Wiese, Schätze, Datenklau – Land (Stadt Fluss)

Es riecht nach frisch geschnittenem Gras und Gemüse. Der Saal im Mousonturm ist mit Rasen ausgelegt. Auf der bühnenfüllenden Leinwand setzt sich der Rasen fort: grüne Hügel, Höfe, abgezirkelte Wälder zwischen ebenso gepflügten Feldern. Idylle? Seidls Musik meint: Jein.

„Land (Stadt Fluss)“ heißt das neue, jüngst uraufgeführte Gemeinschaftswerk von Hannes Seidl und Daniel Kötter. …weiterlesen

Ensemble Mosaik in Darmstadt

Ein Film, mutmaßlich gedreht in einer chinesischen Provinz, zeigt Erwachsene beim Arbeiten in einer von Bergen umkränzten Kulturlandschaft, Kinder beim Spielen in einer einförmigen Siedlung mit überdimensioniert scheinendem öffentlichen Platz und nach Anbruch der Dunkelheit alle zusammen in ihrem Verhalten bei einem unter freiem Himmel öffentlich gezeigten Film: Manche haben sich als Familie samt Hund mit Blick zur Leinwand zusammengekuschelt, andere gehen unschlüssig auf und ab. Später finden sich einige zu einem gemeinsamen Tanz zusammen, als hielten sie die Passivität des Zuschauens nicht mehr aus. Vor der Leinwand im Großen Saal der Darmstädter Akademie für Tonkunst saßen Musiker mit dem Rücken zum Publikum, den Film überwiegend distanziert mit flächigen Klängen kommentierend: Die Uraufführung des neuen Gemeinschaftswerkes „The audience“ von Hannes Seidl (Komponist) und Daniel Kötter (Filmemacher) wurde bei der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) freundlich aufgenommen.
Sein beigefügter chinesischer Titel

lässt nur auf den ersten Blick auf eine gleichförmige Masse von Beschallten schließen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, was Kötter und Seidl mutmaßlich mit ihrem Werk zum Ausdruck bringen wollten.

Während es in der Kombination von Musik und Film schwer gefallen war, der Dominanz der bewegten Bilder zu widerstehen, wurde im restlichen Konzert des Ensembles Mosaik im Rahmen der Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung gesteigert bewusst, in wie hohem Maße komponierte Musik von ihren Vermittlern, den Interpreten, abhängig ist: In „Trauben“ von Enno Poppe luden sie die Variationen über getupfte Klavierakkorde und Streicher-Glissandi mit dem Humor des Komponisten auf.

Rundum beeindruckend schuf Angela Postweiler in „Adiantum Capillus-Veneris“ von Chaya Czernowin eine Landschaft aus Atem- und Stimmgeräuschen.

„Ore“ – Erz hieß die Komposition für Klarinette und Streichtrio der irischen Komponistin Ann Cleare und tatsächlich meinte man beim hörenden Eindringen in das sotto voce, den brüchigen Bereich der in extrem zurückgenommener Lautstärke nicht voll ansprechenden Instrumente, wertvolle (nichtstoffliche) Mineralien und Metalle zu finden. Besonders eindrucksvoll gelang das extrem lang angehaltene „Auszittern“ des Stückes im pianissimo.

Gipfelpunkt des Abends war die Ensemble-Komposition „Ayre: Towed through plumes, thicket, asphalt, sawdust and hazardous air I shall not forget the sound of” von Chaya Czernowin. Die Geburt des komplexen Stückes lag in dunklen Klängen der großen Trommel. Den impulsiveren zweiten Teil hatte die Komponistin als einen „negativen Raum“ beschrieben. Nichtsdestotrotz schien sich in ihm ein aus Klängen gebildetes, dickes träges Tier zwischen Gitterstäben aus Klavierklängen zu erheben.

Die Minen der Musiker verrieten, mit welcher Sorgfalt sie den Notentext ausgelotet hatten, wie genau sie die Mittel erarbeitet hatten, mit denen sie dem Stück einen flüchtigen akustischen Körper verliehen. Voller Vertrauen folgte man ihnen zu einem „Verstehen“ jenseits des Benennbaren.

