»Multiversum« von Peter Eötvös

 

Beobachten außerirdische Wesen höherer Intelligenz unsere täglichen Kämpfe und finden uns drollig? Haben sie vielleicht eine Mutter, die sagt: „beim nächsten Aufräumen muss das stinkende Terra-Terrarium aber endlich verschwinden“? Die Vorstellung, dass es neben unserem Universum noch andere gibt, hat Peter Eötvös zu seiner Komposition »Multiversum« inspiriert.

Weil er im auf drei Jahre hin angelegten Projekt „Eötvös3“ mit dem hr-Sinfonieorchester zu tun hat, das wiederum für diese Spielzeit mit der Frankfurter Bettinaschule zusammenarbeitet, haben sich auch dort Schülerinnen, Schüler und ihr Musiklehrer Markus Desoi klanglich mit dem Thema beschäftigt, eine eigene Gruppenkomposition erarbeitet und sie ganz tüchtig und lampenfieberfest geübt. Die Uraufführung der rund vier Minuten langen Resultate fand im Großen Saal der Alten Oper statt, im gleichen „Jungen Konzert“, in dem Peter Eötvös das hr-Sinfonieorchester dirigierte.

Eötvös dirigiert seins, Bettina-Schüler spielen ihr eigenes Multiversum

Zwei neunte Klassen entsprachen zwei völlig verschiedenen Welten, lyrisch-melodiös die eine, rhythmusbetont die andere. Beide bekamen dafür großes Lob von dem überaus artig auftretenden, 73-jährigen Komponisten.

Der hatte vorher „Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart op. 132“ von Max Reger dirigiert, eine Übersetzung des Mozartschen Idioms ins Bayerisch-Barocke, in dem Reger sich einerseits als Zeitgenosse des melodiös und harmonisch Angeschrägten zeigte. Andererseits – das fanden Jugendliche sofort anschaulich – als jemand, der jeweils unmäßig gefressen, gesoffen und gearbeitet hat.

In Eötvös‘ »Multiversum« war das Orchester in räumlich voneinander getrennte Klanggruppen geteilt: Die Streicher saßen alle auf einem Teil der linken Bühne, die Holzbläser gegenüber. In der hinteren Bühnenmitte flankierten je zwei Hörner und ein Saxophon die Tuba als Zentrum. Den Bühnenhintergrund bildeten vier opulent ausgestattete Schlagzeuger. Das Zentrum der Bühne bildeten zwei Orgeln. Während man die Klänge der Orchestergruppen den Orten zuordnen konnte, an denen die Instrumentalisten saßen, wirkten die Orgelklänge wie ferngesteuerte Wesen: Denn die Klänge, die die wie eine Tänzerin agierende Iveta Apkalna neben dem Dirigenten am Spieltisch der Saalorgel produzierte, erklangen aus dem Prospekt hinter den Schlagzeugern. Was László Fassang vor dem Dirigenten auf der Hammond-Orgel erzeugte, ertönte über Lautsprecher im hinteren Zuschauerraum.

Eötvös‘ Utopie der Welten:
auf Gemeinsamkeiten bauen, Verschiedenheiten spannend finden.

Doch bei alledem schien es, als würden sich diese so verschiedenen Klang-Universen einander keineswegs bekämpfen, sondern, durchpulst von den gleichen Wellenbewegungen, zu ihrer gegenseitigen Bereicherung miteinander Kontakt halten, vielleicht Handel treiben, einander besuchen, zum Essen und zum Feiern einladen, auf Gemeinsamkeiten bauen und die Verschiedenheiten spannend finden.

 

DORIS KÖSTERKE

 

Eine Multimedia-Präsentation des Schüler-Projektes ist auf hr-sinfonieorchester.de zu finden. Video-Livestreams des Konzertes am 8.12., in dem anstelle des Schülerprojektes Mozarts Ouvertüre zur „Entführung aus dem Serail“ und Eötvös‘ „Dialog mit Mozart“ erklangen, gibt es auf hr-sinfonieorchester.de und concert.arte.tv. „Ganz Ohr“ kann man das Konzert unter hr2-kultur.de hören.

