsten Werkstattkonzert des Ensemble Modern im Holzfoyer der Oper sprach der Lyriker mit der Komponistin über den Klang der Welt. Über die konkreten, wie in den Bewegungen von Tieren, die Carola Bauckholt in ihrer Komposition „Treibstoff“ auf Instrumente übertragen hat. Über die Werkzeugklänge, die ihre vergnüglich aufgeführte Komposition „Schraubdichtung“ für Sprechstimme (Paul Cannon), Cello (Eva Böcker), Kontrafagott (Johannes Schwarz) und Schlagzeug (Rumi Ogawa) inspiriert haben. Über die noch konkreteren, die die Streicher Giorgios Panagiotidis, Megumi Kasakawa, Eva Böcker und Paul Canon im (eigentlich für Schlagquartett geschriebenen) „Hirn und Ei“ ihren Wetterschutz-Jacken entlockten: durch Reiben mit der Hand, Kratzen mit der Scheckkarte, mit Händen in die Taschen das Gewebe in Aufruhr bringend, mit Reißverschluss-Glissandi und humorerfüllter Choreographie, alles nach durchkomponierter Partitur. Auch über die vorgestellten Klänge, wie das mit einem Bein im Wasser laufende Tier im Schlagzeugpart von „Treibstoff“. Und schließlich über die verborgenen, mit denen das oben beschriebene Unkraut seinen „Tyrannentraum“ (Wagner) verwirklicht.

Die Faszination für das ganz alltägliche verbindet die 1959 geborene Komponistin und den 1971 in Hamburg geborenen Lyriker. Wobei sie sich im Gespräche darüber einig waren, dass sie die Umwelt beobachten, um sich selbst zu verstehen. Ihre Komposition „Treibstoff“, sagte Carola Bauckholt, untersuche Fragen, wie: Was treibt uns an? Was lässt uns aufhorchen? Was lässt uns anhalten?

Von früher Jugend an habe sie beobachtet, wie der „Überbau“ bröckelt, wie Visionen, Utopien und Systeme zusammenbrechen. So habe sie den Spaß und die Freude am Konkreten an die Stelle abstrakter Ideale: In ihren Kompositionen geht es kaum dramatisch zu. Eher laden sie ein, genauer auf die Klänge der Welt zu hören, um sich an ihr zu freuen.

Bauckholt nährt ihre Entdeckerfreude besonders im Bereich von tieffrequentigen Geräuschen im fruchtbaren Zusammenwirken mit Musikern, etwa mit dem Schlagquartett Köln, oder dem Thürmchen-Ensemble, das sie zusammen mit Caspar Johannes Walter gegründet hat. Und natürlich im Austausch mit anderen Komponisten: Das Scheibchen Kork, verriet sie, das ein Streicher-Pizzicato klingen lässt wie den Ton einer steel drum, hatte sie von dem Frankfurter (Internisten und) Komponisten Thomas Stiegler übernommen. Aus Freude am Zusammenwirken ermunterte sie ihren Gesprächspartner wieder und wieder, eigene Gedichte vorzulesen: das mit der Qualle, der Seife, vom Giersch. Und schließlich, als gemeinsames Statement, das Zitat von Jean Paul: Humor erniedrige das Große und erhöhe das Kleine im Hinblick auf eine Unendlichkeit, in der „alles gleich und nichts ist“.

DORIS KÖSTERKE

ARGO von José M. Sánchez-Verdú

Dramma in musica von José M. Sánchez-Verdú (2018)

