Osthang – Ein Theatererlebnis mit Tiefenwirkung

DARMSTADT. Auf Waldboden gehend lauscht man den Klängen im „Osthang“: Über Monate hinweg hat Komponist Arne Gieshoff die Geräusche in dem kleinen Waldstück an der Mathildenhöhe aufgenommen: Wind, Vögel, knackende Äste, Schritte von Tieren und von Menschen im Schnee, im Nassen, auf trockenem Boden. Alle Klänge, die man auf diesem von Staatstheater Darmstadt in Auftrag gegebenen und realisierten „musiktheatralen Spaziergang“ hört, der jüngst Premiere hatte, sind aus diesen Feldaufnahmen abgeleitet. Gieshoff hat sie digital „unter die Lupe genommen“ und Aktionen für Sänger und Musiker daraus entwickelt. Die Klänge kommen zum Teil aus Lautsprechern, die über den gesamten Wald verteilt sind. Zum Teil werden sie während der Aufführung erzeugt. Man geht umher wie ein Flaneur, der ziellos mal das eine und das andere auf sich wirken lässt, wobei digital vermitteltes und analoges oft nicht zu unterscheiden sind: Mal sucht man vergeblich nach der gehörten Vogelschar, mal entdeckt man, dass die feinen Klänge aus dem Gebüsch kommen, in dem sich ein Kontrabassist versteckt. Die beteiligten Sänger können sich ihre Aktionen aus einem vom Komponisten erstellten Katalog auswählen. Sie singen nur selten. Mit der zelebrierten Neugier eines Forschers hält Tenor Michael Pegher das Mikrophon an Blätter und Gräser und Bariton David Pichlmaier macht die Rinde eines Baumes zum feinsinnigen Perkussionsinstrument. Zu allen Jahreszeiten, in denen das Projekt gereift ist, hat Fabio Stoll 360°-Videos vom Osthang gedreht. Über einen QR-Code kann man sie mit dem eigenen Smartphone aufrufen, um seine eigene Wahrnehmung im Sinne einer „augmented reality“ zu erweitern. Eins zeigt Kammersängerin Katrin Gerstenberger, wie sie mit einer Schildkröte in diesem Waldstück spazieren geht – eine Anspielung auf Walter Benjamins Bemerkung im „Passagenwerk“, Flaneure hätten sich zeitweilig ihr Gehtempo von einer von einer ausgeführten Schildkröte bestimmen lassen.

Die vom Komponisten angestrebte Entschleunigung, die die vielen Schichten des Augenblicks bewusst macht, wird durch die Regie von Franziska Angerer verstärkt. Für beide war es eine Reise ins Unbekannte, beide äußern sich „selber überrascht“. Diese Entdeckerfreude überträgt sich: Man hat nicht das Gefühl, etwas verstehen zu müssen. Der Fokus liegt nicht auf einer Bühne, sondern auf der eigenen Wahrnehmung. Wobei es sich trotzdem lohnt, mit den Künstlern zu sprechen, die zwischen den Besuchern umherschlendern, etwa mit Olivia Rosendorfer, deren Kostüme Kleidungsstile aus fünf Jahrhunderten mit einer „Gender-Fluidität“ verbinden.

Man erfährt auch von der Zusammenarbeit mit dem Kollektiv von jungen Kreativen, das in diesem Waldstück in Nachbarschaft zum Jugendstil mit eigenen künstlerischen Utopien experimentiert. Und dass das Motto „Komm ins Offene“ auch dazu ermutigen will, nicht alles gleich in hermeneutisch beschriftete Schubkästchen zu sortieren: Nur die eigene, lebendige, nach allen Seiten offene Wahrnehmung kann einem sagen, was man mit seinen Mitteln tun kann, um diese Welt lebenswert zu halten. Geistiger Vater dieser „Allaufmerksamkeit“ war John Cage, der in einer historischen Aufnahme dieses Theatererlebnis durchtönt.

DORIS KÖSTERKE
3.6.21

 

Weitere Vorstellungen am 29. Juni, jeweils um 19 und um 20 Uhr. Eingang: Olbrichstr. 19.