Peter Eötvös, „Der goldene Drache“

Wiederaufnahme im Bockenheimer Depot

Nach weltweiten Erfolgen kehrte Peter Eötvös‘ „Der goldene Drache“ an den Ort seiner Uraufführung zurück. Das musikalische Kondensat von Roland Schimmelpfennigs gleichnamigen Theaterstück („Stück des Jahres“ 2010) begeisterte im Rahmen der heim.spiele des Ensemble Modern mit seiner rhythmischen Kraft, seinen Klangmalereien, der präzisen Inszenierung von Elisabeth Stöppler und den Glanzleistungen seiner Darsteller: Mit nadelfein eingefädelter Höhe bezauberte die amerikanische Sopranistin Karen Vuong in der Rolle des jungen Chinesen, der im „China-Vietnam-Thai-Schnellrestaurant Der Goldene Drache“ mörderische Zahnschmerzen bekommt. Keine Papiere – kein Zahnarzt, sondern ein Leiden, das auch den Kollegen auf die Nerven geht. Schließlich muss es schnell gehen in der viel zu kleinen Küche, in der der jammernde Kollege nicht nur im Weg steht, liegt, sitzt, sondern auch noch Körperkontakt haben will.

Der literarischen Vorlage gemäß spielen fast alle Darsteller mehrere Rollen: Hedwig Fassbender mit umgehängtem Dickbauch (Kostüme: Nicola Pleumer!) mal die schwangere Geliebte des Mannes, der das Kind nicht will; dann, mit darüber spannendem karierten Hemd, den Gemüsehändler Hans, bei dem dieser Mann sich besäuft; im engen schwarzem Shirt die Ameise nach Aesops Fabel: Eigentlich will sie die Grille verhungern lassen. Stattdessen nutzt sie sie aus und vermietet sie. Auch an den Vater-wider-Willen, der sie, in Wut über sein Los und vom Alkohol enthemmt übel zurichtet. Ansonsten spielt Fassbender die alte Köchin, die im stressigen Restaurantbetrieb auch noch menschliche Seiten für den leidenden kleinen Chinesen bereithält.

Hans-Jürgen Lazar spielt gekonnt ein altes Ekel, das den faulen Zahn schließlich mit einer Rohrzange ausbricht. In der Enge der Küche landet der Zahn in der Thai-Suppe für eine übermüdete Stewardess.

Unter denen, die bei der Uraufführung noch nicht dabei waren, begeisterte der koreanische Tenor Ingyu Hwang, indem er nicht nur jede seiner Rollen mit Leben füllte, sondern ihnen darüber hinaus ein eigenes, restlos überzeugendes Profil gab. Etwa dem gebrechlichen Alten, der beim Anblick seiner schwangeren Enkelin männliche Gelüste bekommt. Und schließlich der Grille ein Bein ausreißt aus Verbitterung, weil auch sie ihm keine Erfüllung zaubern kann.

Holger Falk mutiert vom brillant gespielten Zyniker zur blonden Stewardess Inga, die den in der Suppe gefundenen Zahn als Teil eines Menschen erkennt und nicht einfach wegschmeißen will. Ihren Ekel überwindend nimmt sie ihn in den Mund und spuckt ihn an der gleichen Stelle von der Brücke in den Fluss, an der das Küchenpersonal zuvor (wenn auch über einem mächtigen, im Orchester pochenden schlechten Gewissen) die Leiche des an der unsachgemäßen Operation verbluteten Kollegen entsorgt haben.

Die Musik, vom Ensemble Modern unter Hartmut Keil voller Lust an klanglichen Experimenten zelebriert, bestimmt wie eine Geheimpolizei den Duktus der Aktionen auf der Bühne, lässt den Fluss der Handlung gefrieren oder mitreißen und sorgt dafür, dass die SozialTragiKomödie nie sentimental, pathetisch oder rechthaberisch-monumental wird: leichtfüßig irisierend zwischen Slapstick, Jazz-, Rapp- und Fernost-Persiflage oder unter die Haut zielender Schlichtheit lässt sie den Zuschauer Position beziehen, ohne dass die Musik ihn emotional in eine vorbestimmte Ecke schwemmt.

Die Oper bricht nur zweimal lyrisch durch: als die blonde Inga im personifizierten Zahn den Menschen erkennt und im Schluss-Monolog des „nach Hause“ reisenden Chinesen.

 

DORIS KÖSTERKE