DORIS KÖSTERKE

Raus bist du, wenn du dir die Preise nicht leisten kannst

 

(Stadt) Land Fluss von Daniel Kötter und Hannes Seidl

Musiktheater-Premiere beim Festival „Displacements. Andere Erzählungen von Flucht, Migration und Stadt“

 

Was ist eine Mauer gegen die Möglichkeiten von Internet und Hacking? Die eigentlichen Grenzen, betont der an der Denver University lehrende Philosoph Thomas Nail, sind sozialer Natur: Ohne Papiere keine Wohnung, keine Arbeit. Ohne Smartphone kein Anschluss an die Welt. Ohne Segelyacht – und so weiter. In jedem Bereich der Gesellschaft gibt es Vertriebene und Migranten. Seine Rede, „The Figure of the Migrant“, eröffnete das Festival „Displacements. Andere Erzählungen von Flucht, Migration und Stadt“: Im Mousonturm und rund um ihn herum wird bis zum vierten Februar 2018 mit vielfältigen Mitteln der Kunst operiert.

Den Anfang machte „(Stadt) Land Fluss“, die jüngste Musiktheaterproduktion von Daniel Kötter und Hannes Seidl. Sie macht jeden Besucher zum medial gesteuerten Migranten: mit einem Kopfhörer ausgestattet, aber ohne Sitzplatz und ohne Sicherheit vermittelndes Gepäck („Taschen bitte an der Garderobe abgeben!“) läuft man beim Betreten des Saales zunächst gegen Wände. Doch wie im Rest der medial vermittelten Welt erscheint das mit eigenen Sinnen direkt erfahrbare Labyrinth aus auf Metallrahmen verschraubten Gipsplatten als längst nicht so wichtig, wie die in unregelmäßigen Abständen darauf montierten Smartphones und die Videofilme, die darauf laufen.

Sie zeigen aus vielen verschiedenen Perspektiven eine umzäunte Containerstadt. Den im Hintergrund erkennbaren Elbbrücken nach zu urteilen liegt sie im flussaufwärts erweiterten Hamburger Hafengebiet. Ein unwirtlicher Ort: Das regionaltypische Schmuddelwetter hat den Boden aufgeweicht. Von See her weht eine dermaßen steife Brise, dass mehrere vereinte Manneskräfte es kaum schaffen, eine Plane als Unterstand neben einer hell erleuchteten Bude zu befestigen.

Christina Kubisch hat die Geräusche dieser Containerstadt eingefangen, vor allem die fröhlichen der vielen Kinder. Neben diesen eingespielten Geräuschen hört man mit den elektromagnetischen Kopfhörern auch fließenden Strom, die Lebensader des Digitalen. Und an einigen Stellen auch Reden: Mutmaßlich ein Stadtentwickler träumt von einer Stadt, die an dieser Stelle wachsen soll, rundum lebenswert, multikulturell, lebendig, tolerant. Unausgesprochen bleibt: Raus bist du, wenn du dir ihre Preise nicht leisten kannst. Und die müssen so hoch sein, um den Aufbau eines neuen Containerhafens zu finanzieren.

Die Musik (wir nennen sie so, weil sie in geplanter Weise mit geplanter Wirkung vielgestaltige Klänge in vielgestaltigen Rhythmen bewegt) von Niklas Seidl lässt dabei nur selten an Spannungen denken. Das Hantieren der Musiker Sebastian Berweck, Martin Lorenz, und Andrea Neumann an Plattenspielern, Lautstärkereglern und auf präparierten Klaviersaiten bildet spürbare sinnliche Anziehungspunkte. Auch ihre Aktionen sind elektronisch verstärkt, geformt und vermittelt.

So wandelt man von einer Station zur anderen, von einem akustischen Feld und von einem Video zum nächsten. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, die einem mit auf den Weg gegeben wurde: Wem gehört diese Stadt? Im Bewusstsein, dass man das Ganze, sollte es überhaupt als fassliches Ganzes beabsichtigt sein, allenfalls bruchstückhaft erfassen kann. Doch eine Frage trägt man aus dem Kunstwerk in den Abend und den Rest der Welt: Was ist bei Stromausfall?

DORIS KÖSTERKE