Happy New Ears für Junges Polen

Frankfurt . Alle vier Stücke junger polnischer Komponisten, die der dänische Komponist Simon Steen-Andersen im Rahmen des Werkstattkonzerts Happy New Ears des Ensemble Modern in Halle 1 des Frankfurt LAB vorstellte, waren thematisch an Außermusikalischem aufgehängt.

Marta Śniady

Werbeversprechen in Verbindung mit schlüsselreizhaft geschminkten Mädchenmündern waren Thema in der Komposition für Ensemble, Video und Audio Playback (2018) von Marta Śniady (*1986). Der Titel, “probably the most beautiful music in the world” war zweifellos ironisch gemeint. Denn die Musik schien das auf der Leinwand Präsentierte eher zu konterkarieren.

Monika Szpyrka

Auch choreographisch durchkomponiert war „collect.consume.repeat“ für vier Darsteller und Audio-Playback von Monika Szpyrka. Darin verbanden sich Feminismus und Kritik an der Wegwerfgesellschaft mit Spott über gewohnheitsmäßige Automatismen: die beiden Perkussionistinnen Yu-Ling Chiu und Špela Mastnak fahren mit ihren Bewegungen auch dann noch weiter fort, als ihre männlichen Kollegen ihnen längst die Instrumente unter den Händen weggetragen hatten.

Rafał Ryterski

“Genderfuck” hat Rafał Ryterski sein Stück für Schlagzeug solo (restlos überzeugend: Rainer Römer) und Video überschrieben. Das Video zeigte eine rasch aufeinandergeschnittene Chorographie von Piktogrammen: Geschlechterklischees, wie ein Kontinuum an hochhackigen Pumps in allen Farben, wechselte mit Kreistänzen der verschiedenen Mischformen aus den Symbolen für männlich und weiblich, mit denen zahlreiche Gruppierungen gegen traditionelle Geschlechterrollen aufbegehren, sowie mit Piktogrammen der Instrumente, die Rainer Römer bediente. Besonders witzig war das der Kickdrum, das sich synchron zu jedem Schlag ausdehnte und zusammenzog.

Paweł Malinowski

Paweł Malinowski erinnerte mit „Robotron” für Ensemble und Sampler an den Computer-Hersteller der ehemaligen DDR, mit dessen Rechnern das Ministerium für Staatssicherheit („Stasi“) die Bevölkerung überwachte. Robotron stellte auch Synthesizer her, aber die taugten nicht viel, wie Malinowski im Kontrastieren historischer Aufnahmen (Klangregie: Norbert Ommer) mit den Live-Klängen des groß besetzten, von Toby Thatcher durchsichtig dirigierten, in vier Klanggruppen im Raum verteilten und  Ensembles vor Ohren führte: Menschen zu überwachen scheint ein Kinderspiel gegenüber dem Schaffen von Musik.

Das Konzert war aus verschiedenen Gründen, darunter Corona, über Jahre hinweg verschoben worden. Mit Ausnahme der von Monika Szpyrka erlebten alle 2018 entstandenen Kompositionen hier, in der Reihe “curtain_call” der International Composer & Conductor Seminars (ICCS) im Rahmen der Nachwuchsarbeit des Ensemble Modern, ihre Deutsche Erstaufführung.

Wie leben wir? Wie wollen wir leben?

Im Gespräch mit Kurator Steen-Andersen und drei der Komponisten lag auch für Moderator Paul Cannon die Frage auf der Hand, warum so viele Polen ausgerechnet zu Steen-Andersen ins dänische Århus kommen. Die Polen seien handwerklich alle sehr gut ausgebildet, sagte Steen-Andersen dazu. Er ermutige sie nur dazu, sich selbst zu sein. Marta Śniady erzählte, sie sei voller Hemmungen nach Århus gekommen und regelrecht aufgetaut, als es dort zunächst einmal gar nicht um Musik gegangen sei, sondern eher um Fragen, wie: Wie leben wir? Wie wollen wir leben? – Die sollten in jeder Kunst gestellt werden, auch in der Musik.

DORIS KÖSTERKE
12.4.2022

Bluegras als Muttersprache: Annesley Black

„Ich oszilliere“, konstatierte Komponist Erik Satie (1866-1925). Sein Oszillieren zwischen sakralem Ernst, bitterer Satire und herzhaftem Quatsch zeigt sich auch in seiner Idee von einer „musique d’ameublement“. Zusammen mit dem Konzept einer Ambient Music von Brian Eno inspirierte sie die Reihe „Music For Hotel Bars“.