Premiere am Staatstheater Mainz

Für anderthalb Stunden wird das Kleine Haus des Staatstheaters Mainz zum Bauch der Argo. Das Licht ist dämmerig. Die Klänge sind überwiegend diffus. Elektronisch weiterverarbeitet kommen sie nicht nur aus dem Orchestergraben, sondern wie von überall. In unregelmäßigen Abständen durchziehen rätselhaft tiefe Klänge den Raum und das Zwerchfell. Aus zwei gegenüberliegenden Logen tönen Oboe und Englischhorn. Ihr zusätzlich live-elektronisch verschmolzener Zusammenklang, hatte Dramaturgin Ina Karr verraten, sei dem antiken Aulos nachempfunden. Von hinten tönt eine Sopranistin. Ihre Worte sind unverständlich und sollen es auch sein, um Musik zu bleiben. Reisegenossen auf der an einen Lattenkäfig erinnernden Bühne sind (neben dem choreographisch anspruchsvoll geführten Chor) Anführer Jason (Martin Busen), Orpheus (klangschön: Altus Alin Deleanu), der den Gesang der Sirenen mit eigenem überdröhnt. Dann, dank einer Mythenverschränkung in der literarischen Vorlage, auch Odysseus (Brett Carter), der der Besatzung die Ohren verstopft und sich fesseln lässt, um den Gesang der Sirenen zwar zu hören, ihm aber nicht zu folgen. Und Butes, der beim Gesang der Sirenen ins Meer sprang. (Dass Göttin Kypris ihn vor seinem sicher scheinenden Tod retten wird, weiß am Ende dieses Stückes nur der Zuschauer). Pascal Quignard hat Butes ein Buch gewidmet, das den Komponisten José M. Sánchez-Verdú zu seinem „Dramma in musica“ ARGO inspiriert hat. Als Koproduktion mit dem Staatstheater Mainz wurde „ARGO“ bei den diesjährigen Schwetzinger SWR Festspielen uraufgeführt und hatte nun in Mainz Premiere.

„Dramma in musica“ heißt, dass Sánchez-Verdú das Drama sich auch in den Klängen selbst abspielen lassen will. Szenisch ist das Stück stark ausgedünnt, vieles auf Schattenriss angelegt. Genial die pendelnde Hängeleuchte, die den Bühnen-Käfig horizontal zum Schwanken bringt (Inszenierung: Mirella Weingarten, Licht: Ulrich Schneider, Ausstattung: Etienne Pluss). Im Nixenkostüm mit gut zweimeterlanger Mähne ist Sopranistin Maren Schwier mal Aphrodite, mal Sirene, mal Medea. Am profiliertesten war Jonathan de la Paz Zaens als sich mehr und mehr dem Wasserspiegel im Zentrum der Bühne nähernder Butes.

Alle Mitwirkenden unter der Leitung von Hermann Bäumer leisten Außerordentliches beim Vermitteln ihrer Rollen in der ungewohnten Klangsprache. Die nahtlosen Übergänge der Klänge, etwa von Flöte und Windmaschine oder Frauenchor und Blechbläsern, verraten viel Kleinarbeit des SWR Experimentalstudios mit dem Komponisten und den Mainzer Musikern. Als Zuhörer spürt man vor allem, wie die meist flächigen, Klänge den Adrenalinspiegel steigen und sinken lassen.

Der in Algeciras geborene Komponist, hatte die Dramaturgin in der Einführung erzählt, fühle sich eher einer arabischen Erzähltradition nahe, die die Bezüge zur Gegenwart nicht explizit herausarbeitet, sondern in poetischer Schwebe lässt. So lässt das Stück wahrscheinlich noch andere Deutungen offen als diese: Butes wollte um jeden Preis da raus.

DORIS KÖSTERKE

20.05.2018

Heiner Goebbels‘ Eislermaterial

„Was soll ich nur machen, daß du nicht ihren dreckigen Lügen traust.“ Wie alle Strophen der „Vier Wiegenlieder für Arbeitermütter“, einem Gemeinschaftswerk von Bert Brecht, Hanns Eisler und Helene Weigel, schließt auch diese mit einem unsentimentalen Punkt. In ›Eislermaterial‹ von Heiner Goebbels, einer Gratwanderung zwischen Hommage und Parodie, sind diese und andere Lieder des 1898 geborenen Komponisten mit der androgynen Gesangsstimme von Josef Bierbichler verbunden. Als das ›Eislermaterial‹ nach zwanzig Jahren Weltreise im Bockenheimer Depot seine Heimkehr nach Frankfurt feierte, kauerte der mittlerweile siebzigjährige Schauspieler zwischen den Musikern, in einer Haltung, die jeder Laie als sangesfeindlich definieren würde, den Notentext fixierend, als läse er ihn zum ersten Mal. Ob Absicht oder nicht: es passte. Denn Goebbels spielt hier mit der Poesie des Abstands.

Die Musiker saßen in Hufeisenform um die menschenleere Bühne, als ließen sie vor geduldetem Publikum das einst gemeinsam mit Heiner Goebbels Entwickelte Revue passieren, überwiegend skeptisch distanziert. Doch im vierten der oben erwähnten Wiegenlieder mit seinem weitgehend auf die Gegenwart übertragbaren Text, spielten sie sich in echte Rage.

