Gottes Nähe und Ferne bei Mark André

Der Einsatzgeste von Ingo Metzmacher schien zunächst nichts zu folgen. Erst allmählich schälte sich im Akkordeon ein leises Beben, Flimmern, Rauschen aus der Stille, vorsichtig vom Ensemble verstärkt und wieder verebbend. Die folgende Stille war gefärbt von der Erinnerung an das Verklungene. Mark André, dessen Triptychon „Riss 2“ (2014), „Riss 3“ (2014/16) und „Riss 1“ (2015/17) vom Ensemble Modern im Mozart Saal aufgeführt wurde, thematisiert in seinem Komponieren die Zwischenräume, die fragilen Zonen zwischen dem Nicht-Mehr und dem Noch-Nicht eines Klanges. André erlebt sie etwa bei seinen akustischen Raumvermessungen, wenn er einen klanglichen Impuls ausgesandt hat und gespannt ist, mit welchen Veränderungen der Klang zurückkommt. Mit diesem Verfahren hat der gläubige Christ die Grabeskirche in Jerusalem echographiert, die mutmaßlich sowohl den Ort der Kreuzigung Jesu, als auch den seiner Auferstehung umschließt. Über Algorithmen hat er daraus das Material für seine Oper „wunderzaichen“ (2014) und auch für diese drei Stücke gewonnen, spirituell unterstützt von der Theologin Margarete Gruber, die über Gottesnähe und –ferne forscht. Im Aramäischen gebe es ein einziges Wort für Atem, Wind und Heiliger Geist. Diesen göttlichen Hauch wolle er in seiner Musik erfahrbar machen, erzählte der 1964 in Paris geborene Komponist im Einführungsgespräch mit Christian Fausch.

Der Titel „Riss“ solle unter anderem daran erinnern, das der Tempelvorhang zerriss, als Jesus starb: Laut Margarethe Gruber sei dadurch das Allerheiligste für die Menschen erkennbar geworden. Erst jenseits von Sicherheit entstehe ästhetische Qualität. – Wie er denn darauf gekommen sei, das zuerst entstandene Werk „Riss 2“ durch zwei weitere zu ergänzen, wollte Christian Fausch wissen. Die Klänge hätten ihm gesagt: wir können mehr, brauchen mehr Raum. „Sie sind viel stärker als ich“, antwortete der Komponist mit einer den thematisierten Grenzerfahrungen angemessenen Scheu.

Die hohe Konzentration des wie ein einziger Organismus zusammenwirkenden Ensembles, die meist extrem leisen Klänge, das feine Sich-Kräuseln in ihrem Verklingen schufen eine Intensität, die die subjektiv empfundene Zeit exponentiell über die linear gemessene hinauswachsen ließ. Im Verhallen von Klängen, die, obwohl rein akustisch erzeugt, wie übernatürliche wirkten, empfand man die Aura des christlichen Heiligtums. Bisweilen ließen regelmäßigen Metren an den Mob denken, der Jesus kreuzigen ließ. Aber all diese Episoden verschwanden wieder in der Stille, aus der sie gekommen waren, wie Visionen.

Das dreiteilige Werk wurde vom Ensemble Modern zuvor für eine CD-Produktion eingespielt und wird am 13.06.2019 ab 20.04 auf hr2-kultur gesendet.

DORIS KÖSTERKE