Khatia Buniatishvili, Zirkuspferd und Priesterin

Ihre Spannungsbögen zielten ins Unendliche. Khatia Buniatishvili schien sie mit dem gesamten Körper zu halten, während sie mit enormer Präzision allein ihre Finger spielen ließ.

Khatia Buniatishvili als Priesterin

Sie eröffnete ihren Klavierabend im Großen Saal der Alten Oper mit Schuberts Letzter Klaviersonate, D 960. Deren „Todestriller“ war in ihrer Interpretation kein überraschender „Störenfried“. Man ahnte ihn bereits in der Färbung der ersten Takte. Im Folgenden wurde er zum Symbol für etwas, mit dem man leben muss – und kann. Etwas, das die Entwicklung sogar maßgeblich bereichert. Das darum jedoch nicht weniger schmerzt: Khatia Buniatishvili legte den Nerv schonungslos offen, führte ihre Zuhörer durch rasende Verzweiflung, Nichtwahrhabenwollen, Fliehenwollen, aber ebenso zu unmittelbar spürbarer Lebenskraft. – Die ungewöhnliche Unruhe im Saal mochte mithin darauf zurückzuführen sein, dass mancher die gebotene Intensität nicht aushielt.

Schuberts letzte Klaviersonate

Bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein war Schuberts letzte Klaviersonate kaum beachtet worden. Aus heutiger Sicht wirkt sie modern, weil sie aus der Sonderwelt des Kunstschönen heraus ein Stück Realität in den Blick nimmt. Gleichzeitig zeigt sie, wie man mit Unausweichlichem klarkommt, wie man das Leben und die transzendente Kraft von Melodien und Rhythmen angesichts des Sterben-Müssens umso dankbarer genießt.

Eigenständige Interpretation

Khatia Buniatishvili begeisterte auch durch ihre präzise, reich orchestrierende Klanggestaltung: etwa nadelfein im Diskant und angemessen verstörend in der Basslinie im Trio des Scherzo. Ihre außergewöhnlich starken Temposchwankungen entsprachen dem sich beschleunigenden oder auch stockenden Herzschlag angesichts dessen, was sie miterleben machte. Ganz bewusst soll ihre Interpretation hier nicht mit anderen verglichen werden: sie war restlos in sich schlüssig, erfüllt und überzeugend.

Khatia Buniatishvili als Zirkuspferd

Der zweite Konzertteil war Franz Liszts pianistischer Artistik vorbehalten. In Liszts Schubertlied-Bearbeitungen mochte man im „Ständchen“ über das im säuselnden Echo der Oberstimme auf die führende Unterstimme schmunzeln, in „Gretchen am Spinnrade“ spüren, dass die Pianistin darin mehr sah als einen hormonellen Ausnahmezustand, im leidenschaftlich gespielten „Erlkönig“ überlegen, ob man Marita Richter Recht geben sollte, die in diesem Lied Schuberts Vergewaltigung durch den eignen Vater gespiegelt sah. Doch gerade die programmatische Nähe von Liszts Transcendental Étude Nr. 4 d-Moll über die Todesängste des „Mazeppa“ zur eingangs gespielten Schubert-Sonate machte die äußerlich-theatralische Herangehensweise Liszts bewusst. Der erstaunlich begeisterte Beifall, auch nach der abschließenden Ungarischen Rhapsodie Nr. 6, schien allein der Virtuosität zu gelten.

Die erste Zugabe war Buniatishvilis eigene Überarbeitung der Klavierfassung, die Horrowitz von Liszts Zweiter Rhapsodie erstellt hatte. Die zweite führte mit dem Impromptu Nr. 3 zu Schubert zurück.

DORIS KÖSTERKE