Vieles wirkte so frisch, als wäre es improvisiert. Dabei wurde es mittlerweile ausnotiert, weil viele der damals beteiligten Ensemblemitglieder nicht mehr dabei sind. Tatsächlich improvisiert waren jedoch die mitunter an wütendes Schimpfen erinnernden Bassklarinetten-Furiosi von Matthias Stich.

Goebbels‘ Affinität zu Eisler kam aus dem Satz: „Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts!“. In Collagen aus Tondokumenten ließ er die Stimme des Vaters der Arbeiterchöre tönen: „die Leute müssen sich ändern, vielleicht auch durch die Musik“ und ließ dessen „alten Kämpfe“ aufleben, „vor allem gegen Dirigenten“.

Das Fehlen eines Dirigenten machte die Musiker zu den eigentlichen Darstellern in diesem so genannten „szenischen Konzert“. Wie in Thoreaus Utopie von einer konstruktiven Anarchie trug jeder von ihnen an der Verantwortung für das Ganze. In direkter Verständigung koordinierten sie sich in diffizilen Kammermusik-Adaptionen, in mehrlagigen musikalischen Botschaften, in Zweifel schürenden Variationen über Eislers Solidaritätslied, oder im scharfen Holzbein-Rhythmus der „Mutter Beimlein“.

Zwischen musikantischem Plätschern, dramaturgischen Knalleffekten und verhaltenem musikalischem Groove entstand eine dichte Atmosphäre fern jeder Agitationspropaganda, ein Schillern und Schweben, in dem jeder frei war, seinen eigenen, von der poetischen Fülle angestoßenen Gedanken zu folgen. Bis zum überraschenden, innerlich lange nachhallenden Schluss, (mit dem Lied „Und endlich stirbt die Sehnsucht doch“ auf einen Text von Peter Altenberg) „… daß man doch nicht froh ist“.

DORIS KÖSTERKE

Giovanni Antonini und Ottavio Dantone

„Erforderte die Begleitung einer Sängerin eine obligate Flötenstimme, griff der Pultstar kurzerhand ins Jacket [sic!], holte das auf Betriebstemperatur gebrachte Instrument heraus und übernahm selbst diesen Part, natürlich dabei weiter dirigierend“, hieß es in der Konzertankündigung über Giovanni Antonini. Auf Einladung der „Frankfurter Bachkonzerte“ war der „Il Giardino Armonico“-Gründer zusammen mit dem Cembalisten Ottavio Dantone und vier Mitgliedern der Blockflötenfamilie (Tenor, Alt, Sopran und Sopranino) in den Mozart Saal gekommen. Um die Stimmung einer Flöte zu überprüfen, blies Antonini ein paar rauschend arpeggierte Kadenzen in den Resonanzraum des Cembalos. Dem folgten fast zwei Stunden gesteigerte Intensität: Das Minenspiel des Flötisten zeigte, wie er jedem einzelnen Ton eine Sonderbehandlung zukommen ließ, um ihn klanglich wie intonatorisch zu optimieren. Mund, Rachen, Gaumen, Zäpfchen, Nasenwurzel: sie alle haben Einfluss auf den Blockflötenton, der noch keine Musik ist. Aber was ist Musik?

Zwei Stücke von Andrea Falconieri, La Suave melodia und La Monarca, wirkten wie in Töne gefasste gesprochene Sprache, analytisch gegen den Strich gebürstet. Eine reich improvisierte Kadenz leitete über zu viel orchestrierter Stille in Dario Castello Sonata prima a soprano solo. Ihr akrobatisch lang ausgehaltener, dabei noch decrescendierender Schlusston mündete nahtlos in den Anfangston der Ricercata Seconda für Cembalo solo von Aurelio Virgiliano, in der Ottavio Dantone das Cembalo im vollendeten Legato aussingen ließ.

Dantones klare Unterscheidung zwischen tragender Melodik und akkordischem Rauschwerk in den Scarlatti-Sonaten K87 und K 27 erinnerte an Schopenhauers Diktum von der Architektur als gefrorener Musik. Das Zusammenwirken der beiden Musiker in Arcangelo Corellis „La Follia“ ließ an Bewegungen denken, die real nicht möglich sind, wie etwa Stabhochsprung-ähnliche Sieben-Meilen-Schritte anhand einer in hörbar großen Bögen einstechenden Lanze.