Nach einem erfolgreichen Start 2018 in Berlin und Station bei den Donaueschinger Musiktagen 2019 soll die von dem Musikdramaturgen Bastian Zimmermann kuratierte Reihe auch im Rhein-Main-Gebiet Fuß fassen. Der Lockdown macht sie zur Online-Veranstaltung. Und so wurde sie schelmisch umbenannt in „Music For House Bars“: Hausbars sind schließlich nach wie vor geöffnet und scheinen mehr denn je frequentiert zu werden.

Den bevorstehenden dritten Rhein-Main-Event konzipierten Regisseurin Friederike Thielmann und Komponistin Annesley Black. Beide leben und lehren in Frankfurt und sind sich auch konzeptuell recht nahe. Vereinfachend kann man sagen: sie haben Spaß daran, scheinbar Selbstverständliches in Frage und auf den Kopf zu stellen.

In ihrer musikalischen Performance in der Marmion Bar im fünften Stock des Lindley Hotels Frankfurt geht es, durchaus passend zu Einrichtung und Charme der Location, um Bluegras-Musik. Das geht in der Biographie von Annesley Black ein paar Schritte zurück: Bevor die 1979 in Ottawa Geborene Jazz, Elektronische Musik und Komposition studierte, spielte sie Bluegras.

„Bluegras als Muttersprache“ bescheinigt sie auch Joon Laukamp, der für diesen Abend Mandoline und Fiedel spielt. Ihr Mann, der Komponist Robin Hoffmann, wird Gitarre spielen und singen. Hinzu kommt Ensemble-Modern-Kontrabassist Paul Cannon, ein humorgesättigtes musikantisches Urgestein.

Die Musik, die sie zusammen machen, wird Annesley Black mit „Feldaufnahmen“ aus der Marmion Bar zu einer musikalischen Collage verarbeiten. „Wir waren nicht damit zufrieden, einfach ein Video oder Tonstück abzuliefern. Dabei hätten uns das Hier und Jetzt und das Spiel mit dem Ort gefehlt. Wir haben lange nachgedacht und sind auf diese Idee gekommen: ein Tonstück, zu dem wir live performen“, erzählt Black. „Friederike und ich schreiben ein Skript für die Performance, das allen den nötigen Abstand zueinander garantiert und ansonsten möglichst viele Freiheiten lässt. Viel Ironie und Humor werden mit dabei sein“. Mit der notgedrungenen Livestream-Situation gehen sie kreativ um und werden auch kuriose und privateste Orte der Marmion Bar bespielen.

Annesley Black verdankt ihr Ansehen (seit 2018 ist sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin) nicht zuletzt ihrem zeitkritischen Ansatz. Dabei geht sie nicht „mit dem Hammer auf den Kopf“ vor. „Ich sage mir nicht: jetzt muss ich ein Stück über amerikanischen Rassismus machen. Aber das Thema ist einfach da: An diesem Abend spiele ich Banjo. Das wurde zum ersten Mal von weißen Amerikanern auf einer Bühne gespielt, bei den Black Face Minstrel Shows, die sich über die afrikanische Musik lustig machten. Wenn man das weiß, dann ist das einfach ein Teil der Musik, ohne dass man darüber reden muss“.

Wollte sie schon immer mal Musik für Hotel Bars schreiben? – „Die Vorstellung, eine Stimmungs- oder Tapetenmusik zu schreiben, hat mich zuerst überhaupt nicht interessiert. Dann habe ich sehr viel darüber gelesen und den Gedanken von Brian Eno gefunden, dass Ambient Music kein Narrativ hat und eher ein Ort ist, wo man hingeht. Das fand ich sehr inspirierend und habe versucht, das in diesem Projekt hinzukriegen: Klänge als Ort zu erschaffen. Das ist so das eine Thema. Andererseits ist Bluegras keine Musik, die im Hintergrund läuft. Sie ist grell, meist ironisch, mit spezifischem, trockenem Humor“ – ein Gegenthema, das mit dem anderen oszilliert.