 

Bei allzu schlechtem Wetter muss die Vorstellung ausfallen. In Zweifelsfällen kann man am Vorstellungstag ab 17 Uhr unter 06151-2811863 nachfragen.

Magdalena Fuchsberger und das Chthuluzän

DARMSTADT. Herzblut und Spielfreude prägen die Wiederbelebung der barocken Musik von Christoph Graupner in „La costanza vince l’inganno“ (Die Beständigkeit besiegt den Betrug, 1715)in der Inszenierung von Magdalena Fuchsberger am Staatstheater Darmstadt. Die Premiere fand im Rokoko-Ambiente des Heckentheaters im Prinz-Georg-Garten statt. Dank Tonmeister Christoph Kirschfink war die Akustik erstaunlich gut.

Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt hatte in Hamburg eine Oper von Christoph Graupner gehört und den Komponisten 1709 an seinen Hof verpflichtet. Graupner (1683-1760) hätte zwischenzeitlich auch Thomaskantor in Leipzig werden können, blieb jedoch bis zu seinem Tod in Darmstadt und schrieb dort unter vielem anderen seine Pastorale „La costanza vince l’inganno“ (1715). Die Inszenierung von Magdalena Fuchsberger degradiert das barocke Zeittotschlags-Libretto (ein Verwirrspiel darum, wer wen liebt, zu lieben vorgibt oder zu lieben bestreitet) zur Trägerfolie für die Musik und fügt reichlich Gedankenfutter in Form gesprochener Texte ein. Etwa von Donna Haraway, Jacopo Sannazaro, Anne Sexton, Rosa Braidotti, Rosa Luxemburg, Ana Mendieta oder Wytske Versteeg, verbunden mit der expliziten Ermunterung vom Dramaturgen Carsten Jenß, sich schlau zu machen, wenn man nicht weiß, wer das jeweils ist: Die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway etwa plädiert dafür, dass wir selbstkritisch und unermüdlich von den uns umgebenden nichtmenschlichen Wesen lernen sollten, wie wir auf konstruktive Art miteinander umgehen können, um gemeinsam zu überleben. Chthuluzän nennt sie ihr Ideal, das sie Anthropozän und Kapitalozän gegenüberstellt als einen Zeitort fortdauernden verantwortungsvollen Lernens. Dieser Tenor passte hervorragend zum Motto „Komm ins Offene“, mit dem das Staatstheater Darmstadt dazu inspirieren will, Konventionelles zu hinterfragen und gegebenenfalls über Bord zu werfen.

Etwa die Sehnsucht nach dem Himmel auf Erden: Im Sprechtheater-Vorspiel zu Graupners Pastorale lädt Landgraf Ernst Ludwig, alias Meleagro, alias Tirsis (David Pichlmaier) eine handverlesene Schar von Gefolgsleuten in die ländliche Idylle ein, um erkennen zu müssen, dass er mit ihnen auch die verhassten Strukturen in sein Arkadien importiert: seine eigene Selbstverliebtheit, der seine Partnerin Atlanta, alias Cloris (Cathrin Lange) als Dekoration nicht recht genügt, zumal sie weniger in ihn verliebt scheint, als in den materiellen Status, den er ihr verschafft. Die sonderliche Silvia (Jana Baumeister) hängt ihr Herz eher an Kohlmeisen und wird dafür zugleich von der wertkonservativen Aminta (Lena Sutor-Wernich) und dem treuen Alindo (Michael Pegher) geliebt.

Allerhöchstes Lob verdienen Alessandro Quarta und die von ihm geleiteten Musiker des Staatsorchesters. Sie brachten diese Musik zum Atmen, mal in schwelgenden langen Zügen, mal geradezu japsend eine übergeordnete Spannung aufbauend schufen sie ein irdisches Stück Himmel,  zusammen mit den strahlend timbrierten Sopranstimmen von Jana Baumeister und Cathrin Lange. Und von Michael Pegher, der verschmitzt in den Klang der Instrumente lauschte, um seinen Stimmklang darin einzuweben.

DORIS KÖSTERKE
17.6.2021