Musikalische Erkenntnistheorie

IEMA-Stipendiaten 2017/18 im Senckenberg Museum

 

Ryoanji (1984) von John Cage ist so angelegt, dass es von Aufführung zu Aufführung immer wieder anders klingt. Es wurde von einem Meditationsgarten im gleichnamigen Tempel in Kyoto inspiriert, in dem 15 Steine scheinbar zufällig verstreut in weißem, gerechten Kies liegen. Die erkenntnistheoretische Delikatesse: es gibt es keinen Platz, von dem aus man alle Steine zugleich sehen könnte.

Im jüngsten Konzert im Senckenberg Naturmuseum mit Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA) des Jahrgangs 2017/18 wurde eine Besetzung für Schlagzeug und drei Bläsern weit über den Raum verteilt – eine wunderbare Parallele zu dem Garten, dessen Steine aus jedem Blickwinkel andere Muster ergeben. Unvorhersehbar waren die Schläge auf Holzblock und Pauke, mit denen Schlagzeugerin Yu-Ling Chiu zwischen den Skeletten von Grind- und Narwal ein reduziertes Abbild der Spuren des Rechens im Kies symbolisierte. Rund um das elefantenflankierte Publikum gaben Oboistin Niamh Dell, Klarinettist Moritz Schneidewendt und Flötistin Katrin Szamatulski die Steine.

„Erde“ war dieses zweite von vier Konzerten überschrieben, mit denen das Senckenberg Museum auf seinen entstehenden Erweiterungsbau hinweist, in dem unter den Rubriken „Mensch, Erde, Kosmos und Zukunft“ Biodiversität und Klima-Erwärmung anschaulich werden sollen.

Um „Erde“ ging es auch in „Landscape of Diffracted Colours“ (2005) von Peter McNamara, der das Farbenspiel Australiens in instrumentale Klangfarben übersetzte. Toll, wie die jungen Stipendiaten diese Aufgabe gerade einmal dreieinhalb Monate nach Beginn ihres Masterstudiums am Institut für zeitgenössische Musik IzM der Frankfurter Musikhochschule angingen: gekonnt, sensibel, engagiert und beherzt.

Unterdessen schien der entfleischte Iguanodon im vorderen Lichthof schon lange sehr interessiert die drei Batterien aus unterschiedlich weit gefüllten Trinkgläsern zu inspizieren. Auch Tamtams, Maracas gehörten zum erweiterten Instrumentarium im „für elektrisches Streichquartett“ geschriebenen „Black Angels“ von George Crumb (*1929), einem Meister der Klangfarben. Für Rückblenden in vergangene Tonsprachen wurden auch Violinen (William Overcash, Lola Rubio) und Bratsche (Laura Hovestadt) senkrecht gehalten. In hohen Lagen des Griffbretts gegriffen und quasi auf der „falschen“ Seite gestrichen erinnerte der Klang an ein Violenkonsort der Renaissancezeit. Die Zitate wirkten so in doppelter Weise entrückt. Dazwischen schillerten poetische Kantilenen der Cellistin Kyubin Hwang. Die elektronische Weiterverarbeitung (Klangregie: Maximiliano Estudies) half den Streichern nicht nur, sich besser gegen den Bordun der Lüftungsanlage behaupten können. Sie sorgte auch für jene unwirkliche, gläserne Klanglichkeit, die man mit dem Jenseits verbindet.

DORIS KÖSTERKE