In den Flötensonaten von Francesco Mancini und von Händel, in Bachs Chromatischer Fantasie und Fuge BWV 903 und der aus klanglichen Gründen nach g-Moll transponierten Flötensonate BWV 1034 war die experimentelle, hinterfragende und analytische Phase des Konzerts endgültig in eine kulinarische übergegangen, die dennoch das zuvor bewusst gemachte erkennen ließ: Sprachähnlichkeit, Umgang mit Stille, kolorierende Verzierungen, klangliche Stimmungen in klarer Architektur, phantastische Bewegungsabläufe und instrumentale Akrobatik, etwa beim Heben des Beines, um zur Erzeugung von Spitzentönen auch das Loch im Schallbecher der Blockflöte zu schließen.

Die galante Zugabe stammte wohl von Nicolò Fiorenza (~1700–1764).

DORIS KÖSTERKE

Happy New Ears – Portrait Enno Poppe

„Komponieren ist eine sehr einsame Tätig­keit. Da macht es unglaublich viel Spaß, zwischendurch mit einem Ensemble zu arbei­ten: es ist ge­sellig, lustig und vor allem dann inter­essant, wenn man sich mit Werken le­bendi­ger Komponisten beschäftigt“, er­zähl­te Enno Poppe im Gespräch mit Rebecca Saun­ders im jüngsten Workshop-Konzert Happy New Ears des Ensemble Modern im Holzfoyer.

Seinen Ruf als Komponist verdankt Poppe auch seinem Ruf als Ensembleleiter. Vor zwanzig Jahren hat er das Ensemble Mosaik gegründet, um neben eigenen auch Werke anderer junger Komponisten aufzufüh­ren. Seine Musiker schwärmen von der At­mosphäre aus guter Laune, sprühender Selbstironie und substanzreichem Witz, in der dort gemeinsame Klangforschung betrie­ben wird.

Beliebtes Forschungsobjekt des Ensembles ist die Musik der englischen Komponistin Rebecca Saunders. Bei einem Happy-New-Ears-Workshop im Februar 2017 hatte man über die feinfühlige Detailkenntnis gestaunt, mit der Poppe dem Publikum im Gespräch die Musik der Kollegin nahebrach­te. Nun war der Spieß umgedreht.

„In vielen deiner Stücke fühle ich mich zu Beginn mit einem Nukleus konfrontiert, den du dann sehr stringent entwickelst“, sagte die Komponistin. In ›Fell‹ für Drumset solo, beeindruckend gespielt von Rainer Römer, nahm man ihren Hinweis als Wegweiser für das eigene Hören und begriff das Stück als organisches Sich-Entfalten und wucherndes Sich-Ausbreiten, das wie eine witzige Persiflage auf die Improvisa­tion eines Rock-Schlagzeugers wirkte. „Ich habe die klangli­chen Elemente einer solchen Improvisation analysiert und neu zusammengebaut“, ver­riet der Komponist.

Die Ensemblearbeit scheint in Poppe auch den Respekt vor der Arbeit jedes ein­zelnen Musikers gestärkt zu haben. Die bei­den folgenden Ensemblestücke, ›Brot‹ (2008) und ›Scherben‹ (200/01 für das Ensemble Modern geschrieben) behandelten jeden Musiker als in seinen virtuosen Möglich­keiten geforderten und gewürdigten Soli­sten, während Poppes Dirigierbewegungen die eigentümlichen Bewegungen von Tieren und Menschen verschiedenster Größen, Charaktere und Tempera­mente nachzuahmen schienen, vexierend zwischen Einfühlung und humori­stischer Distanzie­rung. Als Hörer kombi­nierte man die abstrahierten Bewegungsab­läufe innerlich zu einem Drama, in dem höchst verschiedene, jeweils einer eigenen inneren Gesetzmäßigkeit folgende Persönlichkeiten miteinander agieren.

„Wenn ich sage: sie fallen einander ins Wort oder fallen übereinander her, dann ist das gegenüber der Musik sehr ver­gröbernd. So, als wollte ich das feine Minenspiel in einem Gesicht beschrieben, obwohl es unmittelbar verständlich ist“, sagte Poppe dazu und schmunzelt: „Aber kann ich etwa mit Recht behaupten, eine Mozart-Sinfonie zu verstehen?“

DORIS KÖSTERKE

connect – das Publikum als Künstler, 2. Runde

Im Lichtkegel ein Kuscheltier. Eine große Trommel auf Rädern rumpelt über die Bühne im Frankfurt LAB und füllt den Raum mit ihren Resonanzen. Ensemble-Modern-Schlagzeuger Rainer Römer wirft das Kuscheltier in die Menge und winkt die Frau zu sich, die es ahnungslos gefangen hat. Durch Reiben entlockt er der Trommel die verschiedensten Klänge. Die Frau eifert ihm nach. Sie macht das gut!

