An den Haaren herbeigezogen

 

„Je öfter man es spielt, umso mehr liebt man es“, plauderte Patrick Lange über Arnold Schönbergs Pelleas und Melisande, unmittelbar bevor er diese dicht gezwirnte Symphonische Dichtung im Sinfoniekonzert „WIR8“ des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden im Friedrich-von-Thiersch-Saal dirigierte. Seine Einführung im Rahmen des Konzerts machte Sinn. Die rasende Liebesszene zwischen Pelleas und Melisande ist für jeden unmittelbar verständlich. Aber auf das kompositorische Überlagern der ganz verschiedenen Seelenzustände der drei Protagonisten muss man vorbereitet sein. Sonst hört man nur ein scheinbar amorphes Klanggewirr. Wie der Kritiker der Uraufführung, der vorschlug, Schönberg unter Entzug von Notenpapier in eine Irrenanstalt zu sperren. Wer sich im Vorfeld mit dem Werk beschäftigt und in den Leitmotiven Schönbergs expressionistische Kraft bewundert hatte, etwa in der aus einem kriechenden Halbtonschritt aufbrausenden kleinen None im Eifersuchts-Motiv des Golaud, erlebte die vom opulent besetzten Orchester gelieferten Klangbeispielen als inneres Vorglühen. Etwa für die in Klang gemalte Szene, in der Melisande, Gattin des edlen Golaud, dessen hoch attraktiven jüngeren Bruder Pelleas buchstäblich an den Haaren herbeizieht.

Im Eingangsgespräch zwischen Dramaturgin Katja Leclerc, Museumskurator Peter Forster und Patrick Lange, das dieses Konzert als Auftakt zum Jugendstiljahr zur Feier der Schenkung Nees an das Wiesbadener Museum verorten wollte, wurden die rankenden Linien als typische Jugendstil-Merkmale herausgestellt, wobei der Begriff „Jugendstil“ eine eher zeitlich als inhaltlich definierte gärende Epoche voll innerer Widersprüche umschreibt.

Zum Einspielen hatten Wagners Tristan-Vorspiel (1856-59) (mit perfekt proportionierten Pausen im atemberaubend gelungenen Beginn) und Franz Schrekers »Nachtstück« gedient, eine auch klanglich schonungslose Selbstbefragung in Gestalt des Komponisten Fritz, der sich am Ende seines Lebens eingesteht, dass er den „Fernen Klang“ nur in Anwesenheit jener Geliebten hört, die er verlassen hat, um diesen Klang zu suchen, scheint tatsächlich „typisch Jugendstil“, während Schönbergs Sujet der mit dem Tod zu bezahlenden Liebe jener Romantik verhaftet bleibt, über die seine Musiksprache hinausweist. Selbst der ihm wohlgesonnene Alexander von Zemlinsky hatte die adäquate Aufführbarkeit des komplexen, polyphon durchwucherten Werks bezweifelt. Wenn man dies bedenkt, ahnt man, wie viel klangliche Detailarbeit hinter dieser Aufführung, einem Fest der gefährdeten musikalischen Hochkultur, gestanden hat. Großer verdienter Sonderapplaus für alle tragenden Solisten des Orchesters.

DORIS KÖSTERKE