Des Schlafes großer Bruder

Das Lied, das Mutter gesungen hat, wenn man einschlafen sollte – für viele Menschen ist ihr ganz persönliches Wiegenlied eine tief eingeprägte musikalische Erfahrung. An dieser wollte der französische Komponist Pascal Dusapin künstlerisch gern anknüpfen. So hat er über eine App (www.lullaby-experience.eu) weltweit Menschen dazu aufgerufen, das Lied, das sie seit ihrer Kindheit begleitet, zu singen oder zu flüstern, aufzunehmen und einzusenden. Rund sechshundert Aufnahmen haben das Pariser Forschungsinstitut für Akustik/Musik IRCAM erreicht. Gemeinsam mit dem Ingenieur Thierry Coduys hat Dusapin die Einsendungen gesichtet, analysiert, in einer Datenbank erfasst und zu einer Komposition für ein komplexes System mit 64 Lautsprechern und live-Elementen weiterverarbeitet, in der die Vorlagen immer wieder zu Wort kommen. Die live-elektronischen Anteile dieser Komposition, die im Rahmen der Frankfurter Positionen im Frankfurt LAB uraufgeführt wird, besorgt das Ensemble Modern.

Traum und Trauma, Schlaf und Tod

Die Erinnerung verklärt Wiegenlieder oft zum Sinnbild von Geborgenheit. Dabei wollen Kinder oft zu ihrem Klang nicht einschlafen, weil sie spüren, dass das Leben danach ohne sie weitergeht, ganz ähnlich, wie beim Großen Bruder des Schlafes. Über den Themenkreis von Schlaf, nicht schlafen können, die Verwandtschaft von Schlaf und Tod, Schlaf als Flucht, als Rückzug, als Ort von Traum, Alptraum und Trauma hat Regisseur Claus Guth mit Tänzern und Schauspielern eine mit den Klangkonstruktionen verquickte Inszenierung geschaffen, die auch die Zuschauer mit einbeziehen will. Im Zentrum der von Etienne Pluss gestalteten Bühne, die sich über den gesamten Aufführungsraum erstreckt, steht ein überdimensioniertes Bett. Darin sträubt sich ein von Johanna Berger dargestelltes Mädchen, in dieser Landschaft von, wie es scheint: unendlicher Tiefe und Weite zu versinken. Mit ihm mag man ein beredtes Funkeln in den Augen der Puppen empfinden. Oder sich bange fragen, ob, wenn man einschläft, wieder dieser Mann kommt, oder ob man das alles nur mal geträumt hat. Letztlich wird man sich jedoch der durch die Musik vermittelten Ruhe nicht verweigern können. – Ein umfassendes Angebot von Klängen, musikalischen und szenischen Aktionen, aus dem kleine bis alte Menschen ihr ganz persönliches Erlebnis ziehen können.

DORIS KÖSTERKE