Magdalena Fuchsberger und das Chthuluzän

DARMSTADT. Herzblut und Spielfreude prägen die Wiederbelebung der barocken Musik von Christoph Graupner in „La costanza vince l’inganno“ (Die Beständigkeit besiegt den Betrug, 1715)in der Inszenierung von Magdalena Fuchsberger am Staatstheater Darmstadt. Die Premiere fand im Rokoko-Ambiente des Heckentheaters im Prinz-Georg-Garten statt. Dank Tonmeister Christoph Kirschfink war die Akustik erstaunlich gut.

Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt hatte in Hamburg eine Oper von Christoph Graupner gehört und den Komponisten 1709 an seinen Hof verpflichtet. Graupner (1683-1760) hätte zwischenzeitlich auch Thomaskantor in Leipzig werden können, blieb jedoch bis zu seinem Tod in Darmstadt und schrieb dort unter vielem anderen seine Pastorale „La costanza vince l’inganno“ (1715). Die Inszenierung von Magdalena Fuchsberger degradiert das barocke Zeittotschlags-Libretto (ein Verwirrspiel darum, wer wen liebt, zu lieben vorgibt oder zu lieben bestreitet) zur Trägerfolie für die Musik und fügt reichlich Gedankenfutter in Form gesprochener Texte ein. Etwa von Donna Haraway, Jacopo Sannazaro, Anne Sexton, Rosa Braidotti, Rosa Luxemburg, Ana Mendieta oder Wytske Versteeg, verbunden mit der expliziten Ermunterung vom Dramaturgen Carsten Jenß, sich schlau zu machen, wenn man nicht weiß, wer das jeweils ist: Die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway etwa plädiert dafür, dass wir selbstkritisch und unermüdlich von den uns umgebenden nichtmenschlichen Wesen lernen sollten, wie wir auf konstruktive Art miteinander umgehen können, um gemeinsam zu überleben. Chthuluzän nennt sie ihr Ideal, das sie Anthropozän und Kapitalozän gegenüberstellt als einen Zeitort fortdauernden verantwortungsvollen Lernens. Dieser Tenor passte hervorragend zum Motto „Komm ins Offene“, mit dem das Staatstheater Darmstadt dazu inspirieren will, Konventionelles zu hinterfragen und gegebenenfalls über Bord zu werfen.

Etwa die Sehnsucht nach dem Himmel auf Erden: Im Sprechtheater-Vorspiel zu Graupners Pastorale lädt Landgraf Ernst Ludwig, alias Meleagro, alias Tirsis (David Pichlmaier) eine handverlesene Schar von Gefolgsleuten in die ländliche Idylle ein, um erkennen zu müssen, dass er mit ihnen auch die verhassten Strukturen in sein Arkadien importiert: seine eigene Selbstverliebtheit, der seine Partnerin Atlanta, alias Cloris (Cathrin Lange) als Dekoration nicht recht genügt, zumal sie weniger in ihn verliebt scheint, als in den materiellen Status, den er ihr verschafft. Die sonderliche Silvia (Jana Baumeister) hängt ihr Herz eher an Kohlmeisen und wird dafür zugleich von der wertkonservativen Aminta (Lena Sutor-Wernich) und dem treuen Alindo (Michael Pegher) geliebt.

Allerhöchstes Lob verdienen Alessandro Quarta und die von ihm geleiteten Musiker des Staatsorchesters. Sie brachten diese Musik zum Atmen, mal in schwelgenden langen Zügen, mal geradezu japsend eine übergeordnete Spannung aufbauend schufen sie ein irdisches Stück Himmel,  zusammen mit den strahlend timbrierten Sopranstimmen von Jana Baumeister und Cathrin Lange. Und von Michael Pegher, der verschmitzt in den Klang der Instrumente lauschte, um seinen Stimmklang darin einzuweben.

DORIS KÖSTERKE
17.6.2021

 

Aus Bach mach neu: Wolfgang Katschner

 

FRANKFURT. Viele Musiker haben sich im Corona-Lockdown wie lebendig begraben gefühlt. Ihre „Auferstehung“ sollte auch bei den Frankfurter Bachkonzerten gefeiert werden. Dafür wollte Wolfgang Katschner den Weg aus dem Dunkel ans Licht mit Werken von Bach nachzeichnen, aber zur Sommerzeit nicht etwa mit dessen Osterkantaten. Also machte er etwas, was Johann Sebastian Bach auch häufig selbst getan hat: er „recycelte“ bestehende Kompositionen und stellte aus den mehr als zweihundert Kantaten von Johann Sebastian Bach zwei neue zusammen. Die hat er jüngst mit seiner Lautten Compagney Berlin, dem Gesangsensemble Capella Angelica und der Sopranistin Dorothee Mields im Großen Saal der Alten Oper aufgeführt.

