Yulianna Avdeeva spielt Wanderer-Fantasie

Äußerst zart schälte Yulianna Avdeeva den Anfang aus der Stille. So organisch wie eine wachsende Pflanze gewann ihr Klang an Substanz und spätestens gegen Ende der zweiten von Chopins Drei Mazurken op.59, mit denen sie ihre Klavier Soirée bei den Burghofspielen im Rheingau im Christian-Zais-Saal im Wiesbadener Kurhaus begann, spürte man die enorme Kraft und Energie der zierlichen, 1985 in Moskau geborenen Pianistin, die 2010 den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen hat. Seit der Gründung des Wettbewerbs im Jahr 1927 ist der erste Preis nur vier Mal an eine Frau gegangen. Die letzte vor der Avdeeva war Martha Argerich, 1965. Dass ein solches qualitatives Schwergewicht regelmäßiger Gast der „Burghofspiele im Rheingau“ ist, spricht für diesen kleinen aber feinen Familienbetrieb: Das Repertoire, das hier gepflegt wird, ist retrospektiv. Aber die Auswahl der Künstler bemerkenswert.

Die Vorbehaltlosigkeit, mit der Yulianna Avdeeva Chopins Dritte Sonate Nr. 3 h-Moll op. 58 anging, erinnerte den Ausspruch von Robert Schumann, „Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen“. Von Schumann schlossen sich die Fantasiestücke op. 12 an, ein hier voll ausgeloteter Mikrokosmos an virtuosen Klangmalereien und klanglich ausgedünnten, mit umso mehr Emotionen aufgeladenen Momenten. Hauptwerk im von der Pianistin selbst zusammengestellten, nach gemessener Zeit überlangen, aber keineswegs so empfundenen Programm war die Wanderer Fantasie C-Dur op. 15 D760 von Franz Schubert. Nach dem Konzert erzählte die Künstlerin in informeller Runde im Foyer: „Mein Vater hatte eine Schallplattenaufnahme von dem Stück. Die habe ich schon geliebt, als ich noch ganz klein war. Spätestens als Sechsjährige habe ich den Entschluss gefasst: die will ich auch mal spielen!“.

Wieviel Drill hinter ihrer Technik steckt, möchte man lieber nicht wissen. Über die Technik hinaus überzeugt, dass sie den Notentext gründlich durchdrungen hat. Wenn das nicht der Fall ist, hört man einem Musiker zu und möchte ihn dabei immer wieder verbessern. Wenn diese inneren Einsprüche im Hörer ausbleiben, steckt beim Musiker ungeahnt viel Arbeit dahinter: etwa das klangliche Unterscheiden von Substanz und Beiwerk, oder das farbliche Ausgestalten der innere Dialoge. Bei der Avdeeva beeindruckt auch ihr Denken in großen Bögen, über die sie die Dramaturgie der Stücke so einsichtig strukturiert, wie ein bei aller Komplexität noch übersichtliches Raum-Zeit-Diagramm. Dass sie das Ganze auch mit Emotionen füllt, die sich unwillkürlich übertragen, kommt noch hinzu: „Ich spiele so, wie mein Wissen mein Gefühl erweitert“, sagte sie einmal.

Die Rausschmeißer-Zugabe war das Dritte von Schuberts Moments musicaux.

DORIS KÖSTERKE
31.07.2019