Brian Eno grenzt seine Ambient Music ganz entschieden ab gegen eine funktionale Musik, die Menschen dazu bringt, zu funktionieren (in einer Hotelbar etwa die Zufallsbekanntschaft für den, der ihr den Drink spendiert – etwa auf dessen Zimmer). Satie-Expertin Ornella Volta belegt, dass Satie mit seiner musique d’ameublement den Missbrauch von Musik herausstellen wollte. Ein Missbrauch, der mittlerweile ubiquitär ist: in Fabriken, Supermärkten, bei der Nutztierhaltung und in vielen Hotelbars dudelt es Bach und Mozart.

In der Marmion Bar wird es anders sein. „Wir präsentieren keine authentische Bluegras-Musik, sondern treiben das ein bisschen weiter“, sagt Annesley Black. Ein Hochkultur-Konzert gibt es ebenso wenig. Denn „beim Internet Streaming weiß man nie, welche Lautsprecher die Zuhörer zu Hause haben und wie das alles bei ihnen klingen wird. Damit müssen wir klarkommen“, sagt sie weise.

Dank zahlreicher Förderer, darunter der Kulturfonds Frankfurt RheinMain, ist das Angebot kostenfrei. Der Abend wird am Sonntag, den 28.2.2021 ab 20:30 Uhr in die Hausbars übertragen. Eine Kontrolle über das, was dort getrunken wird, erfolgt nicht. Empfohlen wird der Rattlesnake Smash, ein Whiskey Smash mit Wild Turkey 101 Bourbon, Minze, Zitrone, Zitronenschale, Absinth und Zimt. Wie man diese Spezialität der Marmion Bar perfekt zubereitet, wird Barbesitzer Malwin Hillier im Lifestream zeigen. Man darf es jedoch auch halten, wie Annesley Black: „Ich trinke lieber einen guten Wein“.

DORIS KÖSTERKE
5.2.2021

 

Umwelt beobachten, um sich selbst zu verstehen

Komponistin Carola Bauckholt und Lyriker Jan Wagner

beim Werkstattkonzert „Happy New Ears“

 

Im Kies beim Kirschbaum knirscht der Giersch – Jan Wagner. Und allerorts raschelt die Goretexjacke – Carola Bauckholt: Im jüngsten Werkstattkonzert des Ensemble Modern im Holzfoyer der Oper sprach der Lyriker mit der Komponistin über den Klang der Welt. Über die konkreten, wie in den Bewegungen von Tieren, die Carola Bauckholt in ihrer Komposition „Treibstoff“ auf Instrumente übertragen hat. Über die Werkzeugklänge, die ihre vergnüglich aufgeführte Komposition „Schraubdichtung“ für Sprechstimme (Paul Cannon), Cello (Eva Böcker), Kontrafagott (Johannes Schwarz) und Schlagzeug (Rumi Ogawa) inspiriert haben. Über die noch konkreteren, die die Streicher Giorgios Panagiotidis, Megumi Kasakawa, Eva Böcker und Paul Canon im (eigentlich für Schlagquartett geschriebenen) „Hirn und Ei“ ihren Wetterschutz-Jacken entlockten: durch Reiben mit der Hand, Kratzen mit der Scheckkarte, mit Händen in die Taschen das Gewebe in Aufruhr bringend, mit Reißverschluss-Glissandi und humorerfüllter Choreographie, alles nach durchkomponierter Partitur. Auch über die vorgestellten Klänge, wie das mit einem Bein im Wasser laufende Tier im Schlagzeugpart von „Treibstoff“. Und schließlich über die verborgenen, mit denen das oben beschriebene Unkraut seinen „Tyrannentraum“ (Wagner) verwirklicht.

Die Faszination für das ganz alltägliche verbindet die 1959 geborene Komponistin und den 1971 in Hamburg geborenen Lyriker. Wobei sie sich im Gespräche darüber einig waren, dass sie die Umwelt beobachten, um sich selbst zu verstehen. Ihre Komposition „Treibstoff“, sagte Carola Bauckholt, untersuche Fragen, wie: Was treibt uns an? Was lässt uns aufhorchen? Was lässt uns anhalten?

Von früher Jugend an habe sie beobachtet, wie der „Überbau“ bröckelt, wie Visionen, Utopien und Systeme zusammenbrechen. So habe sie den Spaß und die Freude am Konkreten an die Stelle abstrakter Ideale: In ihren Kompositionen geht es kaum dramatisch zu. Eher laden sie ein, genauer auf die Klänge der Welt zu hören, um sich an ihr zu freuen.

Bauckholt nährt ihre Entdeckerfreude besonders im Bereich von tieffrequentigen Geräuschen im fruchtbaren Zusammenwirken mit Musikern, etwa mit dem Schlagquartett Köln, oder dem Thürmchen-Ensemble, das sie zusammen mit Caspar Johannes Walter gegründet hat. Und natürlich im Austausch mit anderen Komponisten: Das Scheibchen Kork, verriet sie, das ein Streicher-Pizzicato klingen lässt wie den Ton einer steel drum, hatte sie von dem Frankfurter (Internisten und) Komponisten Thomas Stiegler übernommen. Aus Freude am Zusammenwirken ermunterte sie ihren Gesprächspartner wieder und wieder, eigene Gedichte vorzulesen: das mit der Qualle, der Seife, vom Giersch. Und schließlich, als gemeinsames Statement, das Zitat von Jean Paul: Humor erniedrige das Große und erhöhe das Kleine im Hinblick auf eine Unendlichkeit, in der „alles gleich und nichts ist“.

DORIS KÖSTERKE

Rebecca Saunders

„Alles, nur nicht das!”, habe er beim ersten Blick in die Noten von Rebecca Saunders‘ ›Fury II‹ gedacht: „So viel Vor-Information zu jedem einzelnen Klang!“. Im Werkstattkonzert ›Happy New Ears‹ des Ensemble Modern im Holzfoyer der Oper Frankfurt spielte Kontrabassist Paul Cannon seinen Part dann so natürlich, als hätte er ihn selbst improvisiert. Eine Riesenleistung des Interpreten, der wiederum die Komponistin lobte: sie kenne sich mit den einzelnen Instrumenten und ihren erweiterten Klang- und Spielmöglichkeiten aus, wie kein anderer.

Genau darauf wollte Enno Poppe hinaus, der als Moderator mit brillantem Einfühlungsvermögen in die Gedankengänge seiner Komponistenkollegin und als enorm präziser, exzellent vorbereiteter Dirigent zum überragenden Erfolg des Abend beitrug: Rebecca Saunders gehört zu den gefragtesten und faszinierendsten ihrer Zunft, weil sie ihr Handwerk versteht. Und (im Gegensatz zu Handwerkern, die den Alltag zur Hölle machen können) minutiös genau wahrnimmt und entsprechend genau plant. Der überwältigende Klangreiz ihrer Musik, die soghafte Intensität, die faszinierenden Binnenstrukturen, etwa im an diesem Abend erklungenen ›dichroic seventeen‹ (1998), sind nicht zuletzt die Früchte überragenden Könnens, das Rebecca Saunders, die im Dezember dieses Jahres fünfzig wird, unter anderem bei Wolfgang Rihm erworben hat.

Hinzu kommen ein vielleicht typisch englischer Mut, die eigene Individualität zu kultivieren, sowie eine große Portion visionärer Intuition. Und Allgemeinbildung. Und natürlich Interpreten wie die des Ensemble Modern, die sich diese sehr spezielle Sprache aufs Sensibelste zu eigen machen. Im von Samuel Beckett inspirierten Stirrings Still I (2006) müssen Altflöte (Dietmar Wiesner), Oboe (Christian Hommel), und Klarinette (Jean Bossier) in sich jeweils zweistimmig spielen. Das geht. Aber nur sehr leise und mit äußerster Konzentration. Und schafft eine entsprechende Atmosphäre bei den Zuhörenden. Im abschließenden ›Fury II‹ wollte Saunders, wie sie es im Gespräch mit Enno Poppe nannte, einem kontrabassistischen Energieausbruch Resonanz in anderen Instrumenten verschaffen. Man staunte über die Genauigkeit, mit der sie die geräuschhaften Begleiterscheinungen der mächtigen körperlichen Präsenz des Kontrabasses (mit noch weiter heruntergestimmter fünfter Saite!) analysiert, für Bassklarinette, Cello, Akkordeon, Klavier und Schlagzeug imitierbar aufbereitet und damit noch komponiert hatte.

Danke für diesen wertvollen Abend!

DORIS KÖSTERKE
1.3.2017