Beide Pasticcio-Kantaten waren ein jeweils achtteiliger Wechsel zwischen kammermusikalischen Besetzungen und solchen mit Streichern, Holzbläsern, Pauken und Trompeten. Die erste dieser Konglomerate aus Rezitativen und Arien war „Mein Herze gläubt und liebt“ überschrieben, nach der eingebauten Arie aus der Kantate 75. Zur Einleitung erklang der langsame Zweite Satz aus dem ersten der Brandenburgischen Konzerte. Leider degradierte die Größe des Raumes die Lauten zur Rhythmusgruppe. In anfänglichen, bald aufgefangenen Koordinationsschwierigkeiten und im allgemein eher angestrengt wirkenden Gestus meinte man den Musikern die Nachwirkungen der langen Einzelhaft-Situation in der Übezelle anzumerken. Dennoch ließen sie die lokomotivenstarke Energetik unter der elegischen Oberfläche spüren. Das folgende Rezitativ „Mein Gott, wie lang, ach lange“ aus der gleichnamigen Kantate 155 ist ein Beispiel, wie tief vertraut Bach mit dem Leiden eines Menschen war, der an seinem Kranksein verzweifelt. Dorothee Mields gelang die ideale Balance zwischen dem Einfühlen und Ausgestalten und zugleich dem Überformen der Verzweiflung in musikalischer Schönheit. Dass man in Bachs Musik immer beides spürt, die Schattenseiten und die Kraft, die darüber hinwegträgt, bleibt auch dann ein Faszinosum, wenn man die pietistischen Texte als schwer verdaulich überhört.

Dramturgie mit langer und intensiver Nachwirkung

Seine erste Kantate ließ Katschner mit dem Choral „Singet dem Herrn ein neues Lied“ (aus BWV 190) ausklingen. Die vier Gesangssolisten der Capella Angelica ersetzten den Chor, die letzte Strophe sang Dorothee Mields allein: Rückzug in eine schlichte, aufrichtige Religiosität, mit dem Bach wohl jedes seiner großen Werke beschließt. Nach der Zweiten Kantate „Ein neues Lied wir heben an“ wurde die Demutsgeste in der Zugabe noch einmal aufgegriffen und gesteigert: der gleiche Choral ohne Pauken und Trompeten, über zartester Streicherbegleitung. Aus dieser Dramaturgie gewann der Abend seine lange und intensive Nachwirkung.

DORIS KÖSTERKE
20.06.2021

Dem Ensemble Modern von Manfred Stahnke

 

 

Mit einer offenen Frage schließt das Stück ›em 40‹, das Manfred Stahnke dem Ensemble Modern zum vierzigsten Geburtstag gewidmet hat. Den Ernst dieses Statements zu diesen Zeiten unterstrich die Stellung der Uraufführung: ›em 40‹ war das erste Werk, das der basisdemokratisch organisierte Klangkörper in diesem Jahr öffentlich erklingen ließ.

Ensemble Modern On Air

Das Konzert fand ohne Publikum im Dachsaal der Deutschen Ensemble Akademie statt. Den Livestream kann das Ensemble allein aus wirtschaftlicher Not nicht mehr, wie zuvor, unentgeltlich anbieten. Immerhin gibt es ein solidarisches Preissystem von einem „Einsteigerpreis“ von fünf, bis zu einem „Unterstützerpreis“ von dreißig Euro. Dass das Online-Ticket-Unternehmen eine zusätzliche Service-Gebühr erhebt, erscheint in diesem Zusammenhang als bitterer Hohn auf die Wertschätzung künstlerischer Arbeit.

Knisternde Konzentration

Die künstlerische Leistung war, wie eigentlich immer beim Ensemble Modern, enorm. Ein Blick in die Gesichter verriet die knisternde Konzentration in diesem latenten Flötenkonzert. Der Part des Flötisten Dietmar Wiesner, letztes noch aktives Gründungsmitglied, ist so vollmundig-virtuos, wie dieses weltweit gefragte Ensemble für Neue Musik. Die Rolle des Streichquartetts, das ihn umgibt, ist so wortkarg wie ätherisch, dass jede Nuance im Tonfall, jedes Quäntchen mehr oder weniger Lautstärke an Bedeutung gewinnt. Die Dosierung scheint unter der Leitung von Silvain Cambreling genau abgestimmt, aber auch gefährdet zu sein.

