Rinaldo Alessandrini und Giuliano Carmignola

Im jüngsten „Barock +“-Konzert im hr-Sendesaal begegnete man zwei Pionieren der historischen Aufführungspraxis in Italien, dem Dirigenten Rinaldo Alessandrini und dem Geiger Giuliano Carmignola.

Die Besetzung mit mehr als zwanzig Streichern des hr-Sinfonieorchesters, nebst klanglichen Schaumperlen von Cembalo und zwei Theorben war vergleichsweise groß. Das Programm huldigte mit drei weniger bekannten Concerti des Sekundfall-Sequenz-Spezialisten Vivaldi dessen Heimat Italien als Wiege der Barockmusik – mitreißend, virtuos und experimentell. Für Letzteres stand zum Beispiel die schroff herausgestellte Synkope im Themenkopf des ersten Satzes im Concerto per archi g-Moll RV 156. Oder die an den Herbststurm der „Vier Jahreszeiten“ erinnernde Klangmalerei im dritten Satz. Oder die gewagte Harmonik im zweiten Satz des Concerto grosso e-Moll op. 3 Nr. 3 von Francesco Geminiani. Letzteres Werk des in London berühmt gewordenen und in Dublin gestorbenen Komponisten verkörperte in diesem Programm, zusammen mit dem Concerto grosso D-Dur op. 1 Nr. 5 von Pietro Locatelli, der in Deutschland und den Niederlanden gewirkt hat, die kulturelle Ausstrahlung Italiens in den Norden Europas.

Alle drei Komponisten waren zugleich Geigenvirtuosen. Ihnen nacheifernd schienen Giuliano Carmignola und die hohen Streicher des Orchesters keine Tonleiterläufe zu spielen, sondern Treppengeländer (wie auch immer) hoch- und wieder herunter zu rutschen, während die tiefen Streicher rüstig den Tonraum durchwandernden Bässen für Binnenspannung sorgten.

Markante Phrasierungen, durch Laut-Leise-Effekte ausgeprägte Plastik, eine mitunter maschinenhafte Motorik, deren melodischer Fluss in den Kadenzen regelrecht „gefällt“ wurde, sowie klar herausgearbeitete dramaturgische Zielpunkte gehörten zu den Verdiensten dieser Interpretation. Ebenso ihre mühelose Leichtigkeit und auch ihr immer wieder angestrebter Schönklang ohne jedes Vibrato. Mancher mochte ihn uneingeschränkt genießen. Doch wer selbst auf „sprechend“ durchartikulierte Perlenketten getrimmt ist, empfand diese glatten Klangbänder als unverbindlich.

In den beiden Violinkonzerten von Vivaldi (e-Moll RV 281 und D-Dur RV 232) fragte man sich, ob das Gesamtergebnis nicht lebendiger gewesen wäre, wenn der Energiefluss zwischen Solist und Orchester nicht auf dem Umweg über den Dirigenten versiegt wäre. Aufrichtigen Beifall gab es für die Streicher des hr-Sinfonieorchesters, die wesentlich sauberer intonierten als der Solist.

Wer in der Pause nicht gegangen war wurde überrascht von dem Werk eines 15-jährigen Italien-Liebhabers, der Ersten Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy, in deren durchsichtiger Faktur, farbigen Instrumentierungen, geradezu anschaulicher Gestik, inneren Dialogen und lebhaften Schlagabtäusche über mediterraner Wusel-Atmo sich bereits die Qualitäten seines „Sommernachtstraums“ ankündigen.

DORIS KÖSTERKE

Oboist Albrecht Mayer und I Musici di Roma

Pfirkularatmung mit Pfnupfen

 

 

Toll war allein schon das Erlebnis musikalischer Ehrlichkeit: I Musici di Roma und Oboist Albrecht Mayer kamen in ihrem Konzert im Wiesbadener Friedrich-von-Thiersch-Saal ohne Theatralik und ohne auf Publikumsreaktion hin angelegte dynamische Steigerungen aus: Dieses „Tesori d’Italia“ überschriebene Adventskonzert des Rheingau Musik Festivals mit barocken Meisterwerken war eins der erfüllten Gesten. Die zwölf Musiker (darunter eine Frau) des Ensembles I Musici di Roma wirkten unter der Leitung ihres mit Ganzkörpereinsatz agierenden Primarius Antonio Anselmi so präzise zusammen wie ein einziges, hellwaches Wesen. Die Bassgruppe strukturierte mit militärischer Klarheit die rasende Virtuosität in Concerti und Concerti Grossi von Vivaldi, Pietro Castrucci und Guiseppe Sammartini. In langsamen Sätzen konnte der Generalbass jedoch auch für sauber kalkulierte Unschärfe sorgen, so dass das klangliche Fundament sich wellte und das musikalische Gefüge zu wogen begann wie ein Meer von Tränen.

Albrecht Mayer mag tatsächlich zu den größten Oboisten aller Zeiten gehören: er wirkt, als ob er in Tönen spricht, ohne Pathos, von Mensch zu Mensch. Ein jahreszeitbedingter Infekt, der ihn zu wiederholten Taschentuchpausen nötigte und fast bewogen hatte, das Konzert abzusagen, konnte weder sein Charisma, noch sein Können erschüttern: Zirkularatmung schien bei ihm auch bei Schnupfen zu funktionieren. Seine Virtuosität sprudelte wie eine zur zweiten Natur eingeschliffene sprachliche Äußerung. Der Beeinträchtigung ungeachtet spielte er alle vorgesehenen drei originalen Oboenkonzerte: Alessandro Marcello Konzert für Oboe, Streicher und Basso continuo d-Moll, von Giuseppe Sammartini das op. 8 Nr. 5, von Vivaldi das RV 450 und dazu das selten gespielte Doppelkonzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo B-Dur RV 548, zusammen mit Antonio Anselmi. Die beiden Künstler schienen grundverschieden, doch ihre virtuosen Parts zwitscherten umeinander wie vergnügte Vögel. In seinen launigen Moderationen erzählte Mayer unter anderem, wie Johann Sebastian Bach Marcellos Oboenkonzert ohne urheberrechtliche Skrupel zum Cembalokonzert umfunktioniert hatte. Mit sehr dezent gewählten Worten zeichnete er auch ein Bild von Vivaldis Wirkungsstätte, dem Ospedale della Pietà in Venedig, einem Heim für verwaiste oder „gefallene“ Mädchen, in denen hoch anpassungsfähige und leistungsfähige Wesen um die Gunst ihres Lehrers buhlten und über die Anstrengung, Verlust oder „Schande“ mit Ehrgeiz zu kompensieren, zu enormen Leistungen fähig wurden und „diese unglaublich virtuosen Stücke spielen“ konnten.

Nach dem Schlusston der Zugabe, der Sinfonia aus Johann Sebastian Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ BWV 21, hielt Mayer noch lange die Spannung, bevor er seinen Zuhörern den Applaus gestattete und sie besinnlich eingefärbt in die Adventszeit entließ.

DORIS KÖSTERKE