Heiner Goebbels‘ Eislermaterial

„Was soll ich nur machen, daß du nicht ihren dreckigen Lügen traust.“ Wie alle Strophen der „Vier Wiegenlieder für Arbeitermütter“, einem Gemeinschaftswerk von Bert Brecht, Hanns Eisler und Helene Weigel, schließt auch diese mit einem unsentimentalen Punkt. In ›Eislermaterial‹ von Heiner Goebbels, einer Gratwanderung zwischen Hommage und Parodie, sind diese und andere Lieder des 1898 geborenen Komponisten mit der androgynen Gesangsstimme von Josef Bierbichler verbunden. Als das ›Eislermaterial‹ nach zwanzig Jahren Weltreise im Bockenheimer Depot seine Heimkehr nach Frankfurt feierte, kauerte der mittlerweile siebzigjährige Schauspieler zwischen den Musikern, in einer Haltung, die jeder Laie als sangesfeindlich definieren würde, den Notentext fixierend, als läse er ihn zum ersten Mal. Ob Absicht oder nicht: es passte. Denn Goebbels spielt hier mit der Poesie des Abstands.

Die Musiker saßen in Hufeisenform um die menschenleere Bühne, als ließen sie vor geduldetem Publikum das einst gemeinsam mit Heiner Goebbels Entwickelte Revue passieren, überwiegend skeptisch distanziert. Doch im vierten der oben erwähnten Wiegenlieder mit seinem weitgehend auf die Gegenwart übertragbaren Text, spielten sie sich in echte Rage.

Vieles wirkte so frisch, als wäre es improvisiert. Dabei wurde es mittlerweile ausnotiert, weil viele der damals beteiligten Ensemblemitglieder nicht mehr dabei sind. Tatsächlich improvisiert waren jedoch die mitunter an wütendes Schimpfen erinnernden Bassklarinetten-Furiosi von Matthias Stich.

Goebbels‘ Affinität zu Eisler kam aus dem Satz: „Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts!“. In Collagen aus Tondokumenten ließ er die Stimme des Vaters der Arbeiterchöre tönen: „die Leute müssen sich ändern, vielleicht auch durch die Musik“ und ließ dessen „alten Kämpfe“ aufleben, „vor allem gegen Dirigenten“.

Das Fehlen eines Dirigenten machte die Musiker zu den eigentlichen Darstellern in diesem so genannten „szenischen Konzert“. Wie in Thoreaus Utopie von einer konstruktiven Anarchie trug jeder von ihnen an der Verantwortung für das Ganze. In direkter Verständigung koordinierten sie sich in diffizilen Kammermusik-Adaptionen, in mehrlagigen musikalischen Botschaften, in Zweifel schürenden Variationen über Eislers Solidaritätslied, oder im scharfen Holzbein-Rhythmus der „Mutter Beimlein“.

Zwischen musikantischem Plätschern, dramaturgischen Knalleffekten und verhaltenem musikalischem Groove entstand eine dichte Atmosphäre fern jeder Agitationspropaganda, ein Schillern und Schweben, in dem jeder frei war, seinen eigenen, von der poetischen Fülle angestoßenen Gedanken zu folgen. Bis zum überraschenden, innerlich lange nachhallenden Schluss, (mit dem Lied „Und endlich stirbt die Sehnsucht doch“ auf einen Text von Peter Altenberg) „… daß man doch nicht froh ist“.

DORIS KÖSTERKE

Gebote der Anarchie

Dies ist ein Text über konstruktive Anarchie. Nicht nur in der frei improvisierten Musik.
In der sich jeder für das Ganze verantwortlich fühlt und nach eigenem Ermessen sinnvoll dafür einsetzt.
Und in der niemand einem anderen Vorschriften macht, was er zu tun und zu lassen habe.
Er fußt auf Gesprächen mit dem Wiesbadener Improvisations-Ensemble „WIE?!“ (Dirk Marwedel, Ulrich Philipp, und Wolfgang Schliemann), sowie auf Gedanken von John Cage.