„Ebe und Anders“ von Pierluigi Billone

Warum Pierluigi Billone sein Stück für 7 Instrumente (2014) „Ebe und Anders“ nannte, bleibt der Fantasie des Fragenden überlassen. Die herausgehobenen Rollen von Trompeter Sava Stoianov und Posaunist Uwe Dierksen legten nahe, dass der Titel auf Andreas Eberle (Posaune) und Anders Nyqvist (Trompete) anspielt, Kollegen im Klangforum Wien, dem diese Reise durch ungewöhnliche Klangwelten gewidmet ist. Die Menschen an den Kameras gaben sich alle Mühe, dieses Erkunden durch Nahaufnahmen noch anschaulicher zu machen: In einem Konzert hätte man das leise Klopfen auf den Wirbelkasten der E-Gitarre (Christopher Brandt) möglicherweise ebenso wenig wahrgenommen wie das durch leichte Schläge auf das Brustbein hervorgerufene Trompeten-Vibrato oder die Ausdruckstanz-ähnliche Choreographie des Posaunen-Dämpfers. Manches erinnerte an emotionale Äußerungen in einer unbekannten Fremdsprache, Tonfälle, die man irgendwie „versteht“.

„REMIX“ von Georg Friedrich Haas

Georg Friedrich Haas nannte sein Stück „REMIX“, weil er darin eigentlich nur Elemente aus früheren Werken in einen neuen Zusammenhang stellen wollte. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht betrat er dennoch Neuland in Form einer Dichte, die zu einer eigenen Qualität wurde. In Haas Worten: „Der musikalische Sinn entsteht dabei nicht aus den einzelnen Tönen und Klängen (er entsteht auch nicht aus den Ereignissen in den einzelnen Stimmen), sondern er entsteht nur aus dem Gesamtklang“. Die Musikerinnen und Musiker, darunter auch der Komponist und Oboist Tamon Yashima, der 2019/20 Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie war, handhabten die virtuosen Anforderungen entspannt. Man spürte ihre gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber dem entstehenden Ganzen, einem im Wortsinne „Heiligen“.

DORIS KÖSTERKE
26.1.2021

 

Happy New Ears für Unsuk Chin

„Unüberheblicher Witz“ – damit hatte Moderatorin Kerstin Schüssler-Bach ungemein treffend beschrieben, was Unsuk Chin versprüht. Der 1961 in Korea geborenen Komponistin war das jüngste Werkstattkonzert Happy New Ears des Ensemble Modern gewidmet, das als Lifestream aus dem Dachsaal der Deutschen Ensemble Akademie übertragen wurde. Unsuk Chin war dazu aus Rom zugeschaltet, wo sie derzeit als Stipendiatin in der Villa Massimo weilt. In der Nahaufnahme sah man ihre meist verschmitzt verengten Augen. Und wenn sie sie, selten, ein wenig öffnete, den Schalk darin blitzen.

Den gleichen Eindruck vermittelte ihre Musik. …weiterlesen

Happy New Ears für Claude Vivier

FRANKFURT. Einsamer Waisenjunge mit Herz für Kirche und Clochards startet internationale Karriere als Komponist und wird im Alter von 34 Jahren von einem Strichjungen ermordet. So könnte man das Leben des Kanadiers Claude Vivier (1948-1983) zusammenfassen. Ihm widmete das Ensemble Modern sein jüngstes Werkstattkonzert Happy New Ears, das unter Corona-konformen Bedingungen im Großen Saal der Musikhochschule stattfand. Im Mittelpunkt stand die knapp halbstündige, von Dantes Göttlicher Komödie inspirierte Komposition Lettura di Dante (1974) für Kammerensemble und Sopran. Solistin war Sarah Maria Sun, die mit wandlungsfähigem Schönklang von voller Körperlichkeit zum Laserstrahl, von Fata-Morgana-ähnlichen Vibrato zum Seidenfaden ebenso begeisterte, wie Dirk Kaftan als Dirigent.

Herz im Schuh

Der Musikwissenschaftler Stefan Drees fand anschauliche Worte für die Besonderheit der Komposition: Als Schüler von Karlheinz Stockhausen hatte Claude Vivier dessen Komposition „Mantra“ analysieren müssen, die konsequent aus einer zugrunde gelegten musikalischen „Formel“ abgeleitet ist. Nach ungefähr diesem Vorbild hat Vivier auch Lettura di Dante aus einer Keimzelle entwickelt, einer Melodie, die Vivier nach eigenen Angaben den ganzen Tag über vor sich hinsang, bis sie aus sich heraus Form gewann. Beim Blick auf das Notenbild dieser Melodie staunte man über die minimalistische Faktur: Manche Elemente scheinen aus einem folkloristischen Jodeln destilliert. Im Zentrum steht ein langer hoher Liegeton, dem nach einer Pause, einen Halbton tiefer, ein zweiter folgt: Abstrakter geht es nicht. Aber so, wie Sarah Maria Sun das sang, zog es einem die Schuhe aus. Weil das Herz hineingerutscht war.