Die Uraufführung von Oscar Bianchis ›Orango‹ begann mit einer mustergültigen Publikums-Beteiligung. Vor zwei Jahren hatte die Art Mentor Foundation Lucerne erstmals versucht, die sprichwörtliche »vierte Wand« der Bühne zwischen Künstlern und ihrem Publikum in vier europäischen Großstädten einzureißen: ihr Projekt connect – das Publikum als Künstler führte in Workshops interessierte Laien mit Komponisten und Ensembles für zeitgenössische Musik zusammen, um gemeinsam ein Konzert zu erarbeiten.

In der nun zweiten Runde des Projekts hatte der italienisch-schweizerische Komponist Oscar Bianchi die Teilnehmer der Workshops zum unüblichen Gebrauch ihrer Stimmen, von Blockflötenmundstücken und kleiner Perkussionsinstrumente ermutigt, um mit ihren Aktivitäten das Spiel der professionellen Musiker herauszufordern und umgekehrt. „Ich habe mich darin angenehm frei gefühlt“, erzählte Workshop-Teilnehmer Thomas Wunsch nach der Aufführung und Teilnehmerin Cornelia Jürgens-Leber begeisterte sich für viele Ideen Bianchis, die sich der Rezensentin beim ersten Hören nicht erschlossen hatten. – Hauptverdienst des Projekts connect – das Publikum als Künstler scheint also zu sein, den Zuhörern die Ohren zu spitzen.

Ein Kuscheltier-Wurfspiel gab es auch in Philip Venables „The Gender Agenda“ im Stile einer interaktiven TV-Show, in der der britische Komponist neben der Barriere zwischen Publikum und Künstlern auch die zwischen den Geschlechtern aufs Korn nahm. Über das Zuwerfen von rosa und hellblauen Plüschkätzchen wurden die Kandidaten zweier Gruppen ausgewählt. Sie traten beim Erfüllen verschiedener Aufgaben gegeneinander an, wobei eine Gruppe mit Schikanen zu kämpfen hatte, etwa mit einer an die Hand gebundenen Babypuppe. Die Workshop-Teilnehmer bildeten einen erstaunlich virtuosen Sprechchor, für das Ensemble Modern hätte man sich eine sehr viel selbstbewusstere Musik gewünscht und die aktive Rolle des breiten Publikums war darauf beschränkt, gemäß Anweisungen auf der Leinwand zu klatschen (und sich dabei zu wünschen, sie würden sich wie bei Marc-Uwe Kling zu einem Antiterroranschlag des asozialen Netzwerks entwickeln).

Insgesamt hatten die Teilnehmer der Workshops ein sehr viel tieferes Verhältnis zu den Stücken entwickelt, als die gemeine Kontrollgruppe. Klaus-Stefan Scheuermann, der schon 2016 dabei war, hat auch in diesem Jahr alle Workshops begeistert besucht: „Es macht mir immer wieder Spaß, etwas mit dem Ensemble Modern zu erleben“.

DORIS KÖSTERKE

Klanggarten im Städel

Neue Musik trifft neue Kunst

 

 

„Klanggarten“ heißt ein neues Veranstaltungsformat. Dabei werden die Räume der Sammlung Gegenwartskunst im Städel von Mitgliedern der Jungen Deutschen Philharmonie bespielt. Mit Kompositionen, die etwa zeitgleich mit den Bildern und Plastiken entstanden sind. Zum gegenseitigen Erhellen der Kunstgattungen trugen im ersten Abend dieser Reihe etwa die geschmeidig und schattierungsreich gespielten Sechs Bagatellen für Bläserquintett (1953) von György Ligeti bei: Nachdem man sich den Exponaten des German Pop gewidmet hatte, hörte man besonders auf die Objets trouvés: das folkloristische Material darin.

Unerschrocken und mit wendiger Tongebung überzeugte Trompeter Felix Schauren mit einer Auswahl aus den Quattro pezzi für Trompete solo (1956) von Giacinto Scelsi: der wie improvisiert wirkende Fluss korrespondierte etwa mit den Großformaten von Hermann Nitsch. Die den weitläufig den Raumkomplex bespielenden Variations IV (1963) 
von John Cage machten diesen Ort akustisch erfahrbar als (idealerweise) gleichberechtigtes einander Durchdringen künstlerisch tätiger Menschen.

In der Nähe gesellschaftlich engagierter Bilder von Jörg Immendorff hinterfragten zwei der „10 Märsche um den Sieg zu verfehlen“ (1978/79) von Mauricio Kagel die Grundbestandteile jener harten musikalischen Viervierteltakt-Droge, die Menschen bereit macht, sich totschießen zu lassen.

In John Cages
 4’33’’ (1952)
 füllen die Geräusche der Umgebung das Schweigen der Musiker, wie Staub die ehemals weißen Leinwand von Gotthard Graubners Stylit. Schade, dass diese Aufführung nicht der Partitur folgte, die diese „Stille“ in drei Sätze gliedert. Das hätte nicht nur die Musiker in ihren Posen entlastet, sondern vor allem den Höreindruck strukturiert, um ihn bewusster wahrnehmen zu können.

Kunst und Musik der Gegenwart erfordern beide, dass man sich auf sie einlässt. Toll gemacht hatte das Ruth Eichenseher: sie hatte sich weit genug in die graphische Notation von Morton Feldmans Intersection 4 für Cello solo (1953) hineingefuchst, dass man die Interpretin als Mitautorin der Komposition wahrnahm, die bei jeder Aufführung anders klingt.

Die hundert Metronome zur Aufführung von Ligetis Poème symphonique (1962) waren auf der Treppe zum Ausgang aufgebaut. Schade, dass der Mitteilungsdrang einzelner Besucher den an volles Regenrauschen erinnernden Beginn begraben hatte. Aber schön, dass die Traube der aktiv Zuhörenden wuchs, während diese Aufführung, bedingt durch die erlahmenden Antriebsfedern der auf verschiedene Schlaggeschwindigkeiten eingestellten feinmechanischen Geräte, immer leiser wurde. Je weniger Metronome klackten, umso durchhörbarer wurden die sich verändernden Rhythmen. Als die beiden bis zuletzt verbliebenen Geräte durch Zufall simultan verstummten, löste sich die Konzentration in gemeinsames Lachen.

DORIS KÖSTERKE

Hörtheater „Sonnenkönige“ in Mainz

Ein goldener Vorhang, gleißendes Licht, Musik von Lully. Eine Karikatur von einem Sonnenkönig tapst über die Bühne, Aufmerksamkeit erheischend wie ein unerzogenes Kind. Ein Mann mit rosaroter Sonnenbrille und blonder Perücke setzt sich ans Klavier und improvisiert lärmend über einen Jazz-Standard. Eine Cellistin quetscht sich zum Pianisten auf die Klavierbank, um ihr eigenes Stück zu spielen. Auf dem Gipfel ihres Machtkampfes spielen beide zusammen Mendelssohn. Da kommt ein Posaunist herein und setzt tiefe Störgeräusche in alle Ecken der Studiobühne U17 im Mainzer Staatstheater wie ein markierender Hund. Die Sängerin hat noch gefehlt. Einschmeichelnd und körperreich singt sie Cole Porters „Night and Day“. Als keiner der Musiker sich beeindruckt zeigt, verdrängt sie zuerst, als mutmaßlich konkurrierende Frau, die Cellistin aus dem Rampenlicht.

Der Beginn des Hörtheaters „Sonnenkönige“ ist bewusst anstrengend gestaltet, als Zerrbild einer Gesellschaft, in der kaum noch jemand anspruchsvolle Fähigkeiten kultiviert und umso stärker um Bewunderung buhlt, für Äußerliches und Vergängliches wie Jugend, Schönheit und wirtschaftliche Macht.

Im Verlauf des Stückes zieht sich der goldene Vorhang zurück, die Protagonisten entledigen sich ihrer Perücken und Sonnenbrillen, Posaunist Felix Degenhardt nimmt mit einem langen, rezitativisch-eindringlichen Solo für sich ein. Die Textur wird zunehmend ausgedünnt, leise, magnetisch, mystisch.

Die musikalische Leitung hat Samuel Hogarth. Doch der Pianist überlässt das genaue Timing dem eigenen Empfinden seiner Mitspieler. Dass die Protagonisten ihre Parts aus sich selbst heraus gestalten, je leiser und ausgedünnter, umso schöner, trägt maßgeblich zur magnetischen Atmosphäre des Abends bei.

Im Zentrum steht die Komposition „Vanitas“ für Mezzosopran, Violoncello und Klavier (1981)“ des 1947 geborenen Autodidakten Salvatore Sciarrino: Ein klangsinnliches Werk mit viel Stille, das in weich getupften Klavierakkorden und zwischen Sängerin und Cellistin hin- und herwandernden Glissandi den Jazz-Standard „Stardust“ von Hoagy Carmichael verarbeitet, laut Worten des Komponisten als „Anamorphose“, als bewusste Verzerrung, die „auf rätselhafte Weise einen flüchtigen Duft bewahrt“.

Im Bühnenhintergrund steht sonnengleich eine Art Sofa aus zwei senkrecht aufeinandergestellten Halbkreisen, mit Strahlen, die sich über Bühnenrückwand und Bühnenboden ausbreiten. Gegen Ende des Stückes, markiert durch ein langes bruchloses Abwärts-Glissando der Cellistin Judith Falzerano, werden sie einer nach dem anderen eingezogen. Sängerin Geneviève King ruht schweigend und entspannt auf dem halbrunden Kern des Sonnensofas wie ein schlafendes Kind, nur noch erhellt durch einen Lichtstrahl, der, zusammen mit Posaunenklängen, durch eine geöffnete Tür am Bühnenrand dringt, bis der tanzende Sonnenkönig sie von außen verschließt. Reicher und herzlicher Beifall mit Jubel und Bravos, die wohl nur deshalb so verhalten klangen, weil sie die entstandene Poesie nicht stören wollten.

Ein Stück über die Eitelkeit und wie schön es ist, sie zu überwinden.

 

TERMINE

7.04.2018, 22.04.2018, 28.04.2018, 17.05.2018, 20.05.2018 → Zum letzten Mal

DORIS KÖSTERKE

Ensemble Mosaik in Darmstadt

Ein Film, mutmaßlich gedreht in einer chinesischen Provinz, zeigt Erwachsene beim Arbeiten in einer von Bergen umkränzten Kulturlandschaft, Kinder beim Spielen in einer einförmigen Siedlung mit überdimensioniert scheinendem öffentlichen Platz und nach Anbruch der Dunkelheit alle zusammen in ihrem Verhalten bei einem unter freiem Himmel öffentlich gezeigten Film: Manche haben sich als Familie samt Hund mit Blick zur Leinwand zusammengekuschelt, andere gehen unschlüssig auf und ab. Später finden sich einige zu einem gemeinsamen Tanz zusammen, als hielten sie die Passivität des Zuschauens nicht mehr aus. Vor der Leinwand im Großen Saal der Darmstädter Akademie für Tonkunst saßen Musiker mit dem Rücken zum Publikum, den Film überwiegend distanziert mit flächigen Klängen kommentierend: Die Uraufführung des neuen Gemeinschaftswerkes „The audience“ von Hannes Seidl (Komponist) und Daniel Kötter (Filmemacher) wurde bei der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) freundlich aufgenommen.
Sein beigefügter chinesischer Titel

lässt nur auf den ersten Blick auf eine gleichförmige Masse von Beschallten schließen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, was Kötter und Seidl mutmaßlich mit ihrem Werk zum Ausdruck bringen wollten.

Während es in der Kombination von Musik und Film schwer gefallen war, der Dominanz der bewegten Bilder zu widerstehen, wurde im restlichen Konzert des Ensembles Mosaik im Rahmen der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung gesteigert bewusst, in wie hohem Maße komponierte Musik von ihren Vermittlern, den Interpreten, abhängig ist: In „Trauben“ von Enno Poppe luden sie die Variationen über getupfte Klavierakkorde und Streicher-Glissandi mit dem Humor des Komponisten auf.

Rundum beeindruckend schuf Angela Postweiler in „Adiantum Capillus-Veneris“ von Chaya Czernowin eine Landschaft aus Atem- und Stimmgeräuschen.

„Ore“ – Erz hieß die Komposition für Klarinette und Streichtrio der irischen Komponistin Ann Cleare und tatsächlich meinte man beim hörenden Eindringen in das sotto voce, den brüchigen Bereich der in extrem zurückgenommener Lautstärke nicht voll ansprechenden Instrumente, wertvolle (nichtstoffliche) Mineralien und Metalle zu finden. Besonders eindrucksvoll gelang das extrem lang angehaltene „Auszittern“ des Stückes im pianissimo.

Gipfelpunkt des Abends war die Ensemble-Komposition „Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of” von Chaya Czernowin. Die Geburt des komplexen Stückes lag in dunklen Klängen der großen Trommel. Den impulsiveren zweiten Teil hatte die Komponistin als einen „negativen Raum“ beschrieben. Nichtsdestotrotz schien sich in ihm ein aus Klängen gebildetes, dickes träges Tier zwischen Gitterstäben aus Klavierklängen zu erheben.

Die Minen der Musiker verrieten, mit welcher Sorgfalt sie den Notentext ausgelotet hatten, wie genau sie die Mittel erarbeitet hatten, mit denen sie dem Stück einen flüchtigen akustischen Körper verliehen. Voller Vertrauen folgte man ihnen zu einem „Verstehen“ jenseits des Benennbaren.

DORIS KÖSTERKE

Rinaldo Alessandrini und Giuliano Carmignola

Im jüngsten „Barock +“-Konzert im hr-Sendesaal begegnete man zwei Pionieren der historischen Aufführungspraxis in Italien, dem Dirigenten Rinaldo Alessandrini und dem Geiger Giuliano Carmignola.

Die Besetzung mit mehr als zwanzig Streichern des hr-Sinfonieorchesters, nebst klanglichen Schaumperlen von Cembalo und zwei Theorben war vergleichsweise groß. Das Programm huldigte mit drei weniger bekannten Concerti des Sekundfall-Sequenz-Spezialisten Vivaldi dessen Heimat Italien als Wiege der Barockmusik – mitreißend, virtuos und experimentell. Für Letzteres stand zum Beispiel die schroff herausgestellte Synkope im Themenkopf des ersten Satzes im Concerto per archi g-Moll RV 156. Oder die an den Herbststurm der „Vier Jahreszeiten“ erinnernde Klangmalerei im dritten Satz. Oder die gewagte Harmonik im zweiten Satz des Concerto grosso e-Moll op. 3 Nr. 3 von Francesco Geminiani. Letzteres Werk des in London berühmt gewordenen und in Dublin gestorbenen Komponisten verkörperte in diesem Programm, zusammen mit dem Concerto grosso D-Dur op. 1 Nr. 5 von Pietro Locatelli, der in Deutschland und den Niederlanden gewirkt hat, die kulturelle Ausstrahlung Italiens in den Norden Europas.

Alle drei Komponisten waren zugleich Geigenvirtuosen. Ihnen nacheifernd schienen Giuliano Carmignola und die hohen Streicher des Orchesters keine Tonleiterläufe zu spielen, sondern Treppengeländer (wie auch immer) hoch- und wieder herunter zu rutschen, während die tiefen Streicher rüstig den Tonraum durchwandernden Bässen für Binnenspannung sorgten.

Markante Phrasierungen, durch Laut-Leise-Effekte ausgeprägte Plastik, eine mitunter maschinenhafte Motorik, deren melodischer Fluss in den Kadenzen regelrecht „gefällt“ wurde, sowie klar herausgearbeitete dramaturgische Zielpunkte gehörten zu den Verdiensten dieser Interpretation. Ebenso ihre mühelose Leichtigkeit und auch ihr immer wieder angestrebter Schönklang ohne jedes Vibrato. Mancher mochte ihn uneingeschränkt genießen. Doch wer selbst auf „sprechend“ durchartikulierte Perlenketten getrimmt ist, empfand diese glatten Klangbänder als unverbindlich.

In den beiden Violinkonzerten von Vivaldi (e-Moll RV 281 und D-Dur RV 232) fragte man sich, ob das Gesamtergebnis nicht lebendiger gewesen wäre, wenn der Energiefluss zwischen Solist und Orchester nicht auf dem Umweg über den Dirigenten versiegt wäre. Aufrichtigen Beifall gab es für die Streicher des hr-Sinfonieorchesters, die wesentlich sauberer intonierten als der Solist.

Wer in der Pause nicht gegangen war wurde überrascht von dem Werk eines 15-jährigen Italien-Liebhabers, der Ersten Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy, in deren durchsichtiger Faktur, farbigen Instrumentierungen, geradezu anschaulicher Gestik, inneren Dialogen und lebhaften Schlagabtäusche über mediterraner Wusel-Atmo sich bereits die Qualitäten seines „Sommernachtstraums“ ankündigen.

DORIS KÖSTERKE