Benedict Mason: ChaplinOperas (1989)

Wieder-Aufführung durch das Ensemble Modern im Frankfurt LAB

 

Um ein Stück von Benedict Mason angemessen zu würdigen, scheint es, sollte man einiges mitbringen: Etwa mindestens zwei vertrauenswürdige Kollegen, die über ihn, möglichst sogar über dieses Stück promoviert haben. Des Weiteren eine Riege von „Erkennen Sie die Melodie?“-Spezialisten zum Identifizieren von Zitaten, Persiflagen und Verfremdungen. Im Falle von Masons ChaplinOperas, uraufgeführt vom Ensemble Modern zu Charlie Chaplins hundertstem Geburtstag im April 1989 in der Alten Oper, sollte man zu seiner Begleitung zusätzlich noch ein paar (Cockney-) Native Speakers rekrutieren, zwecks zusammenfassender Übersetzung der gesungenen und gesprochenen Texte.

Für derartiges Personal gab es bei der Wiederaufführung durch das von Stipendiaten seiner Akademie (IEMA) verstärkte Ensemble Modern im Frankfurt LAB jedoch nicht genug Plätze. Und was wagt man nicht alles, aus Neugier, wie Mason, unter anderem auch studierter Filmemacher mit professionell fundierter Abneigung gegen Filmmusik im herkömmlichen Sinne, mit den frühen Stummfilmen von Charlie Chaplin, ›Easy Street‹ (1916), ›The Immigrant‹ (1917) oder ›The Adventurer‹ (1917) umgeht?

Im ersten Film, Easy Street, staunte man, wie eng Mason der Vorlage folgt: Die Musik spiegelt die Bewegungen des um Brot und Arbeit verlegenen Helden, der an der Polizeiwache eine Stellenanzeige sieht, unschlüssig vorbeigeht, zurückkommt, vorbeigeht, zurückkommt, vorbeigeht, zurückkommt, sich ein Herz fasst und dabei gegen ein abweisendes Geräusch von tiefen Bläsern prallt. Klanglich gespiegelt werden auch die Menschenmassen, die aus den Häusern schwappen und wieder zurück. Oder die Szenen, in denen ein Kraftprotz seine Artgenossen verprügelt, als leiste er Fabrikarbeit. Den Hagel der Polizeistöcke auf den Kopf des für jegliche Angriffe Unempfindlichen übersetzt die Musik trefflich als Klimpern. Die vom Kraftprotz verbogene Straßenlaterne, die der Held über dem Kopf des Unholds positioniert, um ihn durch das ausströmende Gas unschädlich zu machen, quietscht dabei wie eine Frisierhaube.

In den folgenden beiden Filmen, The Immigrant und The Adventurer, geht die Musik spürbar mehr ihre eigenen Wege, so, als würden auch ihr die ewigen Verfolgungsjagden samt Übereinanderpurzeln von Verfolgenden und Verfolgten allmählich langweilig. Das verschafft ihr die nötige Distanz, um das Geschehen zu kommentieren. Gegen Ende des „Immigrant“ etwa interpretiert die Musik das Kopfschütteln der jungen Frau vor dem Standesamt als unausgesprochene Bitte, sie noch einmal zu nötigen. In „The Adventurer“ lässt Masons Musik den Alkoholpegel der feiernden Gesellschaft empfinden und auch ihr peinliches Schweigen, als Chaplins großformatiger Widerpart Eric Campbell beim rückwärtigen „Ausschlagen“ nicht seinen verhassten Nebenbuhler, sondern die Dame des Hauses tritt.

In dieser von Johannes Kalitzke geleiteten Aufführung wirkte das Ensemble, das neben wildem Instrumentalspiel auch mit vokalen Turba-Einlagen betraut war, samt Eva Resch (Sopran) und Holger Falk (Bariton), durchweg souverän und überzeugend.

Man spürte, dass die Musik ihrem eigenen Zusammenhang folgt, der nur hin und wieder und wie zufällig in einen mehr oder minder flüchtigen Gleichschritt mit dem Film gerät. Nicht von ungefähr befürwortet Mason auch die konzertante Aufführung. Seiner Musik ließe sich dann sicher eher gerecht werden. Wenn vielleicht auch nicht ohne anschließenden Polizeischutz.

DORIS KÖSTERKE

Peter Eötvös, „Der goldene Drache“

Wiederaufnahme im Bockenheimer Depot

Nach weltweiten Erfolgen kehrte Peter Eötvös‘ „Der goldene Drache“ an den Ort seiner Uraufführung zurück. Das musikalische Kondensat von Roland Schimmelpfennigs gleichnamigen Theaterstück („Stück des Jahres“ 2010) begeisterte im Rahmen der heim.spiele des Ensemble Modern mit seiner rhythmischen Kraft, seinen Klangmalereien, der präzisen Inszenierung von Elisabeth Stöppler und den Glanzleistungen seiner Darsteller: Mit nadelfein eingefädelter Höhe bezauberte die amerikanische Sopranistin Karen Vuong in der Rolle des jungen Chinesen, der im „China-Vietnam-Thai-Schnellrestaurant Der Goldene Drache“ mörderische Zahnschmerzen bekommt. Keine Papiere – kein Zahnarzt, sondern ein Leiden, das auch den Kollegen auf die Nerven geht. Schließlich muss es schnell gehen in der viel zu kleinen Küche, in der der jammernde Kollege nicht nur im Weg steht, liegt, sitzt, sondern auch noch Körperkontakt haben will.

Der literarischen Vorlage gemäß spielen fast alle Darsteller mehrere Rollen: Hedwig Fassbender mit umgehängtem Dickbauch (Kostüme: Nicola Pleumer!) mal die schwangere Geliebte des Mannes, der das Kind nicht will; dann, mit darüber spannendem karierten Hemd, den Gemüsehändler Hans, bei dem dieser Mann sich besäuft; im engen schwarzem Shirt die Ameise nach Aesops Fabel: Eigentlich will sie die Grille verhungern lassen. Stattdessen nutzt sie sie aus und vermietet sie. Auch an den Vater-wider-Willen, der sie, in Wut über sein Los und vom Alkohol enthemmt übel zurichtet. Ansonsten spielt Fassbender die alte Köchin, die im stressigen Restaurantbetrieb auch noch menschliche Seiten für den leidenden kleinen Chinesen bereithält.

Hans-Jürgen Lazar spielt gekonnt ein altes Ekel, das den faulen Zahn schließlich mit einer Rohrzange ausbricht. In der Enge der Küche landet der Zahn in der Thai-Suppe für eine übermüdete Stewardess.

Unter denen, die bei der Uraufführung noch nicht dabei waren, begeisterte der koreanische Tenor Ingyu Hwang, indem er nicht nur jede seiner Rollen mit Leben füllte, sondern ihnen darüber hinaus ein eigenes, restlos überzeugendes Profil gab. Etwa dem gebrechlichen Alten, der beim Anblick seiner schwangeren Enkelin männliche Gelüste bekommt. Und schließlich der Grille ein Bein ausreißt aus Verbitterung, weil auch sie ihm keine Erfüllung zaubern kann.

Holger Falk mutiert vom brillant gespielten Zyniker zur blonden Stewardess Inga, die den in der Suppe gefundenen Zahn als Teil eines Menschen erkennt und nicht einfach wegschmeißen will. Ihren Ekel überwindend nimmt sie ihn in den Mund und spuckt ihn an der gleichen Stelle von der Brücke in den Fluss, an der das Küchenpersonal zuvor (wenn auch über einem mächtigen, im Orchester pochenden schlechten Gewissen) die Leiche des an der unsachgemäßen Operation verbluteten Kollegen entsorgt haben.

Die Musik, vom Ensemble Modern unter Hartmut Keil voller Lust an klanglichen Experimenten zelebriert, bestimmt wie eine Geheimpolizei den Duktus der Aktionen auf der Bühne, lässt den Fluss der Handlung gefrieren oder mitreißen und sorgt dafür, dass die SozialTragiKomödie nie sentimental, pathetisch oder rechthaberisch-monumental wird: leichtfüßig irisierend zwischen Slapstick, Jazz-, Rapp- und Fernost-Persiflage oder unter die Haut zielender Schlichtheit lässt sie den Zuschauer Position beziehen, ohne dass die Musik ihn emotional in eine vorbestimmte Ecke schwemmt.

Die Oper bricht nur zweimal lyrisch durch: als die blonde Inga im personifizierten Zahn den Menschen erkennt und im Schluss-Monolog des „nach Hause“ reisenden Chinesen.

 

DORIS KÖSTERKE