Rituale und ironische Distanz

Mehrdimensional aufgefächert wie die zugrundeliegende Melodie ist auch die Sprache: der italienische Text ist manchmal klar verständlich, meist jedoch auf Vokalfarben reduziert, mal durch eine Fantasiesprache, durch Morsezeichen und Gebärdensprache erweitert.
Vieles erinnert an spirituelle Rituale. Aber die erfahren gleichzeitig eine ironische Distanzierung. Etwa, wenn man nach einem wiederholten Klangholz-Signal eine dritte Wiederkehr erwartet, die jedoch so lange auf sich warten lässt, dass man unwillkürlich lacht, wenn sie doch noch eintritt. Oder wenn die Sopranistin die (bei Dante so nicht genannte) Quintessenz, „ho visto dio“, ich habe Gott gesehen, nicht drei oder sieben oder zwölf, sondern dreizehn Mal wiederholt.

Schönheit

Viviers instrumentale Klangsprache birgt ungewöhnliche, aus erweiterten Spieltechniken zusammengesetzte Klänge. Das Ensemble spürte sensibel ihrer Schönheit nach.

DORIS KÖSTERKE
16.10.2020

Barocknacht 2020 im Corona-Modus

Kaum bekanntgegeben, war sie schon ausverkauft, die Barocknacht 2020 am Institut für historische Interpretationspraxis (HIP) an der Frankfurter Musikhochschule (HfMDK). In früheren Sommern bestand sie aus vielen kleinen parallelen Konzerten. Über den Nachmittag und den früheren Abend hinweg stellten sich darin die einzelnen Musikerinnen und Musiker vor, die dann in einer großen, oft bis nach Mitternacht währenden Opernaufführung vereint waren. Das Programm tourte durch Burgen und Schlösser des Rhein-Main-Gebiets, die ihm einen jeweils spezifischen atmosphärischen und kulinarischen Rahmen gaben. Freunde und Verwandte reisten an, um ihre persönlichen Hoffnungsträger auf den Bühnen zu erleben. Die gehobene Stimmung aus Wiedersehens- und Gaumenfreuden stand über Nervosität und Perfektion.

Corona prägt die Barocknacht 2020

In diesem Jahr war der Event auf drei Konzerte in der Musikhochschule kondensiert, zwischen denen man sich entscheiden musste. Wer keine der sehr raren Karten mehr bekommen hatte, konnte die Konzerte im Livestream verfolgen. Eine Pressekarte war nur noch für den späten Abend zu bekommen. Man betrat den Kleinen Saal mit den stark ausgedünnten Sitzreihen und suchte sich einen nicht in Dunkelgrün oder Violett überklebten Platz im Bewusstsein, an etwas ganz Besonderem teilzuhaben.

Erbarmungslos anspruchsvoll

Statt großer Oper gab es kleine, erbarmungslos anspruchsvolle Kammermusikformationen, beginnend mit der Sonate VI für zwei Celli aus dem Livre II (1735, Paris) von Jean Baptiste Barriere (1707-1747). Barrier war ein Virtuose, der wohl primär zur cellistischen Selbstdarstellung komponierte. Die Rollen waren sehr ungleich verteilt: Felicitas Weissert leistete die offensichtliche virtuose Schwerstarbeit. Souverän bespielte sie das Griffbrett in den Lagen, für die man weit über den Corpus hinweggreifen muss: Selbst versierte Barockcellisten, die es unendlich lieben, ihr Instrument innig mit den Beinen zu fixieren, wünschen sich für solche Passagen einen stabilisierenden Stachel. Aber Felicitas Weissert meisterte das ohne sichtliche Schwierigkeiten. Ihr gegenüber hatte Ena Markert für exakte Grundierungen und Akzente zu sorgen – keine triviale Aufgabe, besonders in Hochgeschwindigkeits-Springbogenpassagen.