 


 

 

„ … when men are prepared for it, that will be the kind of government which they will have.“
Henry David Thoreau, On the Duty of Civil Disobedience

GEBOTE DER ANARCHIE

In der frei improvisierten Musik ist das Verhältnis der Musizierenden zueinander „anarchisch“ im ursprünglichen Sinne des Wortes von „ohne Herrschaft, ohne Führer sein“: Jeder Ausführende ist zugleich „Komponist“ und „Interpret“ – und mit diesen Funktionen tragen die improvisierenden Musiker auch deren Verantwortung.
Erstes Gebot der Anarchie:
Du sollst Dich für das Ganze mitverantwortlich fühlen.
Ganz bewusst ist hier nicht von „Freiheit“ die Rede, sondern von „Verantwortung“. Eine so verstandene musikalische Anarchie ist ein Spiegel für eine (utopische) gesellschaftliche Grundhaltung, in der jeder selbst beurteilt, in welcher Weise er seine persönlichen Fähigkeiten für ein allgemeines Gelingen einsetzen kann. Voraussetzung ist, dass man neben seinen eigenen auch die Möglichkeiten seiner Mitspieler im Blick hält.
Zweites Gebot der Anarchie:
Du sollst Deine Mitspieler achten, wie Dich selbst.
Bescheiden veranlagten Mitspielern muss man das anders herum sagen: Du sollst Dich genau so hoch achten, wie Deine Mitspieler. Eigenständigkeit gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen der Gruppenimprovisation.
Doch, wie im Rest des Lebens, sollte man bisweilen auch die Impulse anderer mittragen.
Drittes Gebot der Anarchie:
Du sollst einen Mittelweg suchen zwischen Individualismus und Opportunismus.
Um sich selbst ein Profil zu geben, halten sich manche Improvisatoren an einem Personalstil fest.
Doch dieser birgt die gleiche Gefahr, wie das Befolgen melodischer oder rhythmischer Muster in der so genannten idiomatischen Improvisation, nämlich, dass man sich mehr auf die Pflege des Idioms (und letztlich der Selbstdarstellung) konzentriert, als auf die „Tiefe des Augenblicks“.

Die Improvisation lebt jedoch davon, dass sich ihre Richtung in jedem Augenblick neu bestimmen lässt.

Das vierte Gebot der Anarchie:
Du sollst Dich nicht darauf verlassen, dass Menschen und Dinge so bleiben, wie sie sind.
Wenn eine feste Gruppierung von Musikern lange genug zusammen gespielt hat, liegt es nahe, dass sich unter ihnen bestimmte musikalische Verhaltensmuster einspielen, vergleichbar mit dem ritualisierten Miteinander alter Ehepaare. Doch ebenso sollte man das Unerwartete um des Unerwarteten Willen, Veränderungen um der Veränderungen Willen begrüßen.
Dies widerspricht im Kern einer Verschulung der Improvisation. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, zu reflektieren, was stattfindet und aus welchen Gründen etwas als gut oder weniger gelungen empfunden wurde.
Dennoch sollte man offen sein und offen bleiben, wenn gute Musik allen Lehrmeinungen widerspricht.
Das fünfte und letzte Gebot der Anarchie:
Du sollst dich nicht hinter Wertmaßstäben verschanzen.

 

 


Der Text war die Quintessenz einer gleichnamigen Radiosendung von mir aus dem letzten Jahrtausend. …weiterlesen

Kultur – wozu? – Aus: 100 Minuten für John Cage

Kultur – wozu?[1]

Diese Frage hat John Cage sich vorbehaltlos gestellt. Die Antworten, die er darauf fand, schweben keinesfalls abstrakt über seinem Schaffen. Es ist gerade das Besondere an Cage, dass er sie zur Grundlage seiner Kunst gemacht hat[2]:

Seit etwa Ende der 1940er Jahre begriff er sein künstlerisches Schaffen als „eine Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert“[3]. Klänge sollten nichts als freie Klänge und, Menschen nichts als freie Menschen sein.
Cage fand diese „freien“ Klänge viel frischer und interessanter als „gewollte“, und beobachtete, dass auch die Menschen, die mit ihnen umgingen, viel fröhlicher davon wurden. …weiterlesen