Redlich, neckisch, fesselnd

In der „Clavier-Übung“ von Vincent Lübeck bemühte Kadra Dreizehnter sich redlich, den sich jeweils aus Arpeggien-Schauern herausschälenden Themen einen emotionalen Sinn zu geben. In Telemanns Kanonischer Sonate Nr. 1, op. 5, TWV 40 zeigte Blockflötistin Sonja Radzun viele technische Finessen, während Marlene Crone auf der Barockvioline durch exakte Intonation und neckisches Spiel für sich einnahm. Mit sicherer Technik, reicher Agogik und fesselnder Bühnenpräsenz bestach Maria Carolina Pardo Reyes in drei Sätzen aus Bachs Erster Cellosuite. In der Sonata a 2 in c-Moll für Oboe und Fagott von Johann David Heinichen (1683-1729) überzeugten Christina Hahn (Fagott) und Ortrun Sommerweiß (Cembalo) durchweg mit klangschönen, tragfähig durchgestalteten Spannungsbögen. Oboist Alexandru Nicolescu wirkte so, als habe er sich vor allem auf das abschließende Allegro vorbereitet, das ihm dann auch technisch wie klanglich entsprechend gelang.

Reicher Nachklang

Der Abend beschloss Bachs Flötensonate in g-Moll, BWV 1034 als ein von der Blockflötistin Dongju Seo und Flóra Fábri am Cembalo geschliffenes Juwel. Ein Nachklang ihrer plastischen Phrasierungen, ihrer klangschönen organischen Sanglichkeit und ihrer musikantisch sprühenden Energetik begleitete durch den Rest der Nacht.

DORIS KÖSTERKE
19.07.2020

Haare gelassen: IEMA 19-20 auf Naxos

Haare gelassen

28. Naxos Hallenkonzert

Stipendiaten der IEMA 19-20

 

Live-Musik ist Schwerarbeit. Das Schwerindustrie-Ambiente im Theater Willy Praml in der ehemaligen Naxos-Halle bringt das trefflich zum Ausdruck. Seit Mai 2018 kuratieren Leonhard Dering und Steffen Ahrens die monatlich hier stattfindenden Naxos Hallenkonzerte. Deren jüngstes, das 28., wurde von den aktuellen Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA 19-20) ausgerichtet. Für sie war es das erste Live-Konzert nach zehn von zwölf Monaten ihres Masterstudiengangs an der Frankfurter Musikhochschule. Eigentlich hatten sie, nach einer intensiven Vorbereitungsphase, ab April viele Konzerte im In-und Ausland geben sollen. Manche konnten zu digitalen Projekte umgewandelt werden. Aber was ist ein Livestream gegen die Nähe zu einem engagierten Publikum? Erfreulich viele Abenteuerlustige saßen über die luftige Halle verteilt und lauschten: Fünf Musiker in Seuchenschutzausrüstung schritten aus verschiedenen Ecken der Halle dem Platz unter dem Brückenkran zu, den ein riesiges Emaille-Schild stolz als 1908 bei Krupp in Buckau bei Magdeburg erbaut ausweist. Wie eine Rotte von fünf Sensenmännern tanzten sie über verschieden klingende Untergründe und schlugen mit ihren Stecken meist einen anderen Takt, als mit ihren Absätzen: Eine Aktualisierung des Pas de cinq (1965) von Mauricio Kagel.

Das gekonnte Absatzklappern der Hornistin Ya Chu Yang lenkte die Aufmerksamkeit auf eine Musikergruppe an der hinteren Längsseite der Halle. Die Zuhörer richteten ihren Stuhl oder Sitzkarton neu aus: indem die Stücke auf wechselnden Bühnen stattfanden, wurden die Umbaupausen quasi auf das Publikum delegiert. Outlines (2017) für Flöte, Klarinette, Horn und Live-Elektronik (Klangregie: Lucia Kilger) von Michelle Lou schuf eine dichte, nach innen zielende Atmosphäre mit vielen geräuschnahen und Mehrfachklängen. Die 1975 geborene Komponistin und Kontrabassistin untersucht die Möglichkeiten, wie eine musikalische Form auf ihren Inhalt zurückwirkt. Hier hätte ein genauerer verbaler Wegweiser in Form eines Programmtexts dem Hören ebenso gut getan, wie im folgenden „One Flat Thing, reproduced“ (2010) von Timothy McCormack (1984) für Geige, Oboe (energiereich: Tamon Yashima) und Schlagzeug (an Klangfarbenmelodien erinnernd: Noah Rosen). Timothy McCormack will mit seiner geräuschnahen Musik das physische Verhältnis zwischen einem Interpreten und seinem Instrument zum Ausdruck bringen. Nach der Aufführung hatte der Geigenbogen von Yezu Woo deutlich Haare gelassen.

Selbsterklärend hingegen war „Wege in eine Stimmung“ (2020) des 1989 in Amsterdam geborenen IEMA-Kompositions-Stipendiaten Corné Roos. Bei genauester Intonation schufen Flöte, Klarinette, Horn, Streichquintett (Kontrabass: Jakob Krupp) und Klavier (Tomoki Park) Töne, die im Zusammenklang leichte oder hohe Wellen schlagen, zu stacheligen Monstern anwachsen oder auch zu glatten Flächen ergänzen konnten.

In Vortex temporum von Gerard Grisey (1949-1998) war zu spüren, dass bereits mehrere Generationen von Interpreten einander den Weg gewiesen haben, wie man es realisieren könnte. An diesem Abend waren die „Wirbel der Zeiten“ so rund, wie sie sein müssen, ob im „normalen“ Zeitmaß, oder im gedehnten, in dem Obertonspektren zu Rhythmen werden, oder im extrem komprimierten, in dem man nur noch Farben hört. Großes Kompliment an den Pianisten Thibaut Surugue, an Lina Andonovska (Flöten von Piccolo bis Bassflöte), Leonel Quinta (Klarinette und Bassklarinette), Holly Workman (Violine), Nefeli Galani (Viola), Yi Zhou (Violoncello)! Für den Dirigenten Marc Hajjar auch dafür, dass er in besonders delikaten kammermusikalischen Abschnitten die Akteure ihrem eigenen Zeitgefühl überlassen hat.

DORIS KÖSTERKE

Von Rainer Riehn reduziertes Lied von der Erde

Das Parkett im Wiesbadener Friedrich-von-Thiersch-Saal glich einer Excel-Tabelle mit fünf luftigen Spalten und nicht ganz gefüllten sieben Zeilen. Die 18 Musiker auf der Bühne saßen deutlich dichter beieinander. Corona hin, behördliche Beschränkungen her: Das Hessische Staatsorchester und GMD Patrick Lange hatten beschlossen „WIR spielen“. Die ursprünglich geplante Sechste Symphonie von Gustav Mahler war unter den gegebenen Auflagen nicht durchführbar. Wohl aber die Kammermusik-Fassung von Mahlers „Lied von der Erde“.

Arnold Schönberg hatte vor, das in symphonischen Klangfarben schwelgende Werk auf eine Besetzung zu reduzieren, die für seinen „Verein für musikalische Privataufführungen“ bezahlbar gewesen wäre. Wie zuvor in Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“ skizzierte er in Mahlers Partitur, welche Aufgaben er welchen Instrumenten übertragen wollte. Aber dem Verein waren die Mittel bereits ausgegangen, als Schönberg etwas über die Hälfte des ersten (von sechs) Liedern kondensiert hatte. Rainer Riehn (1941-2015) hat die Arbeit für eine Aufführung mit seinem Ensemble Musica Negativa mehr als sechzig Jahre später zu Ende geführt und im Band 36 der von ihm mit herausgegebenen „Musik-Konzepte“ beschrieben.

Ob die Bearbeitung gelungen ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. In jedem Falle müsste eine Interpretation in kammermusikalischer Besetzung mit ihren reduzierten Mitteln der klanglichen Absicht des Originals nachspüren. Das war hier allenfalls ansatzweise gelungen. Überraschend stimmig, sowohl in der Vorstellung der Bearbeiter, als auch in der Realisation des Abends, war die Imitation des Klangs der beiden Harfen durch zwei Klarinetten (Adrian Krämer, Dörthe Sehrer). Überwiegend gelungen waren die tragenden Rollen von Flöte (Mátyás Bicsák) und Oboe (André van Daalen), von nachwirkender Schönheit die Englischhorn-Partie von Franz-Josef Wahle im letzten Lied. In seinen 37 Jahren Dienstjahren im Staatsorchester hat der 1954 in Köln geborene Oboist dem regionalen Musikleben so manche Sternstunde beschert, an der er wohl selbst die größte Freude hatte. Nach der Wiederholung dieses Konzerts am 2.7. tritt er in den Ruhestand, in dem er hoffentlich noch weiter öffentlich musiziert.

Eigens für dieses Konzert verpflichtet war der Geiger Juraj Cizmarovic. Er erfüllte seinen Part mit großer Hingabe und dem fein aufblühenden Ton seiner Violine von Nicolo Gagliano aus dem Jahr 1761. Doch im ersten Lied wurde er vom Tenor Klaus Florian Vogt überbrüllt, zu Beginn des zweiten von der Oboe übertönt. Erst im letzten Lied ergaben sich beglückende Wechselwirkungen mit den Holzbläsern.

Den Bravo-Hagel nach der Aufführung hatte vor allem der Bariton Michael Volle verdient. Anders als sein Tenor-Kollege schien er Texte und Musik verstanden und verinnerlicht zu haben, die er mit dem angenehmen Timbre seiner in den Höhen lyrisch-tenoralen Stimme berührend vermittelte.

DORIS KÖSTERKE

 

Das Konzert wurde vom Hessischen Rundfunk life gesendet, ein Mitschnitt aufgrund von Mängeln bei der zeitlichen und klanglichen Koordination der Musiker, schon im noch vergleichsweise übersichtlichen Beginn des Werkes, hoffentlich sofort vernichtet.

David Pichlmaier singt Schubert und Eggert

„Es war so befreiend, wieder miteinander zu spielen“, freute sich Manfred Bockschweiger nach dem musikalischen Lockout-Brechen im Serenaden-Konzert „Mit Pauken und Trompeten“ auf der Foyer-Terrasse des Darmstädter Staatstheaters. Beschwingt von Sonnenschein, leichter Brise und Frank Assmann an den Pauken hatte er mit seinen drei Trompeterkollegen aus dem Staatsorchester, Marina Fixle, Tobias Winbeck, und Michael Schmeissler nicht nur klassische Repräsentationsstücke vorgestellt. Sondern auch den Komponisten Willy Brandt. Nicht identisch mit dem 1913 geborenen Politiker mit gleichlautendem Pseudonym war Karl Wilhelm Brandt (1896-1923) als jugendlicher Trompeter nach Russland gegangen und hat, auch unter dem Namen Vassily Georgivich Brandt, die russische Trompeterschule bis heute geprägt. Das erste seiner Ländlichen Bilder für vier Trompeten, „In der Kirche“ beeindruckte durch gekonnte Kontrapunktik, in der sich die Stimmen eng aneinanderschmiegen und dabei doch ihre eigenen Wege gehen: ein spannungsvolles Miteinander mit harmonischen Reibungen. „Wenn Sie uns einmal wieder im Orchester sehen, sehen Sie uns mit anderen Augen“, sagte Manfred Bockschweiger.

David Pichlmaier singt „Neue Dichter lieben“ von Moritz Eggert

Im Großen Haus zelebrierten David Pichlmaier und Jan Croonenbroeck den Liederzyklus „Neue Dichter lieben“ von Moritz Eggert. Vertraute Schubert-Lieder dienten als Aperitif und Digestif und luftige Einlassregeln gaben Gelegenheit, die beiden neu geschaffenen Mittelgänge samt frisch geschreinerten Treppenstufen zu bewundern, durch die die Theaterwerkstätten den Zuschauerraum so ästhetisch wie funktionell den Abstandsgeboten angepasst haben.

Für das Auftragswerk für den Deutschen Pavillon auf der Expo 2000 hat Moritz Eggert über zwanzig Liebesgedichte des 20. Jahrhunderts zusammengetragen. Sie geben sich humorvoll bis sarkastisch: Harte Schalen, unter deren sich die Verletzlichkeit umso anrührender zeigt. Eggert gibt jedem Gedicht eine andere Klangsprache, die den Texten gerecht wird, indem sie sie noch mehr zum Schillern bringt.

Pichlmaier und Croonenbroeck hatten sichtlich Spaß an den oft geräuschnahen Klangwelten und den Elementen der Body-Perkussion, wie das „Plopp“ des aus dem aufgeblasenen Mund schnellenden Daumens.  Besonders eindrucksvoll war die Vertonung von „Sprich Scheherazade“ von Herbert Asmodi, das auch noch einmal als Zugabe erklang: abwechselnd warfen Sänger und Pianist kleine klangliche Mosaiksteine in den rhythmisch-melodischen Fluss.

Seine magnetische Wirkung verdankte der Abend vor allem dem Bariton David Pichlmaier, seinen weit ausladenden Spannungsbögen, seinem sinnlichem Umgang mit den Texten und seiner zwischen Spitzbüberei, Tief- und Hintersinn vexierenden Mimik.

DORIS KÖSTERKE
29.5.2020

 

Heißer Kulturtipp: Am Sonntag, den 14. März 2021 führen David Pichlmaier und Jan Croonenbroek den Zyklus „neue dichter lieben“ von Moritz Eggert in der einzigartigen Atmosphäre von „Otzberg vocal“ auf.

 

Megumi Kasakawa spielt David Fennessy

Gespenstisch: Auf der noch leeren Bühne standen Plexiglas-Schirme vor den Pulten der Bläser. Als Schutz der Mitspieler vor einem Ausstoß von Aerosolen, der nach musikmedizinischen Studien gar nicht zu erwarten ist. Ein Stapel Küchenkrepp wartet auf die Entwässerung des Horns. Kein Zweifel: das Team des Frankfurt LAB hat keine Mühe gescheut, die Spielstätte für das erste Live-Konzert des Ensemble Modern nach zweieinhalb Monaten Isolation Corona-fest zu machen. Das ursprünglich für ein Abonnementkonzert in der Alten Oper geplante Programm hatte man zugunsten von personell reduzierten Stücken geändert, auf eine Stunde kondensiert und, um unter den Abstandsgeboten keinen Hörwilligen ausschließen zu müssen, dreimal hintereinander gespielt.

Was für eine Leistung der Musiker! Und welches Fest, sie wieder zu erleben, wie sie über das präzis koordinierende und herausfordernde Dirigat von David Niemann hinaus aufeinander hörten, mit ihren Blicken den engen Bezug zu dem jeweiligen Kollegen unterstreichend, dessen Impuls sie weiterführten, in dessen Klang sie sich einschmiegten, um ihn umzufärben.

Die Deutsche Erstaufführung von Baca II (2019) von Nina Šenk bestach durch ihre klare Materialordnung: In allen, teils dramatischen Entwicklungen meinte man das Ausgangsgangsmaterial „PunktPunktPunkt – großes Amalgam – hinausweisende Linie“ wiederzuerkennen. Die Komponistin hat es analog zum Fertigen einer Glasperle (Baca) im Zusammentragen verschiedener Erden, dem Verschmelzen und dem sorgsamen Abkühlen gewählt. Im Bild der Glasperle sieht Šenk die Dualität aus Zerbrechlichkeit und Stärke gespiegelt, die sie ausdrücklich auf die Position von Frauen in der Gesellschaft bezieht.

“The double mingles of elements” (2017/2018) von Klaus Ospald glich einem Kaleidoskop sorgsam modellierter Klangzu­stände, die sich mitunter wie schwüle dicke Luft im Raum zusammenballten und von echauffierten Soli zerrissen wurden. Eindrucksvoll gebot Dirigent David Nieman ein stilles Lauschen, bis ein in den Flügelsaiten (Kult: Hermann Kretzschmar) nachhallender Klarinettenaufschrei (mit vollem Einsatz: Jaan Bossier) verklungen war.. Das wäre ein hintersinniger Schluss gewesen. Aber das Stück ging noch etwa zwei Drittel so lang weiter. Immerhin mit plastischen Klangbildern, die man etwa als Aufprall mit Stoßwelle samt Staubwolke interpretieren konnte.

Seine Deutsche Erstaufführung erlebte das Bratschenkonzert „Hauptstimme“ (2013) von David Fennessy mit Megumi Kasakawa als unerschrockener, auch szenisch ansprechend agierender Solistin. Viele seiner jüngsten Werke, schrieb Fennessy im Programmtext, „konzentrieren sich auf das Konzept des Individuums und darauf, was es zu einer Gruppe beitragen kann“.

Das Stück begann wie ein vom Schlagzeug (Rainer Römer) eingeheizter Groove. Zum Draufsetzen, aber ohne Wohlfühlfaktor. Mehr und mehr „Aussteigern“ lassen die ruhig agierende Solistin im Dialog mit dem nach wie vor einpeitschenden Schlagzeug zurück. Schließlich schweigt auch das Schlagzeug. Die Solistin spielt ruhige Arpeggien, die zunächst unspektakulär wirken. Doch mehr und mehr hört man sich in ihre wohltuende Sonorität ein und erkennt wieder, was der 1976 geborene Ire 2007 sagte, als er Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie war: Er stelle sich in jedem seiner Stücke vor, wie es sich anfühlt, es zu spielen. Sein Ziel: etwas hervorrufen, das er, in Abgrenzung zu einer äußeren Virtuosität, als mentale Virtuosität, als Intensität beschreibt. – Durch die Brille der Corona-Erfahrungen betrachtet eine neue, zuvor unterschätzte Qualität.

Zum Abschluss konterte Megumi Kasakawa den Fußtrittgruß des Dirigenten, der derzeit Küsschen und Knuddeln ersetzen muss, präzis koordiniert auf filigranen High Heels.

DORIS KÖSTERKE
24.5.2020

http://www.sokratia.de/innere-virtuositaet-bei-